Nein, eine Faschistin ist sie nicht, heisst es nun plötzlich fast überall. Giorgia Meloni, die alle Chancen hat, italienische Ministerpräsidentin zu werden, gibt sich als vernünftige, geläuterte Staatsmännin. Doch dazu gibt es einiges zu sagen.
Es erstaunt, wie vergesslich die Italienerinnen und Italiener sind. Ebenso erstaunt, wie viele Journalisten und Journalistinnen plötzlich vieles aus ihrer Biografie ausklammern. Der Ausdruck «postfaschistisch», mit dem sie jahrelang qualifiziert wurde, kommt kaum mehr vor. Jetzt ist die plötzlich nur noch «nationalistisch».
Nein, eine Faschistin ist sie nicht. Doch sie schleppt ein faschistisches Erbe mit sich. Viele ihrer Anhängerinnen und Anhänger sind rechtsextrem. In ihrer Partei gibt es noch immer starke Kräfte, die Mussolini verehren. Von diesen distanziert sich Meloni nicht sehr überzeugend. Sie ist auf ihre Stimmen angewiesen.
Ein Bollwerk Mussolinis
Bei Auftritten von Meloni waren es oft die Schlägertrupps der rechtsextremen, faschistischen «Forza Nuova», die Meloni bewachten und gegen linke Demonstranten vorgingen. Es gibt auch Wahlallianzen zwischen ihrer Partei und Vertretern dieser rechtsextremen Gruppen.
Es ist noch nicht allzu lange her, da trat Meloni in der süditalienischen Stadt Latina mit Rachele Mussolini auf, einer Enkelin des Diktators. Tausende waren gekommen und jubelten den beiden zu. Meloni rief: «Wir wollen diesen symbolischen Platz in der Geschichte der italienischen Rechten zurückgewinnen.» Auf dem Platz brach tobender Applaus aus. Latina war eines der Bollwerke Mussolinis, eine Art Denkmal des Faschismus und liegt unweit seiner Paradestadt Sabaudia.
Die Mussolini-Flamme
Wenn Meloni spricht, streckt sie immer wieder den Arm zum Gruss aus. So wie es Mussolini tat. Bei Meloni allerdings ist es der linke Arm, bei Mussolini war es der rechte. Diese Geste gefällt vielen ihrer Anhänger.
Im Logo ihrer Partei lodert nach wie vor die Mussolini-Flamme. Sie sei stolz darauf, erklärt sie. Immer wieder hörte man Sätze von ihr: «Nicht alles an Mussolini war schlecht und falsch.»
Postfaschistin mit 15 Jahren
Schon als Teenagerin bekundete sie ihre Sympathien für die neofaschistische und postfaschistische Bewegung. Meloni war 15 Jahre alt, als sie sich in der Zentrale des neofaschistischen «Movimento Sociale Italiano» (MSI) in der Via della Scrofa im Zentrum Roms meldete, um Parteimitglied zu werden. Mit 18 Jahren trat sie dann in die MSI-Nachfolgepartei Alleanza Nazionale (AN) ein. Der Parteiname der Fratelli d’Italia (Brüder Italiens) bezieht sich auf eine Strophe in der italienischen Nationalhymne: «Brüder Italiens, Italien hat sich erhoben ...».
Einmal schlug Meloni die Abschaffung des 2. Juni als italienischen Nationalfeiertag vor. An diesem Tag wird der Sieg über die Nazis und die Faschisten gefeiert. Dieser Tag sei «ein spaltender Feiertag», erklärte sie zur Freude der alten und neuen Faschisten.
Zusammen mit der PiS, der AfD, der Vox und Le Pen
Auch Iganzio La Russa stört sich daran, dass Italien jährlich das Ende das Faschismus feiert. Er, ein enger Vertrauter von Meloni und Vizepräsident des italienischen Senats, schlug vor, das jährliche «Fest zur Befreiung vom Faschismus» abzuschaffen. Ferner plädierte er dafür, den Euro zu ersetzen – durch den Scudo Romano, eine alte römische Währung.
Meloni liess sich auch gerne mit Marine Le Pen fotografieren. Im Europaparlament sitzen die Fratelli d’Italia in einer Fraktion mit dem polnischen PiS, der rechtsextremen spanischen Vox, der Lega, der AfD und dem Rassemblement National von Marine Le Pen. Während den jüngsten französischen Wahlen sagte Meloni: «Ich bin für Marine Le Pen. Auf der Seite des Volkes, gegen das Establishment. Forza Marine.»
Meloni wetterte gegen die «Islamisierung Europas», sprach sich gegen die Aufnahme von Migranten aus, schimpft gegen Homosexuelle und die LGBTQ-Bewegung, sie will die Werte der katholischen Kirche hochhalten, ist gegen Abtreibung. Immer wieder drischt sie die klassischen rechtspopulistischen Phrasen von der Elite, die das ehrbare Volk vor den Kopf stösst. Und natürlich, das gehört zum Standard strammer Populisten, spritzt sie Gift gegen «die Medien».
Schüchterne Kritik am Faschismus
Auch gegen den Feminismus zog sie los. Doch vom Anti-Feministinnen-Image versucht sie jetzt loszukommen. Sie buhlt um die Stimmen der Frauen. «Wählt endlich eine Frau», ruft sie, obwohl in ihrem Wahlprogramm Frauen kaum vorkommen. Nichts von Gleichberechtigung, nichts von der grassierenden häuslichen Gewalt. Die Italienerinnen sind in einer verzwickten Lage. Eigentlich hätten sie gerne eine Frau an der Spitze der Regierung – aber eine solche?
Während Jahren hat sie sich nicht bereit erklärt, Mussolini und den Faschismus explizit zu verurteilen. Jetzt, da Wahlen anstehen und da sie ihre Wählerschaft verbreitern muss, hat sie sich endlich zu dem schüchternen Satz durchgerungen: «Die italienische Rechte hat den Faschismus der Geschichte überantwortet und die Unterdrückung der Demokratie sowie die schändlichen antijüdischen Gesetze verurteilt.» Punkt. Mehr dazu kam nicht. Sie will ja die alten und neuen Faschisten nicht vor den Kopf stossen.
Zahm, dass es fast weh tut
Man nannte sie die Römer Fischverkäuferin. Ihre früheren Auftritte waren oft wuchtig, laut, ab und zu hysterisch. Bei Diskussionen schrie sie herum, deckte ihre Gegner mit rüdesten Vokabeln ein (siehe Video unten). Römer Fischverkäufer gelten als besonders laut und draufgängerisch.
Jetzt plötzlich ist sie «gepudert», wie Enrico Letta, der Chef der Sozialdemokraten sagt. Sie tritt gemässigt, staatstragend, zurückhaltend auf. Ihr PR-Team hat ganze Arbeit geleistet. Sie gibt Interviews auch auf Französisch, Englisch und Spanisch. Der Fischverkäuferinnen-Slang ist weg. Nur noch gewählte Worte. Sie ist so zahm, dass es fast weh tut.
«Illiberale» Demokratie
Meloni will das politische System in Italien ändern. Sie plädiert für eine Art präsidiale Demokratie à la française: Wahl des Präsidenten durch das Volk. Also: Entmachtung des Parlaments, mehr Macht für den Präsidenten – oder: die Präsidentin.
Die EU wird sich nicht freuen, wenn Meloni italienische Regierungschefin wird. Sie umarmt und umgarnt Ungarns Präsidenten Viktor Orbán. Die Fratelli-Chefin lässt klar durchblicken, dass sie Orbáns Vorstellungen von einer «illiberalen» Demokratie, die die Befugnisse von Minderheiten einschränkt, teilt und anstrebt. Wenn Meloni an die Macht kommt, wird auf die EU einiges zukommen. Brüssel hat es dann nicht nur mit Ungarn und Polen zu tun, sondern auch mit Italien, der drittgrössten EU-Volkswirtschaft. Zusammen bilden die drei doch ein erhebliches Gewicht und Störpotential für die EU. Putin wird’s freuen.
Weiterhin Waffen für die Ukraine
Lange Zeit galt sie als Putin-Versteherin. Nach dem Kriegsbeginn der Ukraine hat sie sofort erkannt, dass sie damit nur verlieren kann. Dies im Gegensatz zu ihren Koalitionspartnern Matteo Salvini und Silvio Berlusconi, die beim Thema Ukraine-Krieg herumlavieren und Mühe haben, ihre «historisch guten Beziehungen» zu Putin zu kappen.
Meloni, begnadete Opportunistin, sagt jetzt plötzlich: Falls die Fratelli an die Macht gelangen, wird «Italien weiterhin Waffen an die Ukraine liefern und Kiew in seinem Krieg gegen Russland unterstützen». Meinungsumfragen hatten gezeigt, dass eine überwältigende Mehrheit der Italiener und Italienerinnen auf der Seite der Ukraine steht.
Lange Zeit hat sich die italienische Rechte gegen Sanktionen gegen Russland stark gemacht. Das hat den Fratelli scharfe Kritik der polnischen PiS eingetragen und hat das rechtsnationale Bündnis im Europaparlament schwer belastet. Auch da machte Meloni eine Kehrtwendung und positioniert sich jetzt gegen Russland. Und plötzlich hat sie auch nichts mehr gegen die Nato, was in Moskau gar nicht gut ankommt.
