Griechenland habe die Maastricht-Kriterien nur mit Hilfe „griechischer Statistik“ erfüllt, heisst es seit zwei Jahren offiziell. Hinter vorgehaltener Hand wurde das aber schon von Anfang an gesagt. Das Gleiche gilt sinngemäss für Italien. Auch dort wurde geschummelt und getrickst. Hätte man diese Länder also nicht in den Euroraum aufnehmen dürfen?
Der Club der reichen Länder
Auf den ersten Blick ist die Antwort einfach: natürlich nicht. Und wie steht es mit Spanien? Spanien galt dank seiner Bautätigkeit als Wachstumsregion. Allgemein wurde davon geschwärmt, wie es dieses Land nach der Franco-Diktatur geschafft habe, wieder auf die Beine zu kommen. Und Portugal fiel buchstäblich nicht ins Gewicht. Spanien abzuweisen, hätte bedeutet, die Immobilienblase vorherzusehen. Das wäre nicht nur heikel gewesen, sondern im Sinne einer Self-Fulfilling-Prophecy gedeutet worden.
Was wäre das für ein Euro gewesen, der nur in den Ländern eingeführt worden wäre, die über vergleichbare wirtschaftliche Kraft verfügen? Was ökonomisch möglicherweise sinnvoll gewesen wäre, wäre ganz sicher politisch eine Katastrophe gewesen: Die reichen Länder richten sich noch komfortabler ein und lassen die schwächeren vor der Tür. Damit wäre Zentraleuropa gestärkt worden, nicht aber Europa. Politisch hätte das keinen Sinn ergeben.
Die ganz normale Revolution
Man kann mit der Geschichte hadern und die Einführung des Euro für das Scheitern Europas verantwortlich machen. Aber so viel klüger, wie man denkt, ist man hinterher nicht. Aus heutiger Sicht wäre es ganz sicher am besten gewesen, den Gedanken an den Euro ganz tief in den untersten Schubladen zu versenken. Aber politisch war Europa durch die Wiedervereinigung Deutschlands aus dem Gleichgewicht geraten.
Man mag darüber streiten, ob der Euro der geheime Preis für die Wiedervereinigung war. Sicher ist jedenfalls, dass François Mitterrand und Helmut Kohl dieses Projekt vorangetrieben haben: der Sozialist und der Christdemokrat. Die wirtschaftliche Substanz nicht nur dieser beiden Länder wurde einhellig von Links und Rechts komplett verändert. Von Rechts und Links wurde gleichzeitig der Hebel für diese radikale Systemveränderung angesetzt. Und diese Revolution fand statt, als wäre sie das Normalste in der europäischen Welt.
"Automatismus" statt Problemlösungen
Damit sollte nicht nur das neue Ungleichgewicht kompensiert werden, sondern eine zweite Schwierigkeit gleich mit. Denn auf politischer Ebene kam man mit dem europäischen Einigungsprozess nicht weiter. Anstatt die notwendigen Reformen der europäischen Institutionen in Angriff zu nehmen, nahm man neue Länder auf. Wie ein verkrachtes Ehepaar, das, anstatt die eigenen Probleme zu lösen, lieber Gäste einlädt und Partys feiert, weil dann wenigstens für Stunden eine Bombenstimmung herrscht, umgingen die europäischen Politiker die eigentlich heiklen Fragen. Eigentlich hätten sie schon damals „mehr Europa“ in neue Formen giessen müssen.
Dieses Manko wurde bei der Einführung des Euro klar benannt. Natürlich sei Europa politisch für eine Währungsunion noch nicht weit genug, aber die Währung werde eine Dynamik schaffen, die das politisch Notwendige in Gang setze, hiess es unisono. Der Ausdruck dafür war: Automatismus. Niemand hätte sich damals träumen lassen, wie dieser Automatismus seit zwei Jahren funktioniert: De facto haben wir eine europäische Regierung aus Internationalem Währungsfonds IWF, Europäischer Zentralbank EZB, dem Chef der Eurogruppe, der deutschen Kanzlerin und dem französischen Staatspräsidenten.
