Henning Ritter, der in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Seite „Geisteswissenschaften“ aufgebaut und sich weit darüber hinaus mit seinen Beiträgen zur Kultur hohes Ansehen erworben hat, deutet die Nachtseite neu. Dabei spannt er einen Bogen von der Französischen Revolution bis zur Evolutionstheorie.
Der Motor des Grauens
Warum schlug die Revolution der Tugend in die des Terrors um? Eben weil sie eine Revolution der Tugend war. Das ist eine bittere Pointe. Es war ja kein blosses Ressentiment, das gegen den Adel mobil machte, sondern es war die Vernunft, die Vernunft der Aufklärung. Es galt, die Gesellschaft rational zu ordnen. Die Reinheit der Vernunft sollte die Gesellschaft reinigen und ihr das neue Gepräge geben, wurde aber „zum Motor des Grauens“.
Diese Geschichte wird immer wieder so gedeutet, dass Tugend dann zum Terror wird, wenn eine Gruppe meint, dass zur Durchsetzung der neuen auf Vernunft gegründeten Ordnung alles erlaubt sei. Exemplarisch dafür steht Maximilien Robespierre, der es geschafft hatte, sich als den wahren Vollstrecker der „volonté générale“, des Volkswillens, zu etablieren.
Schlechte Oper
Der Umschlag in den Terror ist damit aber noch nicht verstanden. Was stimmt denn nicht an der Vernunft, dass sie in einem Terror mündet, der genau das Gegenteil von dem darstellt, was ursprünglich beabsichtigt gewesen war? An dieser Frage wurden damals schon die besten Köpfe irre. Also darf man nicht erwarten, dass die Antwort simpel ist.
Die Antwort, die Henning Ritter gibt, ist auf den ersten Blick verblüffend. Die Schwäche und damit die Gefahr der Vernunft bestehe darin, dass sie keine Leidenschaft entfache. Ritter beschreibt dieses merkwürdige Phänomen an dem Versuch, für die Vernunft einen neuen Kult zu entwickeln und am 10. November 1793 eine „Göttin“ der Vernunft einzusetzen. Dieser Versuch überzeugt nicht. Ritter: „Gewollt war eine Religion, was herauskam, war schlechte Oper.“
Jene, die die Bücher führen
Was übrig bleibt, ist Geschäftsmässigkeit. Im Namen der Vernunft wird ohne Skrupel verhaftet und getötet. Stendhal hat diesen Vorgang auf die Formel „Grausamkeit ohne Grausamkeit“ gebracht. Und der erste grosse Historiker der Französischen Revolution, Jules Michelet, formulierte: „Le vrai roi modern: le scribe.“ Jene also, die die Bücher führen und Todeslisten erstellen, sind zu den wahren Herrschern geworden.
Robespierre wiederum konnte deswegen absolut herrschen, weil er immer wieder betonte, nichts anderes zu tun, als den Willen des Volkes zu vollstrecken, also die „volonté générale“ ganz nach den Vorstellungen Jean-Jacques Rousseaus, den er verehrte wie keinen Zweiten.
Die Gnadenlosigkeit dieser Vernunft mit ihren Massakern und Gewaltexzessen hat auch Anhänger der Revolution zutiefst verstört. Das wichtigste Symbol dafür, dass etwas vollkommen falsch lief, war die Hinrichtung Ludwigs XVI. und seiner Familie. „Die Hinrichtung Ludwigs XVI. und die Leiden der königlichen Familie waren eine Herausforderung für jede Darstellung der Revolution.“ Auch Jules Michelet hatte damit grosse Probleme. Denn er lehnte die Revolution nicht ab. Wie aber passte diese Tat zu ihr?
Fehlendes Mitleid
Michelet gab eine Antwort: Den Revolutionären fehle es an Mitleid. Sie sähen nur ihre Prinzipien, nicht aber das Leid des Menschen. Daher könnten sie ihrem eigenen Tun nicht Einhalt gebieten. Und er zitiert einen Abgeordneten, der während eines Konvents in Notre-Dame warnend rief: "Seht ihr denn nicht, dass diejenigen, die man verfolgt, weil sie aus Schwäche gefehlt haben, keinesfalls Feinde der Revolution sind? Wisst ihr, was ihr anrichtet?"
Eine weitere Deutung stammt vom liberalen Theoretiker Benjamin Constant. Ihm fiel auf, dass sich der Freiheitsbegriff, den die Revolutionäre in Anlehnung an Rousseau gebrauchten, aus der griechischen Polis ableitete. Freiheit bedeutete in der Polis, dass die Freien – im Gegensatz zu den Sklaven – am Geschick ihrer Stadt mitwirken konnten. Das aber, so Constant, ist nicht das, was die Menschen im revolutionären Frankreich wollten.
Bewaffnete Egoisten
Der moderne Mensch versteht unter Freiheit das Recht, zu tun und zu lassen, was er möchte. Es gilt „der Vorrang des Privaten“. Die moderne Freiheit „ist nicht mit aktiver Teilhabe am politischen Leben verbunden und schafft keinen politischen Zusammenhalt.“ Damit entfallen alle Grenzen und Hemmungen. Zwingt man den modernen Menschen in seiner „Haltlosigkeit“ zum öffentlichen Engagement, kommt Terror heraus.
Der wird noch dadurch gesteigert, dass das moderne Individuum in erster Linie seinem Vergnügen nachstrebt. Gerade deswegen würden die Kriege immer grausamer. Das moderne Heer, wie man es in den napoleonischen Kriegen kennengelernt hatte, bestehe „aus vierhunderttausend bewaffneten Egoisten“, notierte Benjamin Constant
Der Weg Amerikas
Parallel zur Französischen Revolution fand ein anderes Unternehmen radikaler Erneuerung statt: Amerika. „Die Vereinigten Staaten von Amerika zeigten, was aus einer Demokratie werden konnte, wenn sie sich ungehindert und ohne Widerstände entwickelte.“ Ein ehemaliger Adliger, Alexis de Tocqueville, bereiste 1831 zusammen mit Gustave de Beaument das Land, um zu verstehen, was dort geschah. Seine Berichte und Analysen sind bis heute ein Glücksfall der politischen Literatur.
Henning Ritter konzentriert sich vor dem Hintergrund der Französischen Revolution auf die Frage, wie Tocqueville das Prinzip der Gleichheit im Verhältnis zu den Indianern und den Sklaven analysiert. Hellsichtig hat Tocqueville prophezeit, dass nach Abschaffung der Sklaverei die Ressentiments und der Rassenhass anwachsen werden. Und in Bezug auf die Indianer bemerkte er, dass die Amerikaner ständig Gesetze und Verordnungen erliessen, die es ihnen erlaubten, „ganz legal“ und mit entsprechend gutem Gewissen das Land der Indianer zu okkupieren und sie dabei weitgehend auszurotten.
Mitleid als ethisches Prinzip
Denn es gab auch in Amerika ein Phänomen, das der ehemalige Adlige schon aus seiner Heimat kannte: Menschen anderer Schichten, seien es nun Bedienstete oder Indianer, wurden nicht als gleichwertige Menschen angesehen. So konnte das Paradox entstehen, dass man einerseits für Gleichheit war, aber damit natürlich nicht die „Neger“ und andere Gruppen oder Ethnien meinte.
Es ist immer wieder das Gleiche, was die besten Prinