Die Französin Yasmina Reza, die weltweit am meisten gespielte zeitgenössische Dramatikerin mit Stücken wie „Kunst“, „Drei Mal Leben“ oder „Der Gott des Gemetzels“, hat 13 Jahre nach ihrem Erstlingsroman „Eine Verzweiflung“ letztes Jahr erstmals wieder einen Roman geschrieben.
In „Glücklich die Glücklichen“ ist niemand wirklich glücklich. Wirklich keine einzige der 18 Figuren des Romans, die in 21 gerafften Kapiteln aufscheinen. Jedes Kapitel ist mit sorgsam gewählten, für die Pariser Welt, mit ihren multikulturellen Wurzeln typischen, Vor- und Nachnamen des jeweiligen Protagonisten überschrieben: Robert Toscano, Marguerite Blot, Paola Suares, Philippe Chemla, Jean Ehrenfried, Loula Moreno…
Pariser Bürgertum
Es sind kleine, präzise Momentaufnahmen der einzelnen Figuren, die mit ihren inneren Monologen oft nach nur wenigen Zeilen ein Ambiente, ein Milieu, ja eine ganze Welt vor den Augen des Lesers entstehen lassen. Es ist diese von Yasmina Reza gnadenlos, streckenweise humorvoll sezierte, reichlich selbstgenügsame Welt des Pariser Bürgertums aus den besseren Vierteln, wo man keine Geldsorgen kennt, über den richtigen Umgangston, über Ferienhäusern auf dem Land und die nötigen Beziehungen im Leben verfügt.
Hier tummeln sich, über drei Generationen verteilt, Rechtsanwälte, Ministerialbeamte, Manager und Mittelsmänner bei internationalen Geschäften, Journalisten, Praktikanten, Lebenskünstler, Schauspieler oder Ärzte. Es ist ein Panoptikum der urbanen Gegenwart, aus dem sich die einzelnen Figuren, Kapitel nach Kapitel, wie ein Puzzle wunderbar zu einem Ganzen zusammenfügen. In ihrem Inneren, sagt die publikumsscheue 54-jährige Autorin in einem ihrer seltenen Interviews, schlummere ein Architekt, der gerne Pläne zeichnet, entwirft und baut.
Die Welt, die sie in „Glücklich die Glücklichen“ baut, hat etwas Niederschmetterndes, zumindest aber Ernüchterndes, angesichts der Zerbrechlichkeit der Beziehungen zwischen Mann und Frau, der Verlogenheit und des Zynismus im Milieu des nach aussen hin so souveränen Pariser Bürgertums
So ein Käse
Zur Ouvertüre, unter der Kapitelüberschrift „Robert Toscano“, gibt es einen grotesken Streit zwischen einem Ehepaar um den richtigen Käse während des wöchentlichen Grosseinkaufs im Supermarkt. Sie ist Rechtsanwältin, er, Robert, Wirtschaftsjournalist. Am Ende des Streits, bei der Rückfahrt im Auto, herrscht eisiges Schweigen. Drei Kapitel weiter folgt der innere Dialog von Odile Toscano.
„Alles regt ihn auf, Meinungen, Dinge, Leute. Alles. Man kann nicht mehr aus dem Haus gehen, ohne dass es ein schlimmes Ende nimmt. Ich überrede ihn auszugehen, aber danach tut es mir fast immer leid. Wir verabschieden uns mit albernen Witzeleien, auf dem Treppenabsatz lachen wir noch, und im Fahrstuhl breitet sich sofort Kälte aus. Dieses Schweigen müsste man mal untersuchen, vor allem auf Autofahrten herrscht es, wenn man nachts nach Hause fährt, nachdem man sein Wohlergehen zur Schau gestellt hat, eine Mischung aus Mobilisierung und Selbstlüge. Ein Schweigen, das nicht einmal das Radio erträgt, denn wer würde in diesem Krieg zweier stummer Widersacher wagen, es einzuschalten? Heute Abend, während ich mich ausziehe, lässt sich Robert wie immer viel Zeit im Kinderzimmer. Ich weiss, was er tut. Er beugt sich über sie und überprüft in aller Ruhe, ob sie auch nicht tot sind. Dann sind wir beide im Bad. Keinerlei Kommunikation. Er putzt sich die Zähne, ich schminke mich ab. Er geht auf die Toilette. Und dann treffe ich ihn im Schlafzimmer auf dem Bett sitzend an; er ruft mit dem Blackberry seine Mails ab, er stellt seinen Wecker. Dann schlüpft er unter die Decke und macht sofort das Licht auf seiner Seite aus.“
Einsamkeit
In Yasmina Rezas Pariser Welt finden sich der erfolgreiche, homosexuelle Onkologe, der darüber sinniert, warum er für Sex lieber gleich bezahlt und dafür die dunkelsten Gegenden im Bois de Boulogne oder die einschlägigen, zwielichtigen Kinos aufsucht. Die Chefsekretärin, die die Männer nimmt, wie sie kommen und sich an keinen bindet, jetzt aber nicht versteht, warum sie gerade an dem kleinen Staatssekretär so hängt, dessen vernachlässigte Frau ihr dann in einem Café eröffnet, dass sie nicht die einzige Geliebte ihres im Grunde nicht sonderlich attraktiven Mannes ist. Pascaline Hutner und ihr Mann Lionel, Freunde der Toscanos, allein und hilflos mit dem Schicksal ihres 19- jährigen Sohns, von dem sie erzählen, er sei zu einem Praktikum in London, während er in eine geschlossene Anstalt eingeliefert werden musste, weil er sich wirklich für Céline Dion hält und mit Dutzenden Halstüchern seine Stimmbänder permanent gegen den Luftzug schützt.