Ohne jede Kontrolle
Und mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus, ESM, ist ein Instrument geschaffen worden, das jetzt schon jedes nationale parlamentarische Haushaltsrecht annulliert. Stefan Homburg, Professor für öffentliche Finanzen an der Leibniz Universität Hannover, schrieb am 29. Juli 2012 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung: „Während der Vertrag das Beschlussrecht des Parlaments bis zur Unkenntlichkeit verkrüppelt, eliminiert er das Kontrollrecht vollständig: Die Mitglieder des ESM unterliegen einer unbegrenzten Geheimhaltungspflicht und Immunität (Artikel 34 und 35), die Räume und Archive sind unverletzlich, und alle Tätigkeiten des ESM sind jeder administrativen, gerichtlichen oder gesetzlichen Kontrolle entzogen (Artikel 32).“
Es wird sehr spannend sein zu sehen, ob das deutsche Bundesverfassungsgericht im September dieser Annullierung der vornehmsten parlamentarischen Kompetenz die Übereinstimmung mit der Verfassung bescheinigt.
Die europäische Junta
Schön wäre es, in dieser Konzentration der Macht auf eine supranationale europäische Ebene so etwas wie die Fortsetzung des europäischen Gedankens mit anderen Mitteln zu sehen. Das Mittel dazu wäre der Euro als eine Art List der Vernunft. Aber was wir de facto erleben, ist keine Vernunft, sondern der blanke Irrsinn. Wir erleben Politiker als Getriebene, die das bis vor kurzem Undenkbare herbeiführen, indem sie es abzuwenden versuchen: die Implosion des europäischen Finanzsystems.
Von der Einführung des Euro über die Installation einer Art supranationaler europäischer Junta bis hin zum finalen Desaster erscheint alles wie ein unausweichlicher Mechanismus. Am Anfang stand der Euro Mitterrands und Kohls, am Ende eine Diktatur der Finanzmärkte, auf die die Politik nicht nur mit der Bildung einer Junta reagiert: Zumindest in Deutschland gibt es keine politisch mehrheitsfähigen Alternativen. Man erinnert sich an 1914, als auch die SPD für die Kriegskredite stimmte.
Ohne Ideen, ohne Geist
Jetzt rächt sich die tiefe Verachtung für die geistige Auseinandersetzung um politische Ziele, die seit Jahrzehnten das politische Klima bestimmt. Politiker haben sich angewöhnt, die Wahrheit in der Mehrheit zu sehen: Die Akklamation bei Wahlen oder schon bei Umfragen hat jede Frage nach dem Sinn erledigt. Messbare Zustimmung oder Ablehnung haben das Argumentieren ersetzt.
Dass Politik Ziele braucht und dass es ohne Ideen und die Auseinandersetzung mit ihnen keine Ziele gibt, erschien mehr und mehr wie das Gerümpel vergangener Zeiten. Also wurde entrümpelt. Und weil damit Parteien und Politiker immer austauschbarer geworden sind, kommt es um so mehr auf die „Personality“ an. Wofür steht Frau Merkel? Egal, Hauptsache, sie kommt gut rüber.
Nur wohlschmeckende Medikamente
Das gegenwärtige und vor allem bevorstehende Desaster muss als Resultat der aus der intellektuellen Gleichgültigkeit erwachsenen Vermeidungsstrategie gelesen werden: Unter allen Umständen vermeiden Politiker Entscheidungen, die „nicht gut ankommen“. Gefragt ist Flexibilität, die um so leichter fällt, als es keinerlei Idee oder Prinzip gibt, an denen sich politische Entscheidungen messen lassen. Deswegen können Politiker den Verstoss gegen die von ihnen selbst beschlossenen Gesetze als das Normalste von der Welt betrachten: Defizitkriterien, kein Bail-Out, keine Staatsfinanzierung durch die Europäische Zentralbank – Wen schert´s?
Das Fehlen von Zielen und Prinzipien macht es Politikern unmöglich, Entscheidungen zu treffen, die im ersten Moment schmerzen und Widerstand auslösen. Solche Entscheidungen sind im bestehenden intellektuellen Vakuum „nicht vermittelbar“. Daher handeln Politiker wie Ärzte, die nur wohlschmeckende Medikamente verordnen können. Am Ende stirbt der Patient, aber er hat wenigstens nicht laut geklagt oder gar den Arzt gewechselt.
Mit der Einführung des Euro ist eine teuflische Unausweichlichkeit in die Welt gesetzt worden. Starke Ideen und vor allem starke Prinzipien wären nötig gewesen, um die richtigen Steuerimpulse zu geben. Aber weil diese Prinzipien fehlen, wird das Steuer ohne Sinn und Verstand mal hierhin und mal dahin gedreht. In seinen Untersuchungen zum Desaster des 3. Reiches hat der Philosoph und Soziologe Helmuth Plessner eine Wurzel in „Bismarcks Reich, einer Grossmacht ohne Staatsidee“ gesehen. Was wird man einmal über Europa sagen?