Manche Zeitgenossen glauben, die Crux des Islam bestehe darin, dass er nicht, wie der westliche Kulturkreis, eine Aufklärung durchlaufen habe. Ganz abgesehen davon, dass sich die einzelnen Kulturen, glücklicherweise, nicht parallel in gleichförmigen Phasen entwickeln, ist dieses Zeugnis des mangelnden Willens, die Welt anders zu sehen als durch die eigene Brille, zumindest ergänzungsbedürftig.
Kritisch-historische Neuinterpretation
Tatsächlich hat es bereits im 19.Jahrhundert Versuche gegeben, eine von vielen muslimischen Denkern empfundene mentale Stagnation in der islamischen Welt aufzubrechen. Nun haben Imad Mustafa und Helga Baumgarten Bücher vorgelegt, die Klarheit in die oft diffuse Diskussion bringen. Imad Mustafa – Deutscher palästinensischer Herkunft, der Politologie, Orientalistik und Soziologie studierte – stellt in seinem Buch „Der politische Islam“ islamische Denker des 19. und 20. Jahrhunderts vor und befasst sich mit Gruppen wie Hamas und Hisbollah. Helga Baumgarten, Deutsche, seit 1993 Professorin für Politikwissenschaften an der Bir Zait Universität bei Ramallah, hat in ihrem Buch „Kampf um Palästina“ die palästinensischen Organisationen Hamas und Fatah beschrieben.
Charakteristisch für die frühen islamischen Reformdenker war, dass sie sich an den Ursprüngen des Islam, der Salafiya, orientierten. Im Unterschied zu den heutigen radikalen Salafisten plädierten sie für eine „kritisch-historische Neuinterpretation“ des Islam, wie Imad Mustafa schreibt, um so „die nötige Flexibilität für die Entwicklung der Moderne zu erhalten“.
Glaube und Vernunft
Dschamal al-Din al-Afghani (1839 bis 1897) etwa sah zwar die Überlegenheit des Westens, warnte aber davor, diesen Westen blind nachzuahmen. Al-Afghani setzte sich dafür ein, den Koran dort neu zu interpretieren, „wo er offensichtlich gegen Vernunft oder wissenschaftliche Erkenntnisse“ verstoße. Für al-Afghani war der Islam auch ein Rahmen „für eine menschliche Zivilisation, deren Maximen sozialer Fortschritt, individuelle Entwicklung, der Glaube an die Vernunft, Einheit und Solidarität“ seien.
An al-Afghani knüpfte der Ägypter Mohammed Abdu (1849 bis 1905) an. Abdu wandte sich vehement gegen den Taqlid, die unkritische Übernahme islamischer Doktrinen der Vergangenheit. Dagegen förderte er, wie al-Afghani, den Idschtihad, die, wo notwendig, Neuinterpretation der aus alter Zeit überkommenden Doktrinen.
Das nationale Element
Ganz andere Konsequenzen aus der Konfrontation mit dem Westen und mit einer westlichen Kolonialmacht wie Großbritannien zogen die Ägypter Hassan al-Banna (1906 bis 1949) und Sayyid Qutb (1906 bis 1966). Hassan al-Banna gründete 1928 die Muslimbruderschaft, forderte völlige Unabhängigkeit der islamischen Welt vom westlichen Kolonialismus durch Rückkehr zum einfachen, muslimischen Leben nach den Regeln des Koran. Sayyid Qutb, den Gamal Abdel Nasser im Gefängnis hinrichten ließ, forderte dazu auf, die Macht, die weltliche Usurpatoren wie Ägyptens Präsident Nasser Gott entrissen hätten, Gott zurückzugeben.
Ging es bei den frühen Reformdenkern um die Stellung der gesamten muslimischen Welt und um ihre Erneuerung, so kommt bei den oft pauschal als „Terrororganisationen“ bezeichneten Gruppen wie der (schiitischen) Hisbollah in Libanon und der palästinensischen Hamas ein nationales Element hinzu. Auf dieses wichtige Charakteristikum weisen sowohl Imad Musfstafa als auch Helga Baumgarten hin.
Insofern führt keine direkte Linie von Al-Afghani und Mohammed Abdu zu Hassan Nasrallah und dem von Israel ermordeten Hamas-Gründer Scheich Jassin. Allerdings vertreten diese Gruppen, wie schon einst al-Afghani und Mohammed Abdu, die Ansicht, Muslime sollten sich auf ihre eigenen Wurzeln besinnen und ihr eigenes Lebensmodell entwickeln – auf der Grundlage des Koran.
