Vier Tage lang war es ein zunehmend lauter werdendes Gerücht, an einem Freitagabend, als Saint Germain des Prés und andere Pariser Kulturhochburgen schon im Wochenende waren, wurde es zur Gewissheit: Der Vertrag des Direktors des prestigeträchtigen Hauses, Regisseur und Multitalent Olivier Py, wird nicht verlängert; er läuft im März 2012 aus. Spätestens nach dem Wochenende stand Frankreichs Kunst- und Theaterwelt Kopf und lief Sturm gegen diese allmächtige und bislang einzigartige Entscheidung eines Kulturministers, in diesem Fall von Frédéric Mitterrand, Neffe des früheren Staatspräsidenten.
Die Aufregung war verständlich. Denn dass der Direktor eines französischen Nationaltheaters, zumal des weltweit anerkannten Odéons, nach einer ersten Amtszeit ohne erkennbaren Grund nicht verlängert wird, ist in den letzten fünf Jahrzehnten so gut wie nie vorgekommen. Dass es zudem aber auch noch den 45jährigen Olivier Py traf, dessen fulminante Arbeit der letzten Jahre am „Theater Europas“, wie das Odéon auch heisst, von Presse und Publikum in höchsten Tönen gelobt worden war, das hat in Frankreichs Kulturwelt Verblüffung, Ratlosigkeit, aber auch Empörung und Zorn ausgelöst.
Der Betroffene, Olivier Py, sagte zunächst nur, er sei verdutzt und sehe nicht, was man ihm vorwirft. Er denke, man werfe ihm eigentlich gar nichts vor, die Order komme wohl von anderswo her, das Ganze sei ihm völlig unverständlich.
Was hätte Py noch besser machen können?
In der Tat konnte niemand verstehen, was man Olivier Py vorwerfen könnte. Denn er hatte das Odéon seit 2007 zu einem extrem lebendigen, offenen Ort gemacht, mit jährlich 150‘000 Besuchern. Er hat das Haus zu fast zu 90 % ausgelastet, das Publikum deutlich verjüngt. Ferner hat er Theaterarbeit mit zahlreichen Schulen in Gang gebracht, jungen Truppen Möglichkeiten geboten, sich zu bewähren, Philosophen wie Steiner, Agamben oder Sloterdijk zu Kolloquien geholt, der Poesie Raum gegeben und beispielsweise den grossen palästinensischen Dichter Mahmoud Darwich ein letztes Mal vor einem zu Tränen gerührten Publikum seine Poesie lesen lassen .
Was hätte er noch besser machen können, fragten viele. Selbst der Kulturminister konnte nicht anders, als die bemerkenswerte Bilanz von Olivier Py absolut anzuerkennen. Wenn einer, so Frédéric Mitterrand, mit 40 Jahren das Odéon-Theater übernimmt und ein derartiges Instrument in der Hand hat, dann müsse er einfach gut sein und Olivier Py sei gut gewesen.
Warum dann aber die Entscheidung, ihn nicht zu verlängern? In einem Zeitungsinterview äusserte der Minister dann, er habe mit Py „keine gemeinsame Vision finden können hinsichtlich des europäischen Auftrags des Odéon-Theaters, welcher in Zukunft deutlicher zum Ausdruck kommen müsse“. Doch auch dieses Argument versteht niemand: Corsetti, Warlikowki, Ostermeier, Marthaler oder Langhoff haben hier in den letzten Jahren als Regisseure gewirkt. An Stücken europäischer Autoren im Repertoire mangelte es wirklich nicht. Zudem hatte es Olivier Py als erster auch noch geschafft, für ein Kooperationsprogramm mit fünf anderen, namhaften europäischen Theatern eine Finanzierung der EU-Kommission an Land zu ziehen. Was hätte er noch tun sollen?
Schlecht gelaunter Kulturminister
Derweil wurden in Paris reihenweise Communiqués und Petitionen zur Unterstützung von Olivier Py veröffentlicht, die „eine brutale, willkürliche und undemokratische Entscheidung“ anprangerten und von Persönlichkeiten wie Pierre Boulez, Patrice Chereau , Isabelle Hupert oder Daniel Auteuil unterzeichnet wurden.
Das Aus für Olivier Py am Odéon kam ausgerechnet im Moment, als der Regisseur das von ihm selbst geschriebene Stück “Adagio” zur Aufführung gebracht hatte, das den Untertitel trägt: “Mitterrand, das Geheimnis und der Tod”, ein Stück über die letzten Monate im Leben des früheren französischen Präsidenten François Mitterrand, der vor fast exakt 30 Jahren an die Macht gekommen war. Sollte dessen Neffe, der heutige Kulturminister Sarkozys, an diesem Stück, das er persönlich nicht gesehen hat, Anstoss genommen haben? Der gechasste Olivier Py meinte, an derart niedere Beweggründe wage er dann doch nicht zu glauben. Warum dann aber?
Kulturminister Mitterrand drückte sich am Höhepunkt der Krise während eines halbstündigen Radiointerviews um eine Antwort herum, - die halbe Stunde im Radiostudio schien unendlich lang. Zusehends schlechter gelaunt, knapp davor, das Interview abzubrechen, verteidigte der Minister seine Entscheidung gegen Olivier Py und für Luc Bondy, der ab Sommer 2012 im Odéon die Geschäfte übernehmen soll.
