Die britische Königin sprach einst von einem „annus horribilis“ - Frankreichs Präsident erlebt augenblicklich mit Sicherheit die schrecklichsten Wochen seit Beginn seiner Präsidentschaft.
Dabei reden wir nicht mal von seiner Beliebtheitskurve, die seit einem Jahr erschreckend tief nach unten durchhängt und dort stagniert. Wir sprechen nicht von irgendwelchen Affären, in die seine Minister verwickelt sind oder die ihm selbst sehr nahe auf den Leib rücken. Wir sprechen auch nicht von all den Meinungsumfragen, die dem Präsidenten heute bescheinigen: Bei der nächsten Wahl in 13 Monaten schaffst Du es nicht mal in die zweite Runde und in die entscheidende Stichwahl.
Gewiss, all dies ist niederschmetternd und ernüchternd für den einst allseits präsenten Präsidenten, doch es ist noch gar nichts gegen die fast über Nacht zur Gewissheit gewordene Situation: Sein eigenes Lager wendet sich von Nicolas Sarkozy ab! Immer mehr konservative Parteifreunde sagen nach fast vier Jahren Präsidentschaft, meist verschlüsselt, manche in aller Offenheit: Mit dem derzeitigen Präsidenten ist 2012 nichts mehr zu gewinnen, wir müssen, so schnell wie möglich, das Pferd wechseln.
Er stampft wie ein kleines Kind im Sandkasten
Da ist Nicolas Sarkozy nicht nur der im Prinzip mit enormer Macht ausgestattete Präsident Frankreichs, sondern, wie er gerne betont, zurzeit auch Präsident der G8 und der G20. Er war zumindest ein paar Tage lang zudem noch die Speerspitze einer internationalen Koalition gegen Ghadhafi und versuchte den Eindruck zu vermitteln, im Elysée werde wieder Weltpolitik gemacht. Jetzt hat er sogar noch Frankreichs Streitkräfte für eine ausgesprochen heikle Mission in der Elfenbeinküste mobilisiert.
Und dann geschieht das: zwei Durchgänge der als nicht weiter wichtig eingeschätzten Departementswahlen, die angeblich keinerlei nationale Bedeutung hatten, an deren Ende die Präsidentenpartei UMP aber eine historische Wahlschlappe einstecken musste und die rechtsextreme Nationale Front die politische Bühne beherrscht und die Themen vorgibt. Und der Präsident? Er sitzt plötzlich ratlos im Sandkasten, wie ein kleines Kind, dem gerade die Sandburg eingestürzt ist, stampft zwischendurch wütend mit den Füssen und weiss nicht, wie weitermachen und ob er noch einmal von vorne beginnen soll.
Autoritätskrise
Knapp vier Jahre nach seiner Wahl ist dem Mann, der alles selbst regeln und so viel Macht wie nur möglich auf sich selbst vereinen wollte, schlicht die Autorität abhanden gekommen. Was der Präsident sagt, hat in seiner eigenen Partei plötzlich nur noch sehr bedingt Gewicht. Immer mehr konservative Abgeordnete und mehrere Minister scheinen sich zu sagen: Er redet viel, wenn der Tag lang ist, es kümmert uns nur noch wenig.
Symptomatisch für diesen Zustand: Der Präsident hatte zwischen den beiden Durchgängen der Departementswahlen verordnet, die im 1. Wahlgang ausgeschiedenen Kandidaten seiner UMP-Partei sollten diesmal nicht - wie es bislang gute republikanische Tradition war – die Wähler dazu aufrufen, in der entscheidenden Stichwahl am Sonntag danach gegen die Kandidaten der rechtsextremen Nationalen Front stimmen, also de facto für die Kandidaten der Linken. Kaum hatte der Präsident diesen Ukas erlassen, sagten ein halbes Dutzend Minister seiner Regierung exakt das Gegenteil und riefen dazu auf, den Kandidaten der Nationalen Front den Weg zu verstellen. Mit den Sozialisten, so argumentierten sie, habe man inhaltliche Differenzen, aber zumindest eine Reihe gemeinsamer Werte, nicht so mit der Nationalen Front. Der Gipfel des Ungehorsams im Regierungslager: Selbst Premierminister Fillon stellte sich offen gegen die Position des Präsidenten.
Zweites Beispiel: Mit der Wahlschlappe für die Präsidentenpartei UMP scheint endgültig bestätigt, was viele Beobachter schon seit Monaten betont hatten: Nicolas Sarkozys Strategie, künftige Wahlen ganz weit rechts gewinnen zu wollen und sich dafür die Themen der rechtsextremen Nationalen Front zu eigen zu machen - diese Strategie ist inzwischen ein Rohrkrepierer, ja geht nach hinten los und stärkt die Partei von Marine Le Pen.
Folgerichtig sagte der Haushaltsminister und Regierungssprecher (!), François Baroin, am Morgen nach der Wahlschlappe unumwunden, mit diesen von oben verordneten Debatten - etwa über die Nationale Identität oder über den Islam - müsse nun Schluss sein. Der Staatspräsident konterte: Die Debatte über den Islam werde stattfinden. Antwort des Regierungssprechers: Ich bleibe bei meiner Position. Die Islamdebatte, eine Art Konvent der konservativen UMP-Partei zu diesem Thema, ist letzte Woche im fensterlosen Saal eines Hotels mit 200 Teilnehmern und vor 300 Journalisten über die Bühne gegangen. Premierminister Fillon und zahlreiche andere Kabinettsmitglieder, sowie die Vertreter aller Glaubensgemeinschaften, blieben dieser Veranstaltung jedoch demonstrativ fern.
Wie halten wir's mit der extremen Rechten?
Die Zahl der Beispiele für offene Kritik am Staatspräsidenten aus dem eigenen Lager liesse sich fast beliebig fortsetzen. Die Nationale Front jedenfalls hat es in kürzester Zeit geschafft, Sarkozys konservative Regierungspartei UMP nach nur knapp zehnjähriger Existenz zur Explosion zu bringen.
Nach den Departementswahlen ist endgültig klar: Es geht ein ganz deutlicher Riss durch die Präsidentenpartei hinsichtlich der Frage: Wie halte ich es mit der Nationalen Front? Auf der einen Seite jene, die sich klar abgrenzen, auf der anderen, diejenigen, die es nicht oder nur unglaubwürdig tun. Nicolas Sarkozy muss sich sagen lassen, dass er zum 2. Lager gehört, ebenso der Parteichef der UMP, Jean Francois Coppé. Da kann der Präsident noch so eindringlich auf den Tisch klopfen und betonen, er habe sein Leben lang die extreme Rechte bekämpft – heute sieht es so aus, als habe er sich dabei gründlich angesteckt.
Aussenminister Juppé dagegen, noch einer aus der alten Schule und Zögling von Jacques Chirac, fühlte sich bemüsssigt, unmissverständlich zu erklären: An dem Tag, an dem seine UMP-Partei mit Marine Le Pens extremer Rechten Allianzen eingehe, werde er diese, seine Partei verlassen.
Diese UMP-Partei hat sich aber, nach knapp zehnjährigem Bestehen, diese Woche de facto selbst zu Grabe getragen. Jean-Louis Borloo, drei Jahre lang der protokollarisch hoch platzierte Umweltminister Sarkozys und einer der wichtigsten Vertreter des politischen Zentrums innerhalb der Präsidentenpartei UMP, hat geräuschvoll die Tür hinter sich zugeschlagen und diese Partei verlassen. Er kündigte an, eine eigene Bewegung gründen zu wollen, die den humanistischen Flügel der Konservativen und Zentristen verkörpert. Tritt Jean-Louis Borloo wirklich bei der Präsidentschaftswahl an, werden die Chancen für Nicolas Sarkozy in den zweiten Wahlgang zu kommen noch geringer.
Rien ne va plus
Der Höhepunkt der Erniedrigung für Präsident Sarkozy bei den angeblich so unbedeutenden Departementswahlen in der Woche davor war aber das Ergebniss in seiner eigenen Hochburg, in seinem Königreich, wo er jeden Quadratmeter und jeden noch so unwichtigen Lokalpolitiker, jeden einflussreichen Geldgeber oder Anwohner aus der Welt des Showbuisseness kennt: in den „Hauts-de-Seine“, dem reichsten Departement Frankreichs im Westen von Paris.
Seit 30 Jahren beackert Frankreichs Präsident diesen goldenen Landstrich und besonders die durch ihn und Madame Bettencourt traurig berühmt gewordene Stadt der schrillen und diskreten Reichen, Neuilly sur Seine. Selbst dort und in der Nachbarstadt Levallois haben die Gross- und Geldbürger und die dort besonders zahlreich angesiedelten Adligen nicht so gewählt, wie der Präsident sich das vorgestellt hatte.