Die Welt, in die Yasmina Reza den Leser mitnimmt, hat etwas Zerbrechliches, ist eine Welt, wo Krankheit, der drohende Tod und die Psychiatrie allgegenwärtig sind. Und natürlich die Einsamkeit, ob allein oder zu zweit. Im Grunde, so Reza, verbringe man doch sein ganzes Leben damit, gegen die Einsamkeit anzukämpfen.
Ob die drei Ehepaare, denen man in diesem 170 Seiten starken Roman begegnet, ob die 25-jährige Krankenschwester aus der Bestrahlungsabteilung, die ihre Grosstante im Altersheim besucht, ob die Spanischlehrerin aus der Provinz oder die aufstrebende Schauspielerin Anfang 30 – für alle scheint es die Autorin mit Louis Aragons Diktum zu halten: „Il n'y a pas d'amour heureux“.
Finale Furioso
Am Ende, als Ernest Blot, der in den 70-er Jahren Berater des Premierministers Raymond Barre war und der bestenfalls seinen Enkelsohn und die Apfelbäume auf seinem bretonischen Landsitz liebte, währenddessen seine Frau ein Leben lang betrogen hat, plötzlich stirbt, finden sich sämtliche Figuren des Romans nebst einigen Personen, von denen im Lauf der Kapitel die Rede war, bei der Trauerfeier wieder - mit einer harschen und resoluten Witwe, die überhaupt keine Trauer empfindet. Auf dem Weg zur Einäscherung zerreisst sie den hochtrabenden Nachruf aus „Le Monde“, den Männer wie ihr verstorbener Gatte nun einmal bekommen, quasi in der Luft, weil über sie darin kein Sterbenswörtchen verloren wird.
Die Sporttasche
Grotesk wie das Anfangskapitel aus dem Supermarkt, ist auch das Schlusskapitel, als Ernest Blots engste Angehörige seinen letzten Willen erfüllen und seine Asche während eines Tagesausflugs, aus Paris angereist, genervt und permanent streitend, in einem bretonischen Fluss verstreuen. Am Ende zanken sich die erzählende Tochter Odile, deren Schwester Marguerite, Schwiegersohn Robert und Jeanette, die Witwe gar noch darüber, was mit der Urne zu tun sei und mit der billigen Reisetasche, in der man diese in das kleine bretonische Dorf Guernozé transportiert hatte.
„Was machen wir mit der Urne?, fragt Maman. - Die werfen wir weg, sagt Robert, der sie wieder in die Tasche gesteckt hat. - Wohin? - In einen Mülleimer. Da drüben ist einer an der Mauer. Ich schlage vor, wir gehen wieder zum Bahnhof. Und ich lade euch auf ein Glas ein, während wir auf den Zug warten. Wir verlassen die Brücke. Ich betrachte das Wasser, die Reihe der gelben Bojen. Ich verabschiede mich von Papa. Ich forme ein Küsschen mit den Lippen. An der Eckmauer angekommen, will Robert die Go-Sport-Tasche in den Mülleimer zwängen. - Was machst du da, Robert? Wieso wirfst du die Tasche weg ? - Die ist grauenvoll. Damit machst du doch nichts mehr, Jeannette. - Doch, doch. Die benutze ich, wenn ich Sachen zu transportieren habe. Wirf sie nicht weg. - Maman, mische ich mich ein, in dieser Tasche war jetzt Papas Asche, einen anderen Zweck hat sie nicht mehr. - Das ist völlig idiotisch, sagt Maman, in dieser Tasche haben wir ein Gefäss transportiert, und basta. Robert, bitte hol diese bescheuerte Urne da raus, wirf sie weg und gib mir die Tasche zurück. - Diese Tasche ist zehn Euro wert, Maman! - Ich will diese Tasche wiederhaben. - Warum? - Weil! Ich war schon dämlich genug, mit hierherzukommen, jetzt will ich auch mal was entscheiden. Dein Vater ist in seinem Fluss, alles ist perfekt, und ich fahre mit meiner Tasche nach Paris zurück. Gib mir die Tasche Robert.
Robert hat die Tasche ausgeleert und hält sie Maman hin. Ich reisse sie ihm aus der Hand. Maman, ich bitte dich, das ist grotesk. Sie klammert sich an den Griff und jammert, das ist meine Tasche, Odile! Ich schreie, dieses Scheissding bleibt in Guernozé! Ich stopfe sie in den Mülleimer an der Mauer. Ein hemmungsloses, herzzerreisendes Schluchzen ist zu hören. Marguerite hat die Hände und das Gesicht zum Himmel erhoben wie eine Pietà. Jetzt fange ich auch an zu weinen. - Das haben wir jetzt davon, na bravo, sagt Maman. Robert versucht, sie zu beruhigen und von dem Mülleimer wegzubringen. Sie wehrt sich ein bisschen, dann lässt sie sich, an seinem Arm hängend, dazu bringen, den schmalen Bürgersteig zurückzugehen, fast taumelnd, ihr Körper schleift fast an der Steinmauer entlang.“