Die Organisatoren hatten den Pariser Kongresspalast gemietet, und der war brechend voll. 4000 geladene Gäste und Journalisten drängten sich am Mittwoch Mittag in der Mehrzweckhalle, unter anderem um zu erfahren, wie sie denn aussehen wird, die hundertste, die Jubiläumsausgabe der Tour de France, des drittgrössten Sportereignisses der Welt.
Dass die Frankreichrundfahrt im kommenden Jahr am 29. Juni erstmals überhaupt in ihrer Geschichte in Korsika starten und dort drei Etappen absolvieren wird, war schon bekannt. Dass die Fahrer den legendären Aufstieg zur Alpe d'Huez auf einer Etappe gleich zwei Mal zurücklegen werden, war neu – ebenso wie die Tatsache, dass die Ankunft der letzten Etappe der 100. Tour de France auf den Champs-Elysées bei Flutlicht am Abend stattfinden wird. So käme der Charakter der Lichterstadt Paris noch besser zum Ausdruck, meinte treuherzig der Renndirektor der Tour, Christian Prudhomme.
Alles Paletti
«Armory Sport Organisation» (ASO), die Veranstalterfirma der Tour de France und Eigentümerin der Sportzeitung «L'Equipe», hatte sich wahrlich nicht lumpen lassen. Spektakuläre Videopräsentationen und atemberaubende Bilder wurden geboten, Superlative gleich reihenweise bemüht, die ewigen Bande zwischen der Tour und Frankreich beschworen, ja, die Tour de France als Teil des französischen Kulturgutes deklariert.
Es war, als wollte ASO mit allen Mitteln versuchen, sich das Fest der Präsentation der 100. Ausgabe des grössten Radrennens der Welt nicht verderben zu lassen – 48 Stunden, nachdem der Weltradsportverband nicht anders gekonnt hatte, als dem siebenmaligen Toursieger Lance Armstrong sämtliche Titel abzuerkennen.
Der Veranstalter beschönigt
Trotzdem schien der Generaldirektor und Sohn der Besitzerin von ASO, Jean Etienne Amory, einen Knoten im Hals zu haben, als er seine Begrüssungsrede, die man ihm geschrieben hatte, ablas und darin – angesichts der aktuellen Dopingthematik – so beschönigende Sätze von sich gab wie diesen: «Nicht die Dopingbekämpfung im Radsport ist in Frage gestellt, auch wenn sie ständig verbessert werden muss, sondern die Präsenz von unredlichen Personen in der Umgebung der Teams und manchmal sogar innerhalb der Teams selbst. Armory Sport Organisation stand im Kampf gegen Doping stets in vorderster Front und hat aktiv mit der französischen Anti-Doping-Agentur AFLD zusammengearbeitet.»
Ob er zumindest beim letzten Satz im Gesicht nicht doch leicht rot anlief, war im weiten Saal nicht auszumachen. Denn Jean Etienne Armory ist der Mann, der bei ASO 2008 als Direktor auf Patrice Clerc gefolgt war, der es mit dem Kampf gegen Doping wirklich ernst gemeint und deswegen den jetzt erst so gescholtenen Radsportweltverband (UCI) jahrelang bekriegt hatte. Bis sich die Besitzer von ASO plötzlich mit dem Weltradsportweltverband arrangierten und Patrice Clerc fast über Nacht in die Wüste schickten.
Dies passierte im Herbst 2008, just zu dem Zeitpunkt, als ein gewisser Lance Armstrong sein Comeback für die Tour de France 2009 ankündigte.
Alberto Contador kann nicht anders
Im Saal des Pariser Kongresspalastes sass bei der Tourpräsentation auch Alberto Contador, der nach Aberkennung des Toursiegs 2010 und nach seiner Dopingsperre nächstes Jahr wieder an den Start gehen wird. Ihm fiel nichts Besseres ein, als gleich in mehreren Interviews Lance Armstrong zu verteidigen. Lance, so wisperte Contador in die Mikrophone, sei schliesslich derjenige gewesen, der ihm Lust gemacht habe, Radrennfahrer zu werden. Was jetzt geschehe, sei sehr kompliziert, aber er, Contador, sei der Meinung, dass man Armstrong nicht genügend respektiere, ihn erniedrigt habe und dabei sei, ihn zu lynchen.
Damit trat Contador in die Fussstapfen seines Landsmanns und fünfmaligen Toursiegers Miguel Indurain, der Armstrong nach wie vor für unschuldig hält, oder des grossen Eddy Merckx, der dieser Tage über die früheren Teamgefährten Armstrongs mit krassen Worten hergezogen war und ihnen vorgeworfen hatte, erst jetzt ausgepackt zu haben mit Details über die langjährigen Dopingpraktiken des ehemaligen Radstars. Nicht zu vergessen der französische Ex-Profi und ONCE-Fahrer, Laurent Jalabert, seit Jahren Co-Kommentator des französischen Fernsehens bei der Tour de France. Für ihn bleibt Armstrong ein «grosser Champion».
Mit leeren Parolen gegen das Übel
Dies alles passte nicht unbedingt zum flammenden Anti-Doping-Aufruf Christian Prudhommes, bei dem man sich fragte, ob es nicht erneut ein Lippenbekenntnis war. Der Renndirektor der Tour mit dem Aussehen des idealen Schwiegersohns dröhnte am Mittwoch an die Adresse Radsportwelt: «Die Tour de France wird sich als stärker erweisen als das Doping, stärker als die Betrügereien, die auch auf andere Sportarten übergreifen. Das Doping ist der Feind! Beim bereits begonnenen Neuaufbau, der die gesamte Welt des Radsports erfassen muss, haben die Manager eine ganz wesentliche Rolle zu spielen. Sie geben die Richtung vor, und sie müssen im wahrsten Sinn des Wortes ein Schutzwall sein.»
