Claude Lanzmann, Autor des Epoche machenden, neunstündigen Filmwerks «Shoah», Schriftsteller, Herausgeber der Zeitschrift «Les Temps Modernes», einst Weggefährte von Sartre und Beauvoir, hat seine Memoiren geschrieben. Ab 17.09.2010 sind sie im deutschsprachigen Buchhandel erhältlich, unter dem Titel: «Der patagonische Hase». Hans Woller hat den streitbaren Intellektuellen in seiner Pariser Wohnung besucht.
Er ist, wie man ihn sich vorgestellt hat: kompakt, verschlossen, bärbeissig, mit seinen 84 immer noch ein gedrungener Kasten. Im tadellos blauen Anzug sitzt er am gläsernen, hoffnungslos überladenen Schreibtisch, den Rücken der weiten Fensterfront in der Neubauwohnung zugewandt.
Die liegt keine 150 Meter von dem Penthouse entfernt, das er einst 7 Jahre lang mit Simone de Beauvoir geteilt hat. «Ich habe als einziger Mann mit ihr in einer eheähnlichen Beziehung wirklich zusammengelebt», wird er später im Interview sagen. In der Bibliothek kaum ein Buch, das nicht von Erinnerungsphotos verdeckt wäre, auf dem Sofa ein Riesenplakat, druckfrisch auseinandergefaltet: Werbung für die Gesamtausgabe seiner Filme auf DVD in Deutschland. «Das ist wichtig. Die machen gute Arbeit.» Der Tonfall ist so, als habe man Gegenteiliges behauptet. Dabei hatte man gar nichts gesagt.
Der Zeuge des Jahrhunderts wirkt unwillig, scheint skeptisch. «Die Kamera ist zu hoch, ich mag es nicht, wenn ich aus dieser Perspektive gefilmt werde.» Man stellt die Kamera tiefer. Er würde gerne auch noch die Einstellung sehen. Natürlich, kein Problem. Bitte. Lanzmann wechselt kurz mit dem Kameramann den Platz, drückt ein Auge auf den Sucher: «Sitzen Sie nicht so in Hab- Acht- Stellung», raunzt er zum Kameramann und geht wieder an seinen Platz. Ob das so in Ordnung sei, fragt man betont höflich. «Keine Ahnung». Das kann heiter werden.
Von Sartre gegründete Zeitschrift
Dass Lanzmanns Memoiren existieren, verdankt man letztlich einer Frau. Seine Assistentin bei der Zeitschrift «Les Temps Modernes» – drei Mal betont er während des Interviews, dass er seit 25 Jahren der Direktor dieser von Sartre gegründeten Zeitschrift ist – sie hatte sich bereit erklärt, am Computer zu schreiben, während Lanzmann diktierte, über die Schulter schaute, korrigierte, redigierte. Er habe eine Seite geschrieben und dann ein Jahr nichts mehr, habe zu viel zu tun gehabt, die Zeitschrift eben und das Leben. «Leben ist Arbeit», lässt er fallen.
Seine Memoiren sind nicht chronologisch, sondern assoziativ geschrieben, erzählen von einem zerrütten Elternhaus, von seinen ersten sexuellen Wallungen und Erfahrungen, in einem Tonfall, als wäre das gestern gewesen. 17½ war Lanzmann, am Gymnasium im zentralfranzösischen Clermont Ferrand, als er von kommunistischen Widerstandskämpfern kontaktiert wurde.
Weder Marx noch Engels gelesen
«Ich habe Ja gesagt. Aber nicht aus ideologischen Gründen. Ich hatte weder Marx noch Lenin gelesen. Es hätte auch eine andere Gruppe sein können, die gegen die Nazis kämpfte, wobei man in meiner Familie immer eher links war. Ich habe rund 400 junge Leute gefunden, wir waren ein harter Kern von 40. Das Hauptproblem waren die Waffen, denn die Kommunisten bekamen nichts von De Gaulle aus der Luft.»
Er spricht extrem langsam und durchdringend, die Simme tief, brummend, hart.
«Für einen Juden, war das die beste Art zu überleben, anstatt sich deportieren zu lassen und in den Gaskammern der Vernichtungslager zu enden.»
Trotz allem was er im besetzten Frankreich erlebt hatte, ging der junge Philosophiestudent Lanzmann in der unmittelbaren Nachkriegszeit, 1947, nach Deutschland. Michel Tournier, der Autor des «Erlkönigs», war schon in Tübingen und überredete ihn nachzukommen. Lanzmann schrieb dort seine Magisterarbeit über Leibniz zu Ende, wohnte in der Hegelstrasse, nahm Reitstunden bei einem ehemaligen Wehrmachtsangehörigen. Warum Deutschland?
