Ali Chamenei hat nur eine Option: mehr Härte und Gewalt. In diesen entscheidenden Tagen trägt Ali Chamenei eine historisch beispiellose Verantwortung.
Unmissverständlich sagt er wiederholt, dass er nur eine Option für die Krise kennt: noch mehr Härte, zu welchem Preis auch immer. In seinem System findet sich niemand, der glaubwürdig für Ruhe oder Besänftigung sorgen könnte. Alle Moderaten sind längst entmachtet.
Heilige Aura
Was will er, was kann er, begreift er, was geschieht? Schicksalsfragen, von denen nicht nur Irans Zukunft, sondern auch die einer ganzen Region abhängt. Ali Chamenei ist gemäss Verfassung der mächtigste Mann des Landes. Ist er es auch in der Realität? Niemand weiss es genau. Wer ist er?
Es ist ein sehr schwieriges Unterfangen, ihn aus seiner heiligen Aura herauszuschälen, mit der er sich umgibt, besonders in diesen dramatischen Tagen.
Eine Annäherung
Ohne bestimmte Beiworte oder Zusätze wird sein einfacher Name offiziell nie erwähnt. Das Adjektiv oder Eigenschaftswort, das man für ihn benutzt, zeigt, auf welcher Umlaufbahn sich man in seinem Herrschaftssystems befindet.
Diejenigen, die ganz ausserhalb des Systems stehen, nennen ihn einfach beim Namen, Ali Chamenei. Von diversen Schimpfworten, mit denen er in diesen Tagen auf Irans Strassen geschmäht wird, ganz zu schweigen.
Will jemand dem Zentrum des Systems seine bedingungslose Ergebenheit zum Ausdruck bringen, spricht er von Imam Chamenei. Sagt ein Geistlicher nur Ayatollah und nicht Grossayatollah, deutet er eine gewisse Augenhöhe von Mensch zu Mensch an. «Hochverehrter Führer der Revolution» ist die gängigste, fast obligatorische Redewendung, mit der er täglich in den offiziellen Medien vorkommt.
Viele Namen und Titel
Eine autorisierte Biographie von ihm gibt es nicht. Dafür aber versprengte Anekdoten aus seinem Leben, Erzählungen über Begegnungen mit ihm oder Erinnerungen an seine Audienzen. Eine zusammenhängende Lebensgeschichte von ihm existiert nicht, darf nicht existieren. Eine Annäherung an seiner Person kann es deshalb nicht geben, weil er stets in einer religiös verbrämten Aura als «Stellvertreter des Verborgenen Imam» präsentiert werden muss. Er steht an der Spitze einer Ordnung, die sich ولایت فقیه «Herrschaft des Gelehrten» nennt.
Nur einmal hat sich ein Hofpoet an eine Biographie gewagt. Doch es war eher eine Ansammlung von Huldigungen, Erzählungen und Beschreibungen von Untergebenen beziehungsweise Weggefährten. Bemerkenswerterweise lautetet der Titel des Buchs «Beschreibung des Namens». Er hat ja viele Namen und Titel.
Was dem Betrachter für eine Annäherung an seine Person bleibt, sind vor allem seine öffentlichen Auftritte, das unterschiedliche Arrangement seiner Audienzen und natürlich seine Ansprachen mit den sorgfältig ausgewählten Koranversen.
Seit dem Tod von Mahsa Amini am 16. September und dem Beginn der Protestbewegung hat Ali Chamenei acht öffentliche Ansprachen gehalten. In seinen ersten Reden hat er diese Bewegung, über die inzwischen die ganze Welt spricht, entweder vollkommen ignoriert oder sie nebenbei in Nebensätzen erwähnt. Themen und Anlässe seiner Reden waren geschichtliche Begebenheiten, insbesondere Jahrestage oder religiöse Feiertage.
Die Basij
Doch seine letzte, die achte Rede hebt sich von allen anderen ab. Der vergangene Samstag war der Beginn einer Woche der Basij, jener paramilitärischen Formation, die in diesen Tagen als effizientester Teil des Sicherheitsapparats fungiert. Basij war ursprünglich eine freiwillige Bewegung, die Khomeini wenige Monate nach der Revolution ins Leben rief. Junge Leute sollten den Bauern auf dem Lande beistehen, Bedürftige in den Slums versorgen und vor allem den Kämpfenden an der Kriegsfront gegen den Irak behilflich sein. Alljährlich wird der Jahrestag ihrer Gründung gefeiert. Doch diese einst freiwillige, karitativ-politische Bewegung hat sich inzwischen zu einer paramilitärischen Einheit entwickelt, die von den Revolutionsgarden ausgebildet, ausgerüstet und bei der Bekämpfung der inneren Unruhen eingesetzt wird.
Die bewaffneten Einheiten der Basij, die dieser Tage auf Motorrädern die Demonstranten bis in die letzten Gassen verfolgen, verprügeln und verhaften, sieht man in jeder Strasse, an jeder Universität oder Schule.
Der diesjährige Gründungsjahrestag war aber ein besonderes, ein beispielloses Jubiläum. Ali Chamenei muss eine existenzielle Krise überwinden, für die er keine andere Lösung sieht als den Einsatz von Basiji, die sich seit zehn Wochen in pausenloser Alarmbereitschaft befinden. An einem solchen Tag und mitten in einer machtgefährdenden Krise war Chamenei gezwungen, sich endlich und ausführlich dem zu widmen, was auf den Strassen, an den Universitäten oder sogar auf den Friedhöfen bei den Beerdigungen der Opfer passiert: landesweite Proteste in den Gross- wie Kleinstädten.
Ihr seid die Besseren
Und als er sprach, log er. Er stellte die Basij als Opfer und die Protestierenden als von Amerika gesteuerte Meute dar.
Die Basiji hätten ihr Leben geopfert, um Menschen vor Randalierern zu schützen, die Anwesenheit von Basij zeige, dass die Islamische Revolution lebt. – Das war die wichtigste Botschaft seiner langen Rede. Die USA standen wie immer im Mittelpunkt der Ansprache. Es gehe nicht um Sein oder Nichtsein des Hijab, es gehe um Amerikas Erpressung, die unendlich sei. Im Grunde nichts Neues, Amerika ist immer in allen seiner Reden anwesend. Er variiert nur jedes Mal Bilder und Begriffe. Vielsagend sind aber jene Koranverse, die er für seine Rede ausgewählt hatte. Aus der Sure drei zitierte er den Vers 93, wo der Prophet nach einer verlorenen Schlacht seinen Soldaten zuruft: «Wenn ihr wahre Gläubige seid, werdet nicht schwach oder traurig, denn ihr seid die Besseren.»
«وَلَا تَهِنُواْ وَلَا تَحْزَنُواْ وَأَنتُمُ ٱلْأَعْلَوْنَ إِن كُنتُم مُّؤْمِنِينَ».
Es hört sich an wie ein Durchhalteappell in einem Kampf mit offenem Ausgang. Es ist ein solcher.
Chamenei weiss, wie seine Revolution von 1979 siegte. Er kennt die Dynamik der Proteste. Wenn der Despot Zugeständnisse macht oder Schwäche zeigt, ist er erledigt. «Ich habe die Stimme eurer Revolution gehört», sagte einst der Schah auf dem Höhepunkt der Unruhen und glaubte, seine Macht retten zu können. Doch das war zu spät und jeder wusste, dass er am Ende war. Einen solchen Fehler will und wird Chamenei nicht machen. Deshalb die eiserne Hand, die seit dieser Rede noch heftiger zuschlägt.