«Schuld ist der Euro»
Europa kann sich mit Meloni auf eine europafeindliche Wirtschaftspolitik gefasst machen. Sie galt jahrelang als Gegnerin des Euro. Die Gemeinschaftswährung sei schuld, dass es Italien schlecht gehe, liess sie verlauten.
Sie hat sich gegen das 200-Milliarden-Hilfspaket der EU ausgesprochen, ein Paket, das das marode Land modernisieren sollte. Meloni empfindet es als ehrabschneidend, dass die EU dem stolzen Italien auf die Beine helfen will. Sie wolle nicht zur Geisel der EU werden. Doch da wird sie zurückkrebsen. 200 Milliarden lässt man nicht einfach sausen.
Auch Berlusconi?
Zu allem kommt noch dies: Die drei Rechtsparteien (Melonis «Fratelli d’Italia», Matteo Salvinis «Lega» und Silvion Berlusconis «Forza Italia») werden laut heutigen Umfragen im neuen Parlament klar über die Mehrheit verfügen.
Da sich die italienischen Parteien Anfang des Jahres nicht auf einen neuen Staatspräsidenten einigen konnten, hat sich der bisherige Präsident, der jetzt 81-jährige Sergio Mattarella, bereit erklärt, seiner Amtszeit noch einige Zeit anzuhängen. Doch er könnte bald einmal zurücktreten. Und dann? Dann steht der 85-jährige Silvio Berlusconi, ein korrupter Lügner mit Beziehungen zur Mafia und zur Unterwelt, bereit, das Amt zu übernehmen. Das Rechtsbündnis hätte genug Stimmen, ihn zu wählen.
Italien hätte dann nicht nur Meloni, sondern auch noch Berlusconi.
Gradlinig? Eher nicht
Nein, eine Faschistin ist sie nicht. Und Italien wird kein faschistischer Staat, obwohl das Land seine faschistische Vergangenheit kaum aufgearbeitet hat. Die Demokratie ist im Land fest verankert und 70 oder 80 Prozent der Bevölkerung lehnen rechtsextreme Vorstellungen entschieden ab.
Ihre Biografie «Io sono Giorgia» wurde von der Partei zu Tausenden gratis verteilt und ist deshalb zum «Bestseller» geworden. Darin lobt sie ihre Prinzipientreue, ihre Ehrlichkeit und ihre Gradlinigkeit. Doch gerade gradlinig ist sie nicht. Um gewählt zu werden, wechselt sie ihre Positionen wie ihre Bluse.
Meloni ist eine clevere, agile, anpassungsfähige, draufgängerische und machtbesessene Rechtspopulistin mit gefährlichen Ideen. Ihre Koalitionspartner Salvini und Berlusconi können ihr nicht das Wasser reichen.
Den Teufel (noch) nicht an die Wand malen
Natürlich wird vermutlich nicht alles so heiss gegessen, wie es zubereitet wird. Man soll den Teufel (noch) nicht an die Wand malen. Meloni muss sich mit ihren rechtspopulistischen Koalitionspartnern Salvini und Berlusconi herumschlagen, die abenteuerliche wirtschaftspolitische Vorstellungen haben.
Das Rechtsbündnis ist ein heterogener, brüchiger Block. Trotz zur Schau getragener Innigkeit: Meloni hasst Salvini und umgekehrt. Und Berlusconi hasst beide. Nur jetzt vor den Wahlen demonstrieren sie Einigkeit. Das wird nicht lange dauern.
Zeitenwende?
Zudem wäre auch eine neue, sehr rechtsgerichtete Regierung in Europa und in den internationalen Finanzmärkten stark eingebunden und kann sich nicht alles erlauben.
Trotzdem: Auf die EU und die europäische Wirtschaft könnten harte, unbequeme Zeiten zukommen. Was jetzt in Italien stattfinden könnte, ist kein normaler Regierungswechsel, wie es in den letzten 70 Jahren so viele gab. Der 25. September, der Tag der Wahlen, dürfte eine Zeitenwende einleiten – wenn auch dieser Ausdruck abgegriffen ist. Italien und Europa dürften noch lange Mario Draghi nachtrauern.
Die jüngste Umfrage
Fratelli d’Italia, Meloni: 24%
Sozialdemokraten, Letta: 22,6%
Lega, Salvini: 14,5%
5 Stelle, Conte: 11%
Forza Italia, Berlusconi: 7%
Azione/Italia viva, Calenda, Renzi: 5,8%
Umfrage des Instituts Demopolis, veröffentlicht am 25. August
Meloni 2019 in einer Diksussionssendung mit Lilli Gruber, der Starmoderatorin des italienischen Fernsehens. Immer wieder sagte Gruber zu Meloni: «Ich stelle Ihnen das Mikrofon ab.»