Beim Dalai Lama und in der DDR
«Ich wollte die Deutschen in zivil sehen und friedlich. Vor allem das Jahr danach war für mich sehr wichtig, ja grundlegend, als Lektor an der Freien Universität Berlin. Die Studentinnen hatten das normale Alter, die männlichen Studenten waren alle älter als ich, viele kamen aus der Kriegsgefangenschaft.»
Nach seiner Rückkehr aus Berlin begann Lanzmann als Journalist zu arbeiten, für France Soir, Elle, L’Express oder Le Monde, reiste als Reporter um die Welt, war in Nordkorea und irgendwann beim Dalai Lama, Anfang der 50er auch in der DDR.
Das Ergebniss: eine vierteilige Reportage in Le Monde unter dem Titel: «Deutschland hinter dem eisernen Vorhang». Irgendwann war Jean Paul Sartre auf den jungen Mann aufmerksam geworden und rief an, der Anfang einer Jahrzehnte langen, tiefgehenden Beziehung. Ob er ein Zögling Sartres sei, ob Sartre für ihn so etwas wie ein Übervater gewesen sei?
«Er war in erster Linie ein Freund, den ich über alles bewunderte. Sartre war die grösste Denkmaschine, der ich je begegnet bin. Ein Mensch von extremer Grosszügigkeit. Nicht nur, dass er allen Geld gegeben hat und fast in Armut gestorben ist, sondern er war auch grosszügig, was seine Ideen und Gedanken anging, in seiner Gegenwart fühlte man sich selbst sofort intelligenter. Er war ein grosser Philosoph und ein grosser Mann, der Repräsentant einer anderen Legitimität Frankreichs. Es gab De Gaulle und es gab Sartre.»
Warum Israel
Die faszinierendste Passage in Lanzmanns Memoiren ist das Kapitel über sein Kennenlernen Israels und als man während des Interviews zu diesem Thema kommt, auch der einzige Moment, in dem man den Einruck hat, man spricht offen miteinander.
Lanzmann war 27 als er 1952 für eine Le-Monde-Reportage ins Land reiste, war ohne religiöse Erziehung und ohne jede jüdische Tradition aufgewachsen, sprach weder hebräisch, noch Jiddisch, hatte nie eine Synagoge von innen gesehen und war vor allem ganz und gar von Sartres «Überlegungen zur Judenfrage» eingenommen und von dessen zentraler Überlegung, dass der Jude erst durch den Blick des Antisemiten geschaffen werde.
«Doch als ich nach Israel kam, hab ich plötzlich entdeckt, dass es nicht die Antisemiten sind, welche die Juden hervorbringen. Ich habe entdeckt, dass es eine reale jüdische Welt gab, eine jüdische Welt mit einer jüdischen Geschichte und einer Religion, die sich nicht zügeln lässt, eine jüdische Tradition und den Willen der Menschen durchzuhalten, weiterzumachen, das war für mich ein tiefer Schock.
Schliesslich war ich in Frankreich geboren, mein Vater auch, mein Grossvater, sein Photo sehen sie hinter mir, war französischer Soldat im 1. Weltkrieg gewesen.
Und in Israel habe ich mir plötzlich gesagt, ich hätte auch hier geboren sein können, wir haben ja alle dieselbe Herkunft. Die Menschen dort erschienen mir plötzlich wie Brüder. Das hat mir grosse, persönliche Probleme bereitet, ich war für diese Erfahrung damals einfach zu jung, ich konnte dann auch die Reportage nicht schreiben. Dann hab ich auch noch die deutschen Juden entdeckt, die rechtzeitig hatten fliehen können vor den Nazis, ihre Bibliotheken, voll mit den Gesamtausgaben von Hegel, Kant, Goethe und Schiller. Ich wollte danach, auf Anraten Sartres, ein Buch schreiben über die jüdische Besonderheit und hab auch rund 100 Seiten geschrieben, die nie veröffentlicht wurden. 20 Jahre später ist daraus dann mein Film <Warum Israel>, und zwar ohne Fragezeichen, geworden.»
Kein Film über die Überlebenden – ein Film über die Toten
Das Interview ist schon ziemlich weit fortgeschritten und man hat immer noch nicht über «Shoah» gesprochen, bittet ihn, über die Anfänge 1973 zu reden, den Ausgangspunkt dieses Epoche machenden Werks, will hören, dass ganz am Anfang der Vorschlag eines Freundes im israelischen Aussenministerium stand – mit einer Handbewegung wischt Lanzmann das beiseite, als habe man Unmögliches von ihm verlangt, als hätte man ihn gebeten, die 12 Jahre Arbeit an Shoah in zwei Minuten zusammenzufassen. Erst als man insistiert, sagt er dann doch noch: «Das hat lange gebraucht. Zu einem gewissen Zeitpunkt ist mir dann klar geworden, ich will keinen Film über die Überlebenden machen, sondern über die Toten, über die Radikalität des Todes in den Gaskammern der Vernichtungslager und über die jüdischen Protagonisten der Shoah, welche ja alle Mitglieder der Sonderkommandos waren, und das bedeutete, sie befanden sich an der allerletzten Stelle des Tötungsprozesses. Sie waren die einzigen, die mich interessierten, denn sie waren die direkten Zeugen des Todes ihres Volkes und natürlich interessierten mich die Nazis, die Nazimörder.»
