Für die neue Gesamtdarstellung der Schweizer Geschichte hatte der Schwabe Verlag drei Probleme zu lösen. Als erstes musste er sich für die Art der Darstellung entscheiden. So lassen sich die Ereignisse hintereinander erzählen, aber es besteht auch die Möglichkeit, die Einflüsse, die auf sie gewirkt haben, ebenfalls sichtbar zu machen. Diese gesellschafts- und sozialgeschichtliche Sichtweise hat sich in den letzten Jahrzehnten in der Geschichtsschreibung etabliert. Daher entschlossen sich die Fachleute, neben die Epochendarstellungen entsprechende Querschnittsthemen zu stellen.
Anregende Lektüre
Das zweite Problem besteht in der Bewertung und Gewichtung von Ereignissen. Das ist politisch brisant. So kann die Schweizer Neutralität während des Zweiten Weltkriegs letztlich nicht neutral dargestellt werden. Denn es gibt unterschiedliche Sichtweisen auf die damaligen Entscheidungen. Kritiker sehen die Schweiz zu dicht bei Deutschland, andere möchten von einem Fehlverhalten nichts wissen. Hier gilt es, aus dem historischen Abstand heraus begründete Urteile zu fällen.
Und es gibt die Frage der Präsentation. Das Buch kann auf ein Fachpublikum ausgerichtet sein oder auch diejenigen einbeziehen, die mehr allgemein interessiert sind. Der Verlag hat sich in dieser Frage dazu entschlossen, nicht nur die Darstellungen allgemein verständlich zu halten, sondern auch mit Illustrationen, Infoboxen und herausgestellten Zitaten dafür zu sorgen, dass auch der Laie in diesem Band nicht nur informiert, sondern immer wieder auch angeregt und sogar unterhalten wird.
Der Puls der Zeit
Von der Urgeschichte bis in die neuesten Tage ziehen sich die Darstellungen, die von unterschiedlichen Autorinnen und Autoren verfasst worden sind. Unter der Leitung des Basler Historikers Georg Kreis hat sich das Autorenteam auf einige Standards geeinigt, so dass die Beiträge nicht zu uneinheitlich sind. Doch spürt man die unterschiedlichen Handschriften, und das macht das ganze Werk sehr lebendig.
Überhaupt wurde darauf geachtet, dicht am Puls der jeweiligen Zeit zu sein. So ist das Kapitel, in dem Irène Herrmann das Entstehen der Schweiz als Nation behandelt, überschrieben: „Zwischen Angst und Hoffnung. Eine Nation entsteht (1798- 1848)“. Ähnlich sind andere Kapitel angelegt, und gerade aus heutiger Sicht ist es geradezu frappierend, wie schwer sich die Schweizer getan haben, sich zu einem übergeordneten Gemeinwesen zusammenzuschliessen. Ohne den Eingriff Napoleons wäre das wohl kaum gelungen.
Zerstrittene Eidgenossen
Überhaupt kommt in den 11 Epochenkapiteln zum Ausdruck, wie prekär das Leben der Schweizer immer wieder war. Das Klima machte ihnen zu schaffen, es gab Hungersnöte, und die Kriege der umliegenden Länder, an denen Schweizer häufig als Söldner teilnahmen und sich oft in verfeindeten fremden Heeren gegenüberstanden, sorgten immer wieder aufs Neue für elende Lebensbedingungen.
Probleme des Bevölkerungswachstums, der Industrialisierung und des wirtschaftlichen Wandels führten regelmässig zu Revolten, Aufständen und bewaffneten Konflikten. Aus heutiger Sicht ist es erstaunlich, wie schwer es den Eidgenossen fiel, sich auf gemeinsame Nenner zu einigen. Regionale Besonderheiten, Brauchtum und Traditionen sowie die Suche nach dem eigenen materiellen Vorteil Einzelner oder kleinster Gruppen schwächten die Schweiz gegenüber den umliegenden Ländern.
Die "Fensterbeiträge"
In die 11 Epochenkapitel sind 22 „thematische Fensterbeiträge“ eingefügt. Diese Fensterbeiträge behandeln Themen wie „Die Archäologie und die mythischen Ahnen der Schweiz“, „Bevölkerung und demographische Entwicklung“, „Familien und Verwandtschaft“, „Neutralität und Neutralitäten“, „Die Schweizer Armee 1803-2011“, „Alpen, Tourismus, Fremdenverkehr“ oder „Die Geschichte des Frauenstimm- und – Wahlrechts: Ein Misserfolgsnarrativ“.
