Es ist eine gezielte Rufmordkampagne. Kaum hatte die französische Schriftstellerin Annie Ernaux den Literaturnobelpreis zugesprochen erhalten, erhob sich in den deutschen Medien ein Gerücht, eine Anklage, ein Aufruhr, der auch in die Schweizer Medien herüberschwappte, und nun steht es wie eine unantastbare Wahrheit da: Ernaux soll eine Antisemitin sein.
Kaum jemand fragt danach, worauf sich der Verdacht gründet – es ist auch kein Verdacht, sondern eine bewusst in die Welt gesetzte Desavouierung. Diese stützt sich auf die Tatsache, dass Ernaux die Organisation BDS unterstützt habe. Nun: BDS (Boycott, Desinvest, Sanction) hat zum Ziel, die israelische Besatzung der palästinensischen Gebiete ins internationale Bewusstsein zu bringen. Seit 1948 und 1967 übt Israel militärische Gewalt aus über die einstigen Bewohner Palästinas, die nunmehr in der sogenannten Westbank und in Gaza zusammengepfercht sind.
Sprachpolitik
Ausserdem siedeln laufend israelische Bürgerinnen und Bürger in diesen Gebieten und haben dort ihre eigenen Strassen, Infrastruktur und eigenes Recht, während die dort lebenden Einwohner sich ständigen Repressionen ausgesetzt sehen und ihre Bewegungsfreiheit extrem eingeschränkt ist. Die Ungleichbehandlung jüdischer und arabischer Menschen ist ohne weiteres als Apartheid zu bezeichnen. Diese Zustände werden gegenüber der Weltöffentlichkeit möglichst geheim gehalten. Die Boykottbewegung versucht mit einem absolut legitimen und gewaltlosen Mittel, dem Boykott, dagegen anzukämpfen. Das erklärte Ziel ist: einen gerechten Frieden im Nahen Osten zu erreichen, die Besatzung zu beenden.
Nun hat die israelische Regierung weltweit durchgesetzt, dass als antisemitisch bezeichnet wird, wer das Wort Apartheid benutzt und wer BDS unterstützt. Genau das, und nur das, wird Ernaux vorgeworfen. Alle ihre Ankläger müssen zugeben, dass sich kein antisemitisches Wort finden lässt in ihren Texten.
Dieser Angriff auf unsere Informations- und Meinungsäusserungsfreiheit darf uns nicht unberührt lassen. Einer Boykottbewegung zuzustimmen, ein angemessenes Wort für einen Zustand zu benutzen, muss erlaubt sein.
Zwei Arten des Antisemitismus
Zu unterscheiden sind zwei Arten von Antisemitismus. Die erste ist der abscheuliche Rassismus. Hier aber geht es um einen zweiten. Es ist der frei erfundene «linke Antisemitismus», der nichts anderes bezeichnet als Kritik an der israelischen Besatzungspolitik, Solidarität mit den unterdrückten Palästinensern und Palästinenserinnen und Bemühung um Frieden im Nahen Osten.
Während der wirkliche Antisemitismus kaum Wellen schlägt, benutzt die israelische Propaganda den Begriff, um jede Kritik, ja sogar die Information, zu verhindern.
Was passiert mit einer Nobelpreisträgerin, die als Antisemitin beschimpft wird? Sie wird unzählige Einladungen nicht erhalten, Veranstalter und Medien werden sich hüten, sie einzuladen; ihre Meinungsbeiträge in der Öffentlichkeit werden nicht erwünscht sein; denn der Antisemitismus kontaminiert alles, was sie berührt. – Wir haben schon unzählige Exekutionen der gleichen Art, mit demselben Vorwurf erlebt. Personen, welche BDS unterstützen, können jederzeit mundtot gemacht werden, insbesondere wenn sie gerade Berühmtheit oder eine wichtige Funktion erreicht haben. Die Philosophin Judith Butler ereilte das gleiche Schicksal, als sie in Deutschland den Adorno-Preis erhielt. Auch in der Schweiz passiert das laufend, jede Regierungsrätin, die je BDS unterstützte, wird von den Medien gnadenlos gehetzt.
Es ist höchste Zeit, dass wir uns wehren gegen die ständig stärkeren Angriffe auf unsere Meinungsfreiheit, indem wir Personen in Kultur und Politik schützen vor dem absurden Vorwurf des erfundenen «linken Antisemitismus», der sich nur aus der Nähe zu BDS begründet. In dieser Bewegung sind zahlreiche Jüdinnen und Juden, israelische Staatsbürger und Staatsbürgerinnen vertreten, welche die Besatzung beenden möchten. Wer dies als antisemitisch bezeichnet, will Antisemitismus gar nicht wirklich bekämpfen.