Weshalb Bondy statt Py
Bondy sei ein Regisseur, der seit Jahren die Idee des europäischen Theaters in sich trage und deswegen vertraue man ihm jetzt das Odéon an. Bondy habe einen internationalen Ruf und sei von allen anerkannt und verfüge über eine Kenntnis der Idee eines europäischen Theaters, welche dem Konzept des Odéon-Theaters entspreche.
Das kann und will niemand abstreiten und die Qualifikationen von Luc Bondy, sowie seine Erfahrung, was europäisches Theater angeht, stellt ebenfalls niemand in Abrede.
Doch auch dies beantwortet die Frage nicht, warum Olivier Py auf diese Art und Weise vor die Tür gesetzt wurde. Drängte etwa die Zeit, weil Bondy schon 63 ist? Dummerweise steht dessen Alter auch noch im Widerspruch zu dem, was man vor vier Jahren als Priorität formuliert hatte: das Odéon-Theater verjüngen zu wollen.
Luc Bondy war dies alles eher unangenehm, er war leidend, wurde am letzten Wochenende auch bei der Verleihung der französischen Theaterpreise, der „Molières“, nicht gesehen und hat sich bislang nur telefonisch gegenüber der französischen Nachrichtenagentur AFP geäussert. Er sei sehr stolz und erfreut, gab Bondy zum Besten, müsse aber noch Diskussionen führen, hinsichtlich des Budgets und seiner genauen Funktionen. Und fügte hinzu: er sei perfekt zweisprachig und könne überall arbeiten, letztlich sei es normal, dass man ihm ein französisches Theater gebe. Ansonsten habe er, Bondy, nichts gegen wen auch immer und werde, was den Streit angeht, keine Erklärungen abgeben.
Daran hat er sich bislang auch gehalten, die Diskussionen über das Budget und seine genaue Funktion scheinen zu seiner Zufriedenheit verlaufen zu sein, der Vorschlag zu seiner Ernennung ist mittlerweile – so geht das in Frankreich nun mal – von Staatspräsident Sarkozy persönlich abgesegnet worden.
Neues Angebot: das Festival von Avignon
Doch damit war der Theaterwirbel immer noch nicht zu Ende. Um nicht monatelang das halbe Kulturestablishement Frankreichs gegen sich und auf den Barrikaden zu haben, hat der Kulturminister, um die erhitzten Gemüter zu beruhigen, fast über Nacht eine Lösung aus dem Hut gezaubert und dabei so getan, als sei sie von langer Hand vorbereitet gewesen.
Er hat Olivier Py nichts weniger als die Leitung der grössten Theaterfestspiele der Welt, des Festivals von Avignon, angeboten. Py, der gerade im Zug sass, um sich in der Bretagne von dem ganzen Trubel zu erholen und sich abzuschotten, konnte nicht anders, als wieder in die Hauptstadt zurück zu eilen und das Angebot zu akzeptieren.
Mit ihm wäre erstmals seit Jean Vilar wieder ein Künstler Leiter der Theaterfestspiele von Avignon. Ab 2014 soll Py den Posten übernehmen. Der Kulturminister ist dann mit Sicherheit schon längst nicht mehr Kulturminister und in drei Jahren kann alles Mögliche passieren, sagen Kritiker und fragen, warum man plötzlich zwei der wichtigsten Posten in der französischen Theaterlandschaft Jahre im Voraus vergibt, ohne dass bei diesem Geschachere von Inhalten, Zielen oder Projekten die Rede gewesen wäre. Kulturminister Mitterrand jedenfalls hat in diesen stürmischen Wochen mit einer ordentlichen Dosis Herablassung klar zu verstehen gegeben, dass er niemandem, aber auch wirklich niemandem Rechenschaft schuldig ist .
Cherchez la femme?
Und so bleibt nach der überstürzten, frühzeitigen Ernennung eines neuen Direktors der Festspiele von Avignon die Frage eben weiterhin unbeantwortet, warum Py vom ihm aus dem Odéon-Theater verjagt wurde. Selbst die satirische Wochenzeitung „Le Canard Enchaîné“, die sonst auf viele Fragen eine Antwort hat, weiss keine. Bei ihren Recherchen hat die Redaktion nur einen ehemaligen Mitarbeiter des Kulturministers gefunden, der sich daran erinnerte, dass Olivier Py bei einer Veranstaltung des Odéon-Theaters vor einiger Zeit in seiner Rede vergessen hatte, den Namen Frédéric Mitterand zu erwähnen. Und ein Theatermacher aus der Provinz, der anonym bleiben will, hat eine humorvolle Hypothese in die Diskussion geworfen. Luc Bondy, so schmunzelt er, kenne wahrscheinlich Carla Bruni sehr gut, die sich bei ihrem Freund, Frédéric Mitterrand, für ihn eingesetzt habe.
Dazu muss man wissen, dass Mitterrand selbst bis zum Ende seiner Amtszeit wird mit der Vermutung leben müssen, er habe seine Ernennung zum Minister … Carla Bruni zu verdanken. Die Präsidentengattin soll sich vor knapp zwei Jahren bei ihrem Gatten für den Neffen des ehemaligen französischen Staatspräsidenten stark gemacht haben ….