Im laufenden Jahr konnte die SP bei den kantonalen Wahlen ihre seit Längerem anhaltenden Verluste etwas stoppen. Mit Blick auf die vergangenen Jahrzehnte ist die SP aber deutlich schwächer geworden. Häufig wird als Erklärung dafür moniert, dass sich die SP von ihrer traditionellen Kernwählerschaft, der Arbeiterschaft, entfremdet habe und zur Lifestyle-Linken geworden sei.
Dieses Narrativ hat die Politologin Silja Häusermann schon mehrfach kritisiert. Ende letzten Jahres hat sie eine Studie vorgelegt, die sie zusammen mit dem Politologen Tarik Abou-Chadi und einem fünfköpfigen Team verfasst hat. Darin werden die Veränderungen geschildert, welche die SP in den vergangenen Jahrzehnten durchlaufen hat, und es wird der aktuelle Zustand der SP erklärt. Immer wieder wird auch ein vergleichender Blick auf die anderen Parteien in der Schweiz und auf die Sozialdemokratischen Parteien in Europa geworfen.
Mit diesem Buch zeigt Silja Häusermann, Professorin an der Universität Zürich, erneut, dass sie zu den Bemerkenswertesten ihres Fachs gehört, nicht zuletzt deshalb, weil sie es regelmässig schafft, relevante Forschungsergebnisse der Öffentlichkeit verständlich zu kommunizieren.
Gesellschaftlicher Strukturwandel
Silja Häusermann blendet für ihre Analyse über fünfzig Jahren zurück in die Zeit, als die westliche Welt einen Strukturwandel von der industriellen zur postindustriellen Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft durchgemacht hat. Dieser Prozess führte zu einer starken Bildungsexpansion und brachte unter anderem eine neue, gut ausgebildete Mittelschicht hervor. Diese wurde auf politischer Ebene zur Basis für die neuen sozialen Bewegungen, welche sich für «neue Werte» wie kulturelle Offenheit, gesellschaftliche Liberalisierung, Lebensqualität, Gleichstellung oder nachhaltige Lebensweise einsetzten. Im Wechselspiel mit diesen sozialen Bewegungen formierten sich in den frühen Achtzigerjahren auch die Grünen als Partei.
Der gesellschaftliche Strukturwandel betraf alle Parteien, am stärksten jedoch die SP. Ihr kam nämlich die traditionelle Basis, die industrielle Arbeiterschaft, zunehmend abhanden. In der Schweiz reagierte die SP früh darauf, indem sie sich schon ab den Achtzigerjahren den neuen Mittelschichten zuwandte. Damit begann die SP im selben Teich wie die Grünen zu fischen und trat so zu diesen in Konkurrenz.
Neue gesellschaftliche Konfliktdimension
Gegen die Ausbreitung der «neuen Werte» bis in die gesellschaftliche Mitte hinein formierte sich alsbald heftige Opposition. In der Schweiz war dies vorerst die Autopartei, welche explizit antiökologische Positionen vertrat. In den Neunzigerjahren ging diese in der SVP auf, welche sich unter Führung von Christoph Blocher neu positionierte. Blocher hatte bereits in den Achtzigerjahren die Gleichstellung der Geschlechter bekämpft (neues Eherecht!); seit den Neunzigerjahren kämpft die SVP – wie die anderen nationalkonservativen Parteien in Europa – gegen den kulturellen Liberalismus, gegen die Gleichstellung der Frauen oder der sexuellen Minderheiten und macht sich für nationale Souveränität und für die Erhaltung der konservativen Werte stark.
Aus dieser Auseinandersetzung zwischen SP/Grünen und der nationalkonservativen SVP entstand eine neue politische Konfliktdimension, die gesellschaftspolitische «Universalismus-Partikularismus-Dimension», wie sie in der Politologie genannt wird. Die traditionelle verteilungspolitische Konfliktdimension («Links-rechts» bzw. «Staat-Markt») blieb zwar bestehen, verlor aber teilweise an Prägekraft.
Die Verschiebung zu den Mittelschichten führte bei der SP jedoch nicht, wie man hätte annehmen können, zu einem Rechtsrutsch in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen. Auch wenn die SP keine Arbeiterpartei mehr ist, hat sie sich programmatisch nicht von den traditionellen Forderungen nach sozialem Ausgleich verabschiedet. Sie versteht sich weiterhin als linke und soziale Partei. Neu vertritt sie – und mindestens gleichermassen dezidiert – gesellschaftspolitisch progressive Positionen. Die Transformation der SP ging also mit einer programmatischen Erweiterung einher.