«Ce sont des cons»
Ein Viertel Jahrhundert ist seit dem Erscheinen von «Shoah» vergangen, eine Zeit, in der Lanzmann immer wieder öffentlich und wortgewaltig in Debatten eingegriffen hat, wenn es darum ging, wie man über den Holocaust schreiben oder Filme machen dürfe und wie nicht. Dabei haben sich in den letzten Jahren die kritischen Stimmen gehäuft, die ihm vorwerfen, sich zu einer Art obersten Schiedsrichter aufzuschwingen. Was er diesen Kritikern antworte, möchte man noch wissen. «Ce sont des cons!»
Mit dieser definitiven Aussage gibt Lanzmann zu verstehen, dass das Gespräch nun wirklich zu Ende ist, doch wenn man schon mal vor ihm sitzt, in diesen Wochen, in denen der französische Staatspräsident dafür gesorgt hat, dass sein Land international am Pranger steht und zum Gespött wurde, Wochen, in denen eine ausländerfeindliche Politik von höchster staatlicher Stelle abgesegnet wurde, da kann man nicht gehen, ohne Claude Lanzmann zu fragen, was er über dieses eigenartige Klima denkt, das sich seit August im Land ausgebreitet hat?
Natürlich bin ich nicht mit Sarkozy einverstanden
«Ich werde darauf nicht antworten. Sie hätten diese Frage nicht stellen sollen. Voilà.»
Als die Kamera ausgeschaltet ist, platzt er heraus : «Was wollen sie, dass ich Ihnen darauf antworte? Dass ich damit einverstanden bin? Natürlich bin ich nicht damit einverstanden.»
Man muss sich auf die Zunge beissen, um Claude Lanzmann nicht daran zu erinnern, dass er auch einmal Journalist war und in einer ähnlichen Situation einem ähnlich berühmten Zeitgenossen diese Frage natürlich auch gestellt hätte, selbst wenn sie nichts mit dem eigentlichen Thema des Interviews zu tun hat.
Man hätte als einer, der in Stuttgart aufgewachsen ist, in Tübingen studiert hat und über Aktion Sühnezeichen nach Frankreich gekommen war, Claude Lanzmann auch gerne noch auf ein, zwei kleine Irrtümer in seinen Memoiren hingewiesen, die seine Zeit in Tübingen betreffen.
«Waschweibergeschwätz»
Damals hat er die 21-jährige Wendi von Neurath kennen gelernt, Nichte des früheren Reichsaussenministers Konstantin von Neurath und Vorgängers von Heydrich als «Reichsprotektor von Böhmen und Mähren». Lanzmann schreibt, Wendis Mutter sei dessen Schwester gewesen. Dem ist nicht so, der Vater war dessen Bruder. Das Gut der von Neuraths, auf dessen Ländereien Lanzmann beim Wochenendbesuch das aufgelassene Konzentrationslager «Wiesengrund» entdeckte, liegt nicht in Stuttgart-Vaihingen, sondern bei Vaihingen Enz, 50 Kilometer weiter nördlich. Und dass sich, wie Landsmann später erfuhr, Wendi damals bei Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste engagiert hat und unmittelbar nach der Staatsgründung nach Israel gegangen sei, ist kaum möglich. Aktion Sühnezeichen wurde erst 1958 gegründet.
Ausserdem hätte man noch fragen wollen, ob er weiss, dass Wendi, die seit den 50er Jahren Wendelgard von Staden heisst, 1979 ein Buch herausgebracht hat über ihre Erfahrungen während der Nazizeit und des Kriegs: «Nacht über dem Tal – Eine Jugend in Deutschland», mit einem Vorwort von Marion Gräfin Dönhoff, ein Buch, das mehrmals neu aufgelegt wurde und bis heute im Geschichtsunterricht eingesetzt wird.
Doch die Luft ist schon dick genug, man wagt es schlicht nicht mehr, ihm dies zu sagen. Ist auch nicht wirklich wichtig und schliesslich ist die Polemik im deutschen Feuilleton über Lanzmanns Rolle bei der Entlassung des 1. Rektors der freien Universität Berlin, Edwin Redslob, 1949, erst ein paar Wochen alt. Ach ja, natürlich wollte man vom Betroffenen wissen, was er von dieser Polemik hält.
«Commérages», hatte Lanzmann geknurrt, Waschweibergeschwätz.