Die italienischen Parlamentswahlen, die am kommenden Sonntag stattfinden, werden als die wichtigsten seit Jahrzehnten bezeichnet. Wird Italien künftig von postfaschistischen Rechtspopulisten regiert? Nicht nur in Rom, auch in Brüssel und Washington sieht man dem Urnengang mit grosser Sorge entgegen. Hier eine Auslegeordnung.
Das italienische Parlament wird alle vier Jahre neu gewählt. Die jetzige Legislatur würde bis zum kommenden Frühjahr dauern. Da aber die Protestbewegung «Cinque Stelle» am 14. Juli 2022 dem bisherigen Ministerpräsidenten Mario Draghi das Vertrauen entzogen hatte, reichte dieser seinen Rücktritt ein. Staatspräsident Sergio Mattarella setzte daraufhin vorgezogene Neuwahlen für den kommenden Sonntag an.
Das italienische Parlament besteht aus
- der Abgeordnetenkammer (Camera dei deputati) (bisher 630 Sitze) und
- dem Senat (Senato della Repubblica) (bisher 430 Sitze).
In einer Volksabstimmung am 20. und 21. September 2020 entschieden die Italienerinnen und Italiener, die Zahl der Parlamentarier um etwa einen Drittel zu verkleinern.
- In der Abgeordnetenkammer wird die Zahl der Sitze von 630 auf 400 reduziert
- Im Senat sitzen künftig statt wie bisher 315 nur noch 200 Senatoren.
Am kommenden Sonntag wird zum ersten Mal das verkleinerte Parlament neu gewählt. Zahlreiche bisherige Abgeordnete und Senatoren werden also über die Klinge springen müssen – das dürfte vor allem Hinterbänkler treffen.
Die Abgeordnetenkammer und der Senat sind gleichberechtigt. Die Regierung ist vom Vertrauen beider Parlamentskammern abhängig. Eine Regierung, die nur das Vertrauen einer Kammer besitzt, muss zurücktreten.
Nach den Wahlen beauftragt der Staatspräsident eine Persönlichkeit mit der Bildung einer Regierung. Diese Persönlichkeit, meist war das bisher ein Parteichef, sucht nun im Parlament eine Mehrheit.
Die Regierung, die der designierte Ministerpräsident (oder die Ministerpräsidentin) vorstellt, muss sich gemäss Verfassung innerhalb von zehn Tagen den beiden Kammern vorstellen und die Vertrauensfrage stellen. Erhält diese Regierung das Vertrauen nicht, versucht es der Staatspräsident mit einem anderen möglichen Ministerpräsidenten und einer anderen Regierung.
Keine der italienischen Parteien kann allein regieren. Deshalb versuchen die italienischen Parteichefs nach den Wahlen, Bündnisse mit anderen Parteien einzugehen, um eine Mehrheit im Parlament zu erlangen.
Erwarteter Sieg der Rechtspopulisten
In Italien führen zahlreiche Institute Meinungsumfragen durch. Die Erhebungen in Bezug auf die bevorstehenden Wahlen decken sich mehrheitlich und weichen von Institut zu Institut nur um wenige Prozentpunkte ab.
Gemäss jüngsten Umfragen wird die rechtspopulistische Troika die Wahlen gewinnen. Obwohl sich ihr Spitzenpersonal nicht besonders mag, sind die drei Rechtsparteien im Hinblick auf die Wahlen ein lockeres Bündnis eingegangen. Nach den Wahlen könnte dieses Bündnis einer Belastungsprobe ausgesetzt werden.
Zum rechtspopulistischen Bündnis gehören
- Die «Fratelli d’Italia», die aus den Neofaschisten hervorgegangen sind. Geführt wird die Partei von der ehemaligen Journalistin Giorgia Meloni. Die «Fratelli» sind gemäss Umfragen die zur Zeit klar stärkste Partei. Sie hat innerhalb kurzer Zeit einen rasanten Aufstieg hingelegt.
- Zweite Partei im rechten Bündnis ist die rechtspopulistische und immer noch rassistische «Lega» des heute 46-jährigen Matteo Salvini. Die «Lega», die in Umfragen vor zwei Jahren noch bei bis zu 35 Prozent lag, erlitt herbe Rückschläge und schrumpfte auf die Hälfte zusammen. Grund sind die teils wirren Auftritte von Salvini. Viele seiner einstigen Anhängerinnen und Anhänger sind zu den «Fratelli» abgewandert.
- Dritte im rechtspopulistischen Bund ist die Partei «Forza Italia» des vierfachen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi. Er, der jetzt 86-Jährige, dominierte die italienische Politik während fast 25 Jahren. Seine Partei ist zwar arg zusammengeschrumpft, doch Berlusconi selbst hat immer noch Einfluss.
Meloni: «Ich will»
Da die «Fratelli d’Italia» vermutlich stärkste italienische Partei werden, verlangt deren Parteiführerin, die 45-jährige Giorgia Meloni, jetzt schon ultimativ, Ministerpräsidentin zu werden. Sie wäre die erste Frau auf diesem Posten.
Lega-Hochamt in Pontida
Der Fratelli-Chefin war es gelungen, den Lega-Chef an die Wand zu spielen. Salvini glaubte vor zwei Jahren noch, Ministerpräsident zu werden. Inzwischen steht er ganz im Schatten von Meloni. Salvini möchte jetzt das einflussreiche Amt des Innenministers übernehmen. Ob ihm das Meloni zugesteht, ist noch unklar. Zur Diskussion steht auch, dass Salvini Präsident des Senats werden könnte.
