Überraschend hat ein algerischer Resolutionsentwurf den Uno-Sicherheitsrat passiert. Er fordert sofortige Waffenruhe im Gazastreifen und Freilassung aller Geiseln. Bisher hatten die USA alle Versuche, Israel zum Waffenstillstand zu verpflichten, per Veto blockiert.
Bis zum Montag schien sich beim Uno-Sicherheitsrat alles in den alten Bahnen zu bewegen: Brachte eine Delegation einen Resolutionsentwurf ein, stand schon im voraus fest, dass der Text am Nein einer der fünf Vetomächte scheitern werde. Dann geschah das Unerwartete. Die USA enthielten sich bei der Abstimmung der von Algerien eingebrachten Resolution der Stimme, und das bedeutet: Jetzt ist zum ersten Mal seit dem 7. Oktober ein Votum des Sicherheitsrats völkerrechtlich verbindlich. Es verpflichtet Israel zur sofortigen Waffenruhe und Hamas zur bedingungslosen Freilassung der Geiseln.
Das ist umso überraschender, als die Botschafterin der USA, Linda Thomas-Greenfield, noch zwei Tage vorher erklärt hatte, der Resolutionsentwurf Algeriens unterstütze nicht die «sensitive diplomacy in the region», und – schlimmer noch – er könne Hamas eine Rechtfertigung bieten, um die Verhandlungen zu verlassen.
Im Dschungel der Worthülsen
Monatelang zuvor klaubte die eine oder andere Delegation im Uno-Sicherheitsrat ein Wort, einen halben Satz aus einem Resolutionsentwurf heraus, welcher der einen oder anderen Seite (Israel oder der Hamas) als Grund dienen könnte, sich aus der Verpflichtung zu stehlen. Man muss manchmal auch langatmige Deklarationen bis ins letzte Detail durchforsten, um durch den Dschungel von Worthülsen zu einem Zipfel Wirklichkeit vorzustossen.
Ein Beispiel ist die Erklärung des russischen Botschafters zur Begründung seines Vetos vom Freitag: Zu Beginn polterte Vassily Nebenzia, die USA hätten mit der Resolution nur ein «heuchlerisches Spektakel» veranstalten wollen, und dies, «nachdem Gaza förmlich von der Erdoberfläche getilgt worden ist». Ganz am Rande dann der wirklich wesentliche Satz: «Wir können nicht zulassen, dass der Sicherheitsrat zu einem Instrument der US-amerikanischen Politik im Nahen Osten wird.»
Also darum geht es: um die Rolle der USA in der Region – als ob diese nicht bereits gewaltig geschrumpft wäre. Die Ermahnungen von Präsident Joe Biden an Israels Premier Netanjahu, er müsse nun unbedingt dafür sorgen, dass die Gaza-Bevölkerung weniger in Mitleidenschaft gezogen werde, liefen immer ins Leere. Und die letzte, eben beendete Vermittlungsreise von Aussenminister Blinken verlief ebenfalls erfolglos.
Aber ob Israel und/oder Hamas der jetzt im Uno-Sicherheitsrat angenommenen Resolution Folge leisten werden, ist noch völlig offen. Israel hat die im Jahr 2016 vom Sicherheitsrat verabschiedete Resolution, mit der ein Stopp der Siedlungsbauten im besetzten Westjordanland gefordert wurde, ignoriert. Und auch die noch ins Jahr 1967 zurück reichende Resolution 242, mit der Israel zum Rückzug aus den besetzten Gebieten aufgefordert wurde, blieb unbeachtet.
Eine sofortige Feuerpause und die Freilassung der Geiseln durch die Hamas fordern auch die 27 EU-Staats- und Regierungschefs. Aber der israelische Regierungschef hat sich an ausländische Kritik längst gewöhnt. Er hat auch die Erfahrung gemacht, dass den Worten keine Taten folgen, mit ein paar wenigen Ausnahmen. Kanada hat beschlossen, keine Waffen mehr an Israel zu liefern. Innerhalb der EU versuchen Spanien und Irland, wenigstens das Assoziierungsabkommen der Gemeinschaft mit Israel «zu überprüfen». Die Regierung Israels «begleitete» solche und ähnliche Voten (die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock bekräftigte einmal mehr, israelische Siedlungen im Westjordanland seien «illegal») mit der Ankündigung, weitere 3’500 Wohnungsbauten zu bewilligen.
Rätseln über Israels Politik
Wenn arabische Medien die Mehrheitsmeinung bei der palästinensischen Bevölkerung, sei es im Gazastreifen oder im Westjordanland, realitätsnah widerspiegeln, wird all das, was westliche Regierungen äussern, nur noch mit resigniertem Schulterzucken quittiert. Der Westen liefere Israel Waffen für den Gazakrieg und garniere das mit dem Abwurf von einigen Tonnen Lebensmitteln aus der Luft. Das sei nichts als purer Zynismus. Gerätselt wird bei den Menschen im zerbombten Gazastreifen auch, weshalb Israel einerseits die Lieferung von Hilfsgütern per Camion behindert, anderseits aber grünes Licht gegeben hat für den Bau eines Hafenpiers für Hilfslieferungen übers Meer.
Dazu hat sich der britische Journalist David Hearst, ein (Israel-kritischer) Veteran der Nahost-Berichterstattung, Gedanken gemacht. In der Publikation «Middle East Eye» spekuliert er, die Netanjahu-Regierung sei sich bewusst, dass ihre «Vision» für den Gazastreifen (militärische Kontrolle durch die israelische Armee, Übergabe der Zivilverwaltung an lokale Palästinenser) nicht funktionieren könne. Sie spiele stattdessen mit dem Gedanken, eine Fluchtbewegung grossen Ausmasses über das Mittelmeer zu provozieren oder zumindest zu ermöglichen. Und genau dafür seien diese Anlagen an der Küste des Elendsstreifens geeignet.