Im Zeitalter der analogen Fotografie liess das Betätigen des Auslösers ein Bild verschwinden und brachte es erst in der Dunkelkammer wieder zum Vorschein. Ganz anders heute, wo das Display auf der digitalen Kamerarückwand die Dunkelkammern dieser Welt zum Verschwinden gebracht hat.
Das alles entscheidende Licht
Die Welt verändert sich, doch etwas bleibt der Fotografie erhalten: das Licht. Jenes Licht, das Hans Baumgartner so meisterhaft zu sehen verstand. Wie jeder Fotograf muss er ein Mensch gewesen sein, der durch die Welt ging und sich dabei immer des Lichts bewusst war, das ihn umgab, und es jederzeit verstand, dieses Licht zu bündeln und allenfalls fotografisch abzubilden.
Tägliche Bilderflut
Die Welt der digitalen Bilder hat Voraussetzungen geschaffen, von denen man früher nur träumen konnte. Damit sind nicht nur technologische Möglichkeiten gemeint. Noch nie wurden so viele Bilder publiziert, noch nie war die Fotografie so präsent, noch nie gab es so viele Ausstellungen, Bücher, Blogs, Plattformen, die sich mit Fotografie auseinandersetzen.
Bei KEYSTONE befasse ich mich mit Bilderfluten von fast unvorstellbaren Ausmassen. In einer Welt, in der jeden Tag 250 Millionen Fotos produziert werden, nehmen sich die 10'000 aktuellen Bilder, die täglich Tag bei meiner Agentur eintreffen, geradezu bescheiden aus. Da strömen Bilder aus allen Himmelsrichtungen zusammen, so dass wir uns fragen, ob das einzelne Bild denn überhaupt noch eine Bedeutung hat in einer Welt, die alles sieht.
Zeigt es uns die Welt, in der wir leben, oder verschleiert es uns den Blick auf diese Welt? Wie können wir es schaffen, einzelne Bilder überhaupt noch sichtbar zu machen?
Gegen das fotografische „Voranstolpern“
Genau diese Bilderflut war mit ein Grund, warum Hans Baumgartner seine fotografische Arbeit beendete. Er wehrte sich gegen die "Unachtsamkeit", gegen das "Voranstolpern" mit einem digitalen Lichtautomaten, der Pixel so bettet, dass immer und ohne grosse Vorkenntnisse ein Bild entsteht, eben automatisch und ohne Verstand.
Für jedes Ereignis, von jedem Ort und zu jedem Thema sind heute fotografische Bilder vorhanden – auch dann, wenn es nichts zu sehen gibt. Doch die Beziehung zwischen Wirklichkeit und Abbild ist brüchig geworden. Dagegen hat sich Hans Baumgartner gewehrt. Dagegen haben wir uns alle zu wehren.
Bildsprache als Fremdsprache
Die Welt der digitalen Bilder hat eben auch Voraussetzungen geschaffen, mit denen umzugehen wir noch lernen müssen. Sowohl als Bildbetrachter als auch als der kleine Fotograf, der in jedem von uns steckt. Das Bild hat sich verändert und wir uns mit ihm.
Wir haben gelernt, in einer fragmentierten Welt zu leben, genauso haben wir gelernt, mit den Bildern zu leben, die uns umgeben. Wir lernen, im welchem Kontext wir welche Bilder wie zu verstehen haben, und werden uns der Wirkungsweise von Bildern bewusst. Aber warum ist die Bildsprache immer noch eine Fremdsprache?
Die Welt ist atemlos geworden und mit ihr die meisten Bilder, die wir jeden Tag vorgesetzt bekommen. Kürzlich erzählte mir eine Frau in Südfrankreich, dass Jugendliche in der Nähe von Toulouse ihr Auto angezündet hätten. Und sie fügte hinzu: "Das ist wegen euch, wegen euren Bildern … Die Jugendlichen wollen diese Bilder leben." Dieser Satz geht mir seither nicht mehr aus dem Kopf.
Ja, es gibt sie, diese Bilder von brennenden oder ausgebrannten Autos in Südfrankreich und anderswo. Doch es gibt kaum fotografische Arbeit zum Alltag dieser Jugendlichen und ihren Lebensbedingungen, kaum Arbeiten, die der Realität dieser Jugendlichen eine Sprache verleihen.
Engagement und Poesie
Dokumentarischen Fotografie kann nur dann ihrem hohen Anspruch gerecht – nämlich aktuelle und relevante Fotografie mit einem hohen ästhetischen Anspruch zu sein –, wenn sie eine Fotografie ist, die uns als Betrachter engagiert und mit grosser Poesie von einer Welt erzählt, die wir sonst nicht oder zumindest anders wahrgenommen hätten.
Die Bilder Hans Baumgartners tragen wir in unserem Kopf herum, weil sie uns immer wieder und so unheimlich liebevoll vom unspektakulären, kleinen Alltag erzählen, den er so reich zu bebildern verstand. Seine Bilder zeigen uns Menschen, die wir nicht kennen, jedoch – beim genauen Betrachten – zu Menschen werden, die uns etwas zu sagen haben und uns als farbig erscheinen in der Körnigkeit seiner schwarzweissen Bilder.
Fotografie ist eine Haltung
Auch im digitalen Zeitalter bleibt Fotografie das Festhalten – oder Bündeln – von Licht, das Belichten einer beschichteten Platte, eines Negativs oder eines digitalen Chips. Doch baut Fotografie heute – vielleicht mehr denn je – auf gutem Handwerk und Erfahrung auf. Nur mit grosser Präzision vermag sie einen differenzierten Blick auf die Welt zu werfen, in der wir leben. Fotografie ist eben auch eine Haltung der Welt gegenüber.
In einer immer schnelleren Welt werden jene Bilder sichtbar, die es schaffen, sich der Beschleunigung zu widersetzen und sich dem Vorwurf der Beliebigkeit zu entziehen. Jene Bilder, die uns neugierig machen und den Zauber in sich haben, uns die Welt vor Augen zu führen.
Klassiker sichtbar machen
Ich hätte sehr gerne mit Hans Baumgartner zusammengearbeitet. Und irgendwie arbeite ich ja mit ihm zusammen. KEYSTONE vertreibt die Bilder der von der Fotostiftung Schweiz betreuten Fotografen. Ihre Werke bieten wir dem nationalen und internationalen Bildermarkt an.