Dank der frühen Neupositionierung in der erwähnten gesellschaftspolitischen Konfliktdimension konnte die SP in der Schweiz die Verluste ihrer Wähleranteile in Grenzen halten, anders als andere sozialdemokratische Parteien in Europa, welche teilweise fast pulverisiert wurden. Dank den Grünen ist das linke Lager in der Schweiz insgesamt sogar etwas stärker geworden. Silja Häusermann spricht denn auch zurecht nicht vom Niedergang der Linken in der Schweiz, sondern von der Ausdifferenzierung des linken Lagers.
Kaum Abwanderung zur SVP
Zum fundamentalen Wandel der Wählerschaft der SP, namentlich zum starken Rückgang der traditionellen sozialdemokratischen Kernwählerschaft unterstreicht Silja Häusermann mehrfach, auch unter Berufung auf andere politologische Studien, dass es kaum Abwanderungen von der SP zur SVP gegeben habe. «Das oft bemühte Narrativ, dass die SP ihre Wähler:innen primär an die rechtsnationale SVP verloren hätte, (findet) keine empirische Bestätigung» (S. 66). Deutlich stärker als der Wechsel von der SP zur SVP sei der Schritt der Arbeiter:innen in die politische Abstinenz. Zudem sei die Zahl der Arbeiter:innen infolge der Deindustrialisierung stark zurückgegangen.
Ein Blick auf ehemalige SP-Hochburgen wie zum Beispiel Bern-Bümpliz, in denen die SP in den Achtzigerjahren einbrach und zuerst die Schweizer Demokraten und die Autopartei stark zulegten und darauf die SVP punktete, lässt allerdings vermuten, dass es in der frühen Zeit durchaus eine gewisse Abwanderung zu den kleinen Rechtsparteien bzw. der SVP gegeben haben dürfte. Ab den Neunzigerjahren aber – erst für diese liegen solide Umfragedaten vor – dürfte eine solche Abwanderung jedoch marginal geworden sein.
Altlinks und neulinks
Nach der Neupositionierung der SP sind unter ihren Wählerinnen und Wählern die gut ausgebildeten neuen Mittelschichten besonders stark vertreten, vor allem diejenigen, die in hoch qualifizierten personenbezogenen Dienstleitungsberufen tätig sind. Sie haben zu einer «Akademisierung» der SP-Wählerschaft beigetragen und unterstützen eine neulinke Strategie, welche gesellschaftspolitisch progressiv und verteilungspolitisch links ist. Neben diesen gibt es noch SP-Wählende mit niedriger Ausbildung. Diese folgen mehrheitlich einer altlinken Strategie und positionieren sich verteilungspolitisch deutlich links; gesellschaftspolitisch sind sie eher moderat.
Silja Häusermann zeigt überzeugend, dass es der SP bisher gut gelungen ist, diese beiden Strömungen zusammenzuhalten: Altlinke wie neulinke programmatische Angebote stossen bei der SP-Wählerschaft auf positive Resonanz. Gut ausgebildete SP-Wählende werden von den Umverteilungsvorschlägen genauso wenig abgestossen wie weniger gut ausgebildete SP-Wählende von der progressiven Gesellschaftspolitik.
Gar nichts hält Silja Häusermann dagegen von den anderen Strategien, welche einige Linksparteien eingeschlagen haben, der zentristischen und der linksnationalen Strategie. Zur zentristischen Strategie – häufig mit der «New Labour»- und der «Dritten-Weg»-Strategie verbunden – hält sie fest, dass sie sich nicht ausgezahlt habe. Dass die SP in der Schweiz nie eine solche Ausrichtung verfolgt habe, sei ihr zu Gute gekommen. Sie habe damit Profil und Glaubwürdigkeit auf den beiden zentralen Konfliktdimensionen bewahren können. Ihre klare Positionierung – verteilungspolitisch links und gesellschaftspolitisch progressiv – ist denn nach Silja Häusermann auch der Hauptgrund, weshalb die SP gewählt wird, wobei die gesellschaftspolitische Position eine etwas wichtigere Rolle spielt als die verteilungspolitische.
Im Vergleich zu den anderen sozialdemokratischen Parteien in Europa steht die SP in der Schweiz weiter links und sie ist progressiver. Sie vertritt dezidiert progressive Einstellungen in den Themen Migration, Gleichstellung, internationaler Integration und Minderheitenrechte. Diese Position nehmen in anderen europäischen Ländern häufig die Grünen ein.
Rotgrüne Wahlbasis
SP und Grüne stehen sich in der Schweiz näher als in anderen europäischen Ländern. Dementsprechend gleichen sich hier auch ihre Wählenden: Sie wohnen vornehmlich in den Städten, haben grossmehrheitlich eine überdurchschnittlich hohe Ausbildung, gehören zur neuen lohnabhängigen Mittelschicht und sind als Fachkräfte vor allem in den Bereichen Erziehung, Soziales, Gesundheit, Bildung oder Kultur tätig. In der Politologie werden sie auch soziokulturelle Spezialist:innen genannt. Die einstige Unterstützung der SP durch die Arbeiterschaft ist dagegen im Laufe der Zeit stark gesunken. Weniger Arbeiter und Arbeiterinnen unter ihren Wählenden als die SP haben nur noch die Grünen und die Grünliberalen, mehr dagegen die CVP (Mitte) und die SVP.