Zugegebenermassen ist es nicht leicht für Prudhomme, die Jubiläumsausgabe der Tour de France zu organisieren, wenn der internationale Radsportverband UCI diesen Freitag auch noch beschlossen hat, dass es im Classement des Rennens, das Prudhomme veranstaltet, in den sieben Armstrong-Jahren jetzt offiziell keinen Sieger mehr geben wird. Wo bisher Armstrong stand, ist ein weisser Fleck. Doch eine andere Lösung gab es nicht. Unmöglich, einfach die Nächstplatzierten nachrücken zu lassen. Im Classement der Tour de France des Jahres 2000 etwa hätte man bis zum achten Platz hinabsteigen müssen, um einen Fahrer zu finden, der nie in eine Dopingaffäre verwickelt war.
Ein Neuanfang, aber wie?
Angesichts des Bebens im Radsport werden nicht nur in Frankreich Stimmen laut, die radikale Massnahmen und einen völligen Neubeginn fordern. Dazu gehört der wiederholte Aufruf, besonders heftig formuliert vom dreimaligen Tour-Sieger Greg LeMond, die gesamte UCI-Spitze und ihr Präsident Pat Mc Quaid sollten zurücktreten. Ein Manifest für eine grundlegende Reform des Radsports erschien in fünf europäischen Tages- und Sportzeitungen.
Wie schon nach der Festina-Affäre 1998 wird in Frankreich auch dieser Tage wieder die Frage gestellt, ob man für einen wirklichen Neubeginn im Radsport die Tour de France nicht mal zunächst für ein Jahr schlicht aussetzen sollte. Ob er daran schon mal gedacht habe, wurde Tour-Chef Prudhomme gefragt. «Nicht eine Sekunde, nicht eine Sekunde», lautete seine Antwort, die in dem vorgefertigten, plakativen Satz gipfelte: «Wenn es eine Definition der Tour de France gibt, dann lautet die: 3500 Kilometer Lächeln. Sie ist ein Ereignis, sie ist unser Kulturgut, man muss sie lieben und sie verteidigen.» Um dann noch hinzuzufügen: «Nur die zwei Weltkriege haben die Tour de France stoppen können. Das heisst: Damit es keine Tour de France mehr gibt, müsste es der Welt wirklich sehr schlecht gehen.»
Doch der Schock sitzt tief, das Erdbeben im Radsport geht mittlerweile weit über den Fall Armstrong hinaus. Marc Madiot, der Manager des französischen Teams «Francaise des Jeux», warnte diese Woche, wenn man im anstehenden Verfahren in Padua gegen den Dopingarzt Ferrari und ein ganzes Dopingnetzwerk sowie in der spanischen Blutdoping-Affäre Puerto jetzt nicht wirklich bis ans Ende gehe, werde der Radsport sich in kürzester Zeit wieder in derselben Situation befinden wie bisher.
Sarkozys Freund Armstrong
In Frankreich könnte Lance Armstrongs Sturz sogar noch einen politischen Skandal nach sich ziehen. Ex-Präsident Sarkzoy hat aus seiner Bewunderung für und aus seiner Nähe zu Armstrong nie einen Hehl gemacht. Der Präsident hatte unter anderem akzeptiert, den Texaner nach dessen Comeback 2009 im Elysee zu empfangen und eines der Rennräder des Herrn über das Peloton als Geschenk angenommen. Bei dieser Gelegenheit soll Armstrong den Kopf des Präsidenten der französischen Anti-Doping-Agentur, Pierre Bordry, gefordert haben. Und de facto hat er ihn auch bekommen. Der Anti-Dopingagentur wurden damals von einem Tag auf den anderen die Hälfte der Mittel gestrichen, Pierre Bordry trat zurück.
Der Betroffene, ein typischer hoher Beamter der alten Generation in der französischen Republik, sagte dazu letzte Woche: «Der Präsident der Republik ist frei zu tun, was er will. Ich war aber schon ein wenig erstaunt, als Armstrong nach einem Essen mit ihm erklärt hat, dass er vom Präsidenten der Republik meine Entlassung gefordert habe. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein französischer Sportler mit Präsident Obama speist und ihm sagt: Ich mache Sport in den USA und möchte, dass sie den Präsidenten der amerikanischen Anti-Doping-Agentur nach Hause schicken. Das Ganze stand so in der Presse und ist nie dementiert worden.»
Einige Jahre davor, bei Armstrongs siebtem Titelgewinn 2005, lagen am zweiten Ruhetag der Tour de France in Pau am Fusse der Pyrenäen aus Paris herbeorderte Spitzenbeamte des Rauschgiftdezernats und zwei Journalisten von Le Monde seit 6 Uhr früh auf der Lauer. Sie warteten vor Armstrongs Team-Hotel auf einen Mann mit einer blauen Kühltruhe, der Blutkonserven liefern sollte. Zehn Tage vorher war dieser Mann am ersten Ruhetag in den Alpen von den Dopingfahndern photographiert worden. Sie warteten stundenlang, bis die Beamten am Nachmittag von höchster Stelle einen Anruf und den für sie unverständlichen Befehl erhielten, die Aktion abzubrechen. Zu jener Zeit war Nicolas Sarkozy französischer Innenminister.