Der deutsche Titel nimmt Bezug auf eine unausgesprochene Reaktion des alten dementen Attilio Profeti, dem seine Frau sagt, es müssten ja alle sterben. «Alle, ausser mir,» denkt er. Die Episode spielt darauf an, dass diese Hauptfigur des Romans ein notorischer Glückspilz ist. Mit Schwein und Chuzpe kommt er aus jeder noch so ausweglosen Lage nicht nur ungeschoren davon, sondern er zieht jeweils aus den Verwicklungen erst noch unerwartete Vorteile.
Die Geschichte dieses Attilio Profeti könnte ein böser Schelmenroman sein. Doch so harmlos ist sie nicht. Der italienische Titel «Sangue giusto» spielt auf eine Erinnerung von Profetis Tochter Ilaria an. Als sie sechs war, erzählte ihr der Vater das Märchen von einer Prinzessin, die schön war, weil von edlem Geblüt. Auf die Frage der Kleinen, was denn sie für Blut habe, entgegnete er, in ihr fliesse «das rechte Blut». Die erwachsene Ilaria erinnert sich an die Begebenheit, als sie in der Nationalbibliothek einen Aufsatz ihres Vaters mit schockierend rassistischem Inhalt entdeckt, der das «rechte Blut» zum alleinigen Kriterium der Gewährung von Recht und Respekt macht.
Ewiger Profiteur
Die Geschichte des Attilio Profeti, oft Attila genannt, ist die eines Opportunisten, der den Faschismus bedenkenlos für seinen Aufstieg nutzt. Seine grössten Chancen sieht er in den italienischen Kolonien, wo er ungehemmt als Herrenmensch leben kann. In dieser Rolle schreckt er vor nichts zurück. Melandris Schilderung der kolonialistischen Realität geht unter die Haut und an die Grenzen des Erträglichen. Das Unheimlichste dabei ist, dass der Protagonist, der aller Widerwärtigkeiten und Scheusslichkeiten fähig ist, stets der sonnige Typ bleibt, den alle mögen und dem insbesondere die Frauen, aber nicht nur sie, nicht widerstehen können.
Nach dem Ende des Krieges macht Attilio Profeti Karriere in der Bau- und Immobilienbranche, die im zerstörten Italien ganze Stadtteile hochzieht. Er macht sich unentbehrlich, da er alle Kniffe und schmutzigen Tricks beherrscht. Als effizienter und unauffälliger Troubleshooter hält er die Geschäfte der grossen mit der Politik verbandelten Gangster am Laufen, wird dafür gut belohnt und bekommt reichlich Gelegenheit, sein Einkommen mit etwas Korruption aufzubessern. Doch zu den grossen Fischen gehört er nicht, was ihn diese auch jederzeit spüren lassen.
Attilios dritte Familie
Die aufrechte Ilaria, die als Lehrerin den inneren Verheerungen der italienischen Gesellschaft ihren tapferen und aussichtslosen Widerstand entgegensetzt, findet einen Verbündeten in ihrem Halbbruder, der ebenfalls Attilio heisst. Er ist Biologe und verdient seinen Lebensunterhalt, indem er reiche Leute auf einer Yacht zum Delfingucken schippert und weiblichen Gästen bei Bedarf auch in der Kajüte zur Verfügung steht. Eines Tages wartet vor Ilarias Wohnung ein dunkelhäutiger äthiopischer Flüchtling, der sich als Enkel Attilio Profetis ausgibt. Auf seinem Ausweis steht der Name Shimeta Ietmgeta Attilaprofeti. Der Ankömmling spricht ein perfektes, wenn auch altmodisches Italienisch.
Schon einmal war Ilarias Familienwelt schlagartig umgekrempelt worden. Als sie sechzehn war, wurde sie vom Vater mit der Tatsache konfrontiert, dass er in Rom eine Zweitfamilie hatte – und sie plötzlich neben zwei Brüdern auch einen Halbbruder. Die vom Vater ingeniös gehandhabte Verschleierung fiel just in dem Moment, da Italien das Recht auf Scheidung einführte. Jetzt mit Mitte Vierzig drängt sich Ilaria die Einsicht auf, dass es im Leben des Vaters noch eine dritte Familie gab.
Aufklärung verleugneter Realitäten
Ilarias Nachforschungen und die mit Rückblenden zu verschiedenen Perioden und Schauplätzen operierende Erzählung fügen nach und nach die Puzzleteile des Lebens dieses alten Attilio Profeti zusammen. Doch die Geschichte ist mehr als ein Lebensbild, nämlich auch eine gegen hartnäckige Widerstände sich vorkämpfende Aufklärung des allgemeinen Vertuschens und Verleugnens italienischer Realitäten. Der Roman ringt um die Identität eines Landes, das seine faschistische und kolonialistische Geschichte verdrängt, das sich immer als Opfer darstellt und das die herrschende Amoral, deren Tentakel selbst eine Ilaria zu fassen kriegen, lethargisch hinnimmt.
Francesca Melandris kraftvolles Werk fasst die italienische Krankheit in eine packende Erzählung.
Francesca Melandri: Alle, ausser mir. Roman, Wagenbach 2018, 604 S., deutsch von Esther Hansen