Die grosse Ähnlichkeit der Wählerschaft der SP und der Grünen zeigt sich auch darin, dass sich siebzig Prozent der Grün-Wählenden vorstellen können, die SP zu wählen – und umgekehrt. Hinsichtlich der Grünliberalen sind die entsprechenden Werte etwas niedriger (vierzig bzw. fünfzig Prozent), während sich unter der Wählerschaft der CVP, der FDP und vor allem der SVP nur wenige vorstellen könnten, die SP zu wählen.
Das gemeinsame Wahl-Potenzial von SP und Grünen zeigt sich konkret auch in den Wählerwanderungen zwischen SP und den Grünen, welche seit den Achtzigerjahren immer wieder festgestellt werden. Bei den Nationalratswahlen 2019 hatte so etwa gut jede dritte Person, die 2015 noch SP gewählt hatte, ihre Stimme den Grünen gegeben. Mit Blick auf mehrere zurückliegende Wahlen stellt Silja Häusermann fest, dass die SP mehr Wählende an die Grünen – und, etwas weniger, an die Grünliberalen – abgegeben habe, als sie von diesen erhalten habe.
Überalterte SP
Es gibt auch Unterschiede zwischen SP und Grünen. Zwar werden beide Parteien von mehr Frauen gewählt, bei den Grünen ist der Frauenanteil jedoch grösser. Markant ist der Unterschied beim Alter der Wählenden. Wie bei den anderen sozialdemokratischen Parteien Europas sind die SP-Wählenden in der Schweiz im Durchschnitt stark älter geworden. Die SP leidet darunter, dass sie bei den Jungen nur schwach zu mobilisieren vermag. Von dieser Schwäche profitieren die Grünen.
SP und Grüne unterscheiden sich schliesslich auch durch die ihnen je zugeschriebenen Themenkompetenzen. Stark zu Gunsten der SP wirkt ihre Kompetenz in der Sozialpolitik und der Europapolitik sowie in Fragen der Migration, der Frauenrechte und, etwas weniger, des kulturellen Liberalismus. Demgegenüber werden die Grünen hauptsächlich wegen ihrer Kompetenz im Umweltbereich gewählt sowie wegen ihrer gesellschaftspolitisch progressiven Positionen.
Programmatische Breite beibehalten
Hinsichtlich der von der SP in der kommenden Zeit zu bewältigenden Herausforderungen unterstreicht Silja Häusermann, dass die SP ihre thematische Breite – verteilungspolitisch links und gesellschaftspolitisch progressiv – beibehalten müsse; dies sei eine erfolgsversprechende Kombination. Die SP muss also, mit den gut gebildeten Mittelschichten als Kernwählerschaft, stets den Beweis antreten, dass sie auch den sozialen Ausgleich anstrebt, und mit Stimmen der Mittelschicht auch eine Politik für die benachteiligten sozialen Schicht machen. Dabei gelte es ferner, neue Formen des Prekariats und der Ausgrenzung im Auge zu behalten und in der Politik zu berücksichtigen.
Das Buch von Silja Häusermann, zusammen mit dem Politologen Tarik Abou-Chadi und einem fünfköpfigen Team verfasst, beinhaltet eine Fülle von historischen und aktuellen sowie international vergleichenden Informationen und Analysen. Diese werden sehr lesefreundlich präsentiert. Leider fehlen – das einzige b-moll – in vielen Grafiken die Zahlen. Das Buch enthält zudem viele nützliche Verweise und Zusammenfassungen, sodass die Kapitel auch einzeln gelesen werden können. Mit ihrer detaillierten Darstellung der Veränderung der SP gibt das Buch auch eine gute Einführung in die Begrifflichkeit und die Konzepte der aktuellen Partei- und Wahlforschung in der Schweiz.
*Häusermann, Silja & Tarik Abou-Chadi, Reto Bürgisser, Matthias Enggist, Reto Mitteregger, Nadja Mosimann, Delia Zollinger: Wählerschaft und Perspektiven der Sozialdemokratie in der Schweiz. Basel: NZZ Libro, 2022. 248 Seiten. CHF 34.00
ISBN 978-3-907291-79-5
Zur Ausdifferenzierung der Parteienlandschaft in der Schweiz siehe auch
https://www.journal21.ch/artikel/statt-einer-prognose-ein-blick-zurueck