Was für eine absurde Situation: Vor den Grenzübergängen zum Gaza-Streifen stauen sich mehr als eintausend Lastwagen, beladen mit Hilfsgütern für die Palästinenser im kriegsversehrten Küstenstreifen, doch sie können die von Israel kontrollierten Kontrollposten nur in geringer Zahl passieren – 120 pro Tag, während mit riesigem Aufwand und geringem Ertrag Flugzeuge, gestartet in Jordanien, Hilfspakete abwerfen.
Ausserdem bemühen sich Europäer und US-Amerikaner Lebensmittel, Medikamente etc. aus dem rund 400 Kilometer entfernten Zypern per Schiff ins Konfliktgebiet zu schaffen. Ein erstes Schiff, jenes der spanischen Hilfsorganisation «Open Arms» ist inzwischen angekommen, die Verteilung hat begonnen, aber das ist vorläufig nur ein Tropfen auf den heissen Stein – niemand bestreitet, dass Lieferungen per Camion unendlich viel effizienter und billiger wären.
Die Uno-Flüchtlingshilfe UNWRA als Feindbild
Warum ist das so? Israel gibt keine klare Antwort auf die Frage, weshalb die Ladungen auf den Camions so viel gründlicher durchsucht werden müssen als jene für die Hilfsflüge oder die Schiffe in Zypern. Der amerikanische Nachrichtensender CNN recherchierte: Die Israeli senden jeweils ganze Lastwagen zurück, wenn die Ladung nur einen einzigen «verdächtigen» Gegenstand enthält, und verdächtig sind sogar Nagelklipser, Beatmungsgeräte und Wasserfilter. Weshalb aber werden die Ladungen in Hilfsflugzeugen und für die Schiffe weniger pingelig kontrolliert und weshalb stehen die Aussichten offenkundig gut, dass inskünftig auch die Hilfslieferungen mit US-amerikanischen Schiffen mit Ausgangsbasis Zypern effizienter verlaufen sollen? Offenkundig, weil Israel darauf hofft, so die Zusammenarbeit mit Uno-Organisationen, vor allem mit der UNRWA, vermeiden zu können.
UNWRA ist für die israelische Regierung zu einem Feindbild ähnlich jenem von Hamas geworden. Im Januar beschuldigte Israel die UNWRA, zwölf seiner Mitarbeiter hätten sich an der Hamas-Massenmord-Attacke vom 7. Oktober beteiligt. Die israelischen Behörden übermittelten Namen, UNWRA-Chef Philippe Lazzarini entliess zehn Mitarbeiter fristlos – und kündigte eine Untersuchung an. Die läuft seither nur mühsam, allerdings nicht, weil es den mit den Nachforschungen Beauftragten an gutem Willen fehlen würde, sondern weil Israel die von seinen Geheimdiensten gesammelten Informationen, die Beschuldigten betreffend, nicht an die UNWRA weitergeleitet hat.
Belastete Beziehungen Uno-Israel
Auch die von Israel vorgebrachte Darlegung, das ehemalige Hauptquartier der Hilfsorganisation in Gaza sei durch einen Tunnel mit einer Kommando-Zentrale von Hamas verbunden gewesen, fand keine Bestätigung. Im Gegenteil: Recherchen förderten zutage, dass es zwar unterhalb einer Ecke des Gebäudes einen Tunnel gegeben habe, allerdings in rund 18 Metern Tiefe, und kein Hinweis auf eine Verbindung zum Gebäude der UNRWA. Zweifel an den israelischen Anschuldigungen führten jetzt, im März, dazu, dass mehrere Staaten ihre seit Januar unterbrochene finanzielle Unterstützung für UNRWA wieder aufgenommen haben: die EU, Kanada, Schweden, Australien. Die Schweiz hüllt sich, nachdem auch sie ihre Zahlungen sistiert hatte, in stille Zurückhaltung …
Für die Frustration Israels nicht nur gegenüber UNWRA, sondern gegen alle mit der Uno in Verbindung stehenden Organisationen gibt es einige nachvollziehbare, aber auch nicht nachvollziehbare Ursachen. Seit Jahrzehnten steht Israel am Pranger bei Abstimmungen in der Uno-Generalversammlung – allein zwischen 2015 und 2022 verabschiedete das Gremium 140 Resolutionen, die Israel kritisierten. Im gleichen Zeitraum unterstützte jeweils eine Mehrheit nur 68 Resolutionen, die sich mit dem Rest der Welt befassten. Im Uno-Sicherheitsrat gab und gibt es weiterhin immer wieder Versuche, Israel in verpflichtender Weise zu verurteilen – die USA verhindern das konsequent mit ihrem Veto.
Die UNRWA anderseits ist jene Instanz der Vereinten Nationen, die sich auf besonders klare Art und Weise für die Palästinenser engagiert – vor allem durch eine Textpassage der Gründungsakte des Hilfswerks, das die Rechte der Palästinenser auf Rückkehr in jene Gebiete betont, aus denen sie (respektive deren Vorfahren) 1948 vertrieben wurden. Dieses Recht, so der Text, beschränkt sich aber nicht auf die damals tatsächlich Vertriebenen (oder Geflüchteten), also auf rund 700’000 Menschen, sondern gilt auch für die Nachkommen, also für bis zu fünf Millionen. Würden sie alle das Rückkehrrecht geltend machen, würde das die Existenz Israels als Staat tatsächlich in Frage stellen.
Wer könnte die UNRWA ersetzen?
Kritik am Uno-Flüchtlingshilfswerk gab und gibt es auch aus anderen Gründen: In den Unterrichtsbüchern der UNRWA etwa sei Israel nicht als Staat zu erkennen oder einzelne Lehrer hätten den Holocaust geleugnet. Aber ist das alles Grund genug, um das Hilfswerk mit seinen rund 30’000 Mitarbeitern (13’000 davon im Gaza-Streifen) aufzulösen, was bereits mehrere der rechtsgerichteten Minister in Netanjahus Regierung fordern? Und welche Organisation würde dann die bisher von UNRWA ausgeübten Funktionen übernehmen: die Schulen, die sozialen Einrichtungen, die Spitäler etc.?
Darauf gibt es von der israelischen Regierung keine Antwort. Premier Netanjahu verharrt in der Illusion, sein Militär könne die Sicherheits-Kontrolle über die Gaza-Palästinenser übernehmen, deren jetzt zerstörte Häuser würde irgend jemand wieder aufbauen (man schätzt, dass der Wiederaufbau mindestens 80 Milliarden Dollar kosten könnte), und die zivile Verwaltung würde Israel an angesehene lokale Notabeln übergeben. Da erhielt Netanjahu aber eben eine erste Absage: Mehrere prominente Stammes-Älteste erklärten, sie würden sich jeglicher Kooperation mit der Besatzungsmacht verweigern. Weitere «Visionen» von israelischer Seite für die jetzt 2,3 Millionen Menschen im Küstenstreifen (in fünf Jahren werden es schon 2,6 Millionen sein) gibt es nicht.
Fazit: Dass nicht nur Netanjahu, sondern dass sich auch die überwiegende Mehrheit der Israeli dagegen sträubt, irgendwelche Schritte zu unternehmen, die als indirekte Belohnung für den Hamas-Massenmord vom 7. Oktober verstanden werden könnten, ist nachvollziehbar. Aber mit der Verleugnung der Realität kommt Israel auch nicht weiter, im Gegenteil: Fiele jetzt die UNWRA als «Helfer in der Not» aus und würde das Hunger-Elend weiter andauern, wäre der Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung im übervölkerten Küstenstreifen nicht mehr aufzuhalten.