„Islamische Widerstandsorganisation“
Aktuell aber überwiegt der – islamisch motivierte – Widerstand gegen Israel. Helga Baumgarten schreibt, dass Palästina für die palästinensischen Muslimbrüder (aus denen die Hamas entstanden ist) die „erste Verteidigungslinie“ der arabischen Länder gegen westlichen Kolonialismus gewesen sei. Denn für die palästinensischen Muslimbrüder (ebenso wie für die libanesische Hisbollah) sei der jüdische Staat „ein Stützpunkt für den westlichen Imperialismus, der die arabische Welt bedrohen“ werde. Der Hamas-Ideologie nach ist Palästina eine Schenkung Gottes, Allahs, an die Muslime. Daher versteht sich die Hamas als „Islamische Widerstandsorganisation“ gegen die israelische Okkupation.
Die Hisbollah entstand nach dem ersten israelischen Vorstoß in den Süden Libanons 1978 und wurde zur national-schiitischen Opposition gegen Israel. Entscheidenden Auftrieb bekam sie nach der Revolution des Ayatollah Chomeini in Iran. Angesichts des Konfliktes mit Israel haben sich Hisbollah wie Hamas auch zu politischen Gruppen entwickelt. Die Hisbollah fordert einerseits eine schiitische Revolution in Libanon (sagt aber, letztlich hätten darüber alle Libanesen selbst zu entscheiden). Andererseits sieht sie sich als Teil einer „übernationalen Gemeinschaft der Gläubigen“.
Umma und Parlament
Ähnliches gilt für die Hamas. In ihrer Satzung wird die Beseitigung Israels gefordert, in der praktischen Politik hat sich aber die Hamas auf das Ziel festgelegt, die israelische Besatzung des Westjordanlandes zu beenden. Beide Gruppen setzen zur Durchsetzung ihrer Ziele auch auf Gewalt.
Folgt man den Ausführungen von Helga Baumgarten und den von ihr zitierten Quellen, dann hat es, etwa in der zweiten Intifada (2000 bis etwa 2003) auch von Seiten Israels heftige Gewalt gegeben. Helga Baumgarten zitiert den israelischen Politologen Menachem Klein. Klein schreibt, im Sommer des Jahres 2000 habe Ehud Barak (damals Premierminister) beschlossen, die Intifada mit allen Mitteln zu beenden. Zu den Einsatzplänen habe der „massive Einsatz von Heckenschützen durch die Armee“ gehört. Dieser Einsatz habe zu vielen Toten auf Seiten der Palästinenser geführt.
Imad Mustafa behandelt auch das Aufkommen der neo-salafistischen Al-Nur-Partei in Ägypten. Sie strebe, schreibt er, keinen religiösen Staat an, wohl aber einen Staat, der die islamische Gemeinschaft, die Umma, nicht verleugne, gleichzeitig aber ein gewähltes Parlament und einen gewählten Präsidenten habe.
Friedensprozess ohne Frieden
Imad Mustafa schreibt weiter, der in der Hamas-Satzung zu findende Antisemitismus basiere ausschließlich auf dem Konflikt mit Israel. Keineswegs vertrete die Hamas einen religiös motivierten Antisemitismus, wie er über Jahrhunderte im Westen bestanden habe. Helga Baumgarten erwähnt, dass manche Einwohner Gazas, wo die Hamas seit Jahren herrscht, die Erfahrung gemacht hätten, seit der Machtübernahme der Islamisten seien diese mehr am Geldverdienen als am Beten und an einem muslimisch motivierten Leben interessiert.
Übrigens: Die von Jassir Arafat einst gegründete, von Helga Baumgarten ausführlich beschriebene Fatah, welche in Teilen des Westjordanlandes unter israelischer Kuratel zu regieren versucht, ist eine durch und durch säkulare Organisation. Frei von jedweder islamistischen Ideologie fordert die Fatah die Befreiung der von Israel 1967 besetzten Gebiete. Ohne Erfolg, wie Helga Baumgarten resignierend schreibt. Denn der 1993 in Oslo als „Friedensprozess“ zur Lösung des Problems begonnene Weg sei als „Prozess ohne Frieden“ in langen, letztlich nutzlosen Verhandlungsrunden weitergeführt worden.
Imad Mustafa: Der politische Islam. Zwischen Muslimbrüdern, Hamas und Hizbollah. Promedia-Verlag, Wien 2013. 230 Seiten, 17,90 Euro.
Helga Baumgarten: Kampf um Palästina. Was wollen Hamas und Fatah? Herder-Verlag, Freiburg 2013. 223 Seiten
Quelle: Süddeutsche Zeitung vom 8. Juli 2014