Am vergangenen Sonntag gab sich Salvini verkrampft zuversichtlich. Wie jeden Herbst fand auf einer Wiese beim lombardischen Städtchen Pontida bei Bergamo die Jahresversammlung der Lega statt: eine Art Hochamt der Rechtspopulisten. Auch dieses Jahr kamen Tausende. Die Stimmung war allerdings – angesichts des erwarteten bescheidenen Wahlergebnisses – weniger ausgelassen als in früheren Jahren.
Die Linke – einzige ernsthafte Alternative
Auf der anderen Seite des Parteienspektrums stehen die Sozialdemokraten: die heute zweitstärkste Partei Italiens. Der sozialdemokratische «Partito Democratico» (PD) wird vom früheren kurzzeitigen Ministerpräsidenten, dem heute 56-jährigen Enrico Letta angeführt. Im Gegensatz zur Situation in anderen europäischen Ländern können die italienischen Sozialdemokraten ihre Position halten. Der PD gilt als einzige ernsthafte Alternative zu den Rechtspopulisten.
Verblassende Sterne: Die Cinque Stelle
Eine Sonderrolle nehmen die Cinque Stelle (Fünf Sterne) ein. Sie wurden vom ehemaligen Komiker Beppe Grillo gegründet und werden jetzt vom früheren Ministerpräsidenten, dem heute 58-jährigen Giuseppe Conte, geführt. Conte war es, der Mario Draghi das Vertrauen entzogen hatte.
Conte, damals Regierungschef, war es nicht gelungen, einen befriedigenden Plan zum Einsatz der EU-Aufbauhilfe (200 Milliarden) auszuarbeiten. Deshalb wurde er vom früheren Ministerpräsidenten Matteo Renzi gestürzt.
Die Cinque Stelle, die bei den Wahlen vor vier Jahren mit 32 Prozent klar stärkste Partei wurden, haben die Hälfte ihrer Wählerschaft verloren. Die Partei, die sich gerne als Protestbewegung gibt, ist sowohl links- als auch rechtspopulistisch. Jeder und jede tun innerhalb der Partei, was sie wollen. Eine klare Ideologie ist nicht erkennbar. Oft herrscht Chaos. Vom einstigen Glanz der Sterne ist nichts mehr übriggeblieben.
Achse Renzi-Calenda
Und da gibt es noch den sogenannten Dritten Pol.
Matteo Renzi, der einstige sozialdemokratische Ministerpräsident, hatte 2016 nach einer verlorenen Volksabstimmung demissioniert. Anschliessend trat er aus dem sozialdemokratischen PD aus, weil er dort nicht mehr die erste Geige spielen konnte. Er gründete eine eigene linksliberale Partei, «Italia viva» und hoffte, ein grosser Teil der Sozialdemokraten würde zu ihm wechseln. Das geschah nicht. «Italia viva» dümpelt vor sich hin.
Renzi tat sich dann zusammen mit der Partei «Azione» von Carlo Calenda, einem ehemaligen Minister unter Enrico Letta. Calenda verliess die Sozialdemokraten und gründete eine eigene Partei: die linksliberale «Azione». Im Hinblick auf die Wahlen vom Sonntag wollte er sich zunächst dem sozialdemokratischen PD anschliessen. Er entschied sich dann aber dagegen, weil er nicht im Schatten des sozialdemokratischen Parteichefs stehen wollte.
Zusammen kommen Calendas «Azione» und Renzis «Italia viva» auf 6 bis 8 Prozent. Hätten sie sich mit dem sozialdemokratischen PD verbündet, hätte die Linke das stärkste Bündnis werden können. Doch unterordnen ist nicht ihre Sache.
2014 hatte der damalige sozialdemokratische Shootingstar Renzi den damaligen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Letta gestürzt. Berühmt ist das Bild von der Machtübergabe. Beim obligaten Händedruck schaute Letta ostentativ weg. Heute ist Letta oben und Renzi unten.
Meinungsumfrage vom 9. September, Institut Ipsos
Fratelli d’Italia, Meloni: 25,1 Prozent
Sozialdemokraten (PD), Letta: 20,5 Prozent
Cinque Stelle, Conte: 14,5 Prozent
Lega, Salvini: 12,5 Prozent
Forza Italia, Berlusconi: 8 Prozent
Azione/Italia viva, Calenda, Renzi: 6,7 Prozent
Grüne, Angelo Bonelli: 3,4 Prozent
Viel steht auf dem Spiel
Ntürlich ist noch nichts entschieden, aber es wäre eine Überraschung, wenn die Rechtspopulisten nicht gewinnen würden. Die Meinungsumfragen sind seit Monaten konstant. Beide, Meloni und Salvini verfolgen einen sehr EU-kritischen Kurs. Meloni sagt immer wieder, sie lasse sich von Brüssel nichts sagen. Zudem bewundert sie den ungarischen Präsidenten Viktor Orbán und seine «illiberale Demokratie». Viele italienische Rechtspopulisten sind eher Putin-freundlich. Salvini pflegte seit jeher sehr gute Beziehungen zum Kreml. Vorletzte Woche verlangte der Lega-Chef eine Aufhebung der Sanktionen gegen Russland und einen Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine.
In Brüssel herrscht Alarmstimmung: Schert nun, nach Polen, Ungarn und Schweden auch Italien aus? Zusammen hätten diese Länder einiges Gewicht und könnten in der EU erheblichen Schaden anrichten. Italien ist immerhin die drittgrösste Volkswirtschaft der EU.
Brüssel fürchtet, dass ein Abdriften Italiens ins rechtspopulistische Lager einen Domino-Effekt auslösen könnte.
Auch in Kiew ist man alarmiert. Ministerpräsident Draghi gehört zu den energischen Unterstützern der Ukraine. Stets hatte er sich stark gemacht für Sanktionen gegen Russland und für Waffenlieferungen an Kiew. Das könnte sich mit Meloni, Salvini und Co. ändern.
Putin wird’s freuen.