Isabelle Balkany, seit 22 Jahren Abgeordnete des Departements der Superreichen, die gemeinsam mit ihrem vorbestraften Eheman, Patrick Balkany, zum engsten Freundeskreis des französischen Staatspräsidenten gehört und gerne so tut, als würde sie eine mütterliche Hand über „Nicolas“ halten, ist von einem völlig unbekannten, parteilosen Kandidaten der Konservativen geschlagen worden - und dies, obwohl man den angeblich totsicheren Wahlkreis extra für sie freigeschaufelt hatte.
Bei diesen Departementswahlen hat sich das so genannte tiefe Frankreich gerächt - dieses Frankreich, dem Sarkozy zwar wöchentlich einmal, geschützt von Hunderten Ordnungskräften, einen ein- bis zweistündigen Besuch abstattet, von dem er im Grunde aber keine Ahnung hat. Dafür ist er in seinem Leben einfach zu selten aus dem vergoldeten Neuilly herausgekommen.
Genug von Bling Bling und Wichtigtuerei
Und dieses Frankreich der Landstriche, in denen das Leben auf kleiner Flamme dahinstirbt, in denen auch das letzte Unternehmen und das letzte Wirtshaus noch zusperrt und die Menschen Dutzende Kilometer fahren müssen, um vielleicht einen Job für knapp über 1000 Euro zu ergattern - dieses Frankreich von ganz unten, das ihm vor vier Jahren vertraut und ihm seine Stimme gegeben hatte, hat ihm jetzt gesagt: basta!
Dabei hätte Nicolas Sarkozy im Lauf des letzten Jahres nur auf die Abgeordneten seiner eignen Partei hören müssen. Die strömen freitags in ihre Wahlkreise in der Provinz aus und kommen am Dienstagvormittag zu ihrem wöchentlichen Treffen und zur Parlamentssitzung am Nachmittag wieder nach Paris zurück. Seit Monaten schon berichten sie nur Grausames über die Stimmung der Menschen im tiefen Land und die Reaktionen der Sympathisanten und Bürger auf Präsident Sarkozy. Auf den Wochenmärkten, in den Wirtschaften oder in den Festsälen der französischen Provinz nehmen sie kein Blatt mehr vor den Mund. Sie sagen ihren konservativen Abgeordneten ganz offen: nie wieder Sarkozy – genug von Bling Bling, Wichtigtuerei und grossen Worten. Dieser Präsident ist der Präsidenten der Reichen und nichts anderes.
Und von wegen: „Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen“, dieser Slogan des rastlosen Präsidenten, an den 2007 so viele Franzosen geglaubt hatten - er ist ihnen mittlerweile im Hals stecken geblieben. Viele Franzosen sind immer häufiger richtiggehend allergisch auf den Präsidenten, von dem sie den Eindruck haben, er habe ihnen etwas vorgemacht und sie an der Nase herumgeführt.
Inzwischen kann Präsident Sarkozy so oft reden, wie er will und sagen, was er will – nur wenige hören ihm noch zu. Kaum jemand will ihn mehr hören bzw. kann ihn noch hören. Da helfen auch die in den letzten Jahren ohnehin überstrapazierten Kommunikationsstrategien nichts mehr. „Le roi est nu“ - der König ist nackt, und - so scheint es – geradezu autistisch im Hinblick auf die Geschehnisse in seiner eigenen Partei und in seinem Land. Seine Devise - das hat die letzte Woche klar gezeigt - lautet: "Weiter so!"
Tag für Tag hat er seinen neuen Innenminister, Claude Guéant, den Kardinal,vorgeschickt, um Enormheiten von sich zu geben, die in Frankreich noch bis vor wenigen Jahren nur aus dem Mund eines Politikers der ultrarechten Nationalen Front denkbar gewesen wären - Enormheiten, die nur ein Ziel hatten: die Ausländer! Einer dieser markigen Sprüche auf mittlerem Stammtischniveau, mit aufgesetzter Unschuld vorgetragen, lautete: "Es gibt immer mehr Orte in Frankreich, an denen sich die Franzosen nicht mehr zu Hause fühlen - und man kann sie verstehen."