Und immer wieder finden sich eingestreut Kästen, in denen Themen wie „Wilhelm Tell“, „Der Gotthardpass“, „Das neue Hexenbild“ oder auch die „Geistige Landesverteidigung“ behandelt werden. Gerade hier wird man mit schönen Aha-Erlebnissen belohnt, denn in ihrer Kürze liegt die kenntnisreiche Würze. Der Band verfügt über ein Glossar, über „eine Chronologie zur Schweizer Geschichte“ und ein Orts- und Personenregister. Aber ein Sachregister fehlt. Das ist fatal.
Fehlendes Sachregister
Denn das Fehlen des Sachregisters hat geradezu absurde Konsequenzen. Möchte man zum Beispiel etwas über den "Schweizer Franken" wissen, wird man im Inhaltsverzeichnis nichts finden. Aber es gibt einige erhellende Sätze über den "Schweizer Franken", und zwar in dem Kapitel „Neuer Staat - neue Gesellschaft. Bundesrat und Industrialisierung (1848 – 1914)“ von Regina Wecker. Mit einem Sachregister hätte man das ebenso einfach und schnell gefunden wie die Bemerkungen zur "Fichenaffäre", dem Thema "Raubgold" oder zum "Grounding der Swissair" an anderer Stelle, nämlich in den vorzüglichen Beiträgen von Sacha Zala, „Krisen, Konfrontation, Konsens (1914 – 1949) und von Georg Kreis, „Viel Zukunft - erodierende Gemeinsamkeit. Die Entwicklung nach 1943“.
In Bezug auf das Verhalten der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, der Nachkriegspolitik gegenüber den Vereinten Nationen und der Unfähigkeit, das Thema des Raubgoldes und der so genannten nachrichtenlosen Vermögen auf eine anständige Weise zu regeln, hat es in den letzten beiden Jahrzehnten kritische und hämische Kommentare auch seitens inländischer Autoren gegeben. Gerade deswegen liest man den Beitrag von Sacha Zala mit besonderer Aufmerksamkeit. Es ist geradezu wohltuend, wie sachlich und klar der Autor das Fehlverhalten der Schweiz benennt, ohne deswegen in einen polemischen Stil zu verfallen.
Die Neutralität
Das Thema der Neutralität, wie Georg Kreis es darlegt, hat bereits für eine gewisse Aufregung gesorgt. Seine geschichtliche Einordnung dieses Phänomens und seine Feststellung, dass es eine absolute Neutralität nicht gibt, sondern diese immer auch durch die historisch-politischen Rahmenbedingungen mit beeinflusst und definiert wird, wurde dabei als Relativierung dieses Prinzips missverstanden.
Das Schweizer Militär stand im Zeichen der politischen Neutralität von seinen Anfängen bis zur Gegenwart vor dem Problem, ein kleines Land mit begrenzten Ressourcen ohne die Optionen von Bündnissen gegenüber potentiellen Gegnern zu verteidigen, die über unendlich überlegene Potentiale verfügen. Welche Zerreissproben damit verbunden waren und welche Probleme bis heute ungelöst sind, wird von Rudolf Jaun ebenfalls klar und sachlich dargestellt.
Produktive Auseinandersetzung
Mit seinen knapp 650 Seiten ist die „Geschichte der Schweiz“ ein im wahrsten Sinne des Wortes gewichtiges Werk. Der Verlag sieht es in der Nachfolge des 1986 erschienenen Bandes: „Geschichte der Schweiz und der Schweizer“. Man spürt, dass es in einer produktiven Auseinandersetzung mit den damaligen Ansätzen und Methoden entstanden ist. Darüber hinaus lässt sich sagen: „Die Geschichte der Schweiz“ beruht auf solider Forschung und aktuellsten Erkenntnissen, lässt sich hervorragend lesen und besticht durch die anregende und reizvolle Gestaltung.
Georg Kreis (Hrsg.), Die Geschichte der Schweiz, Schwabe Verlag Basel 2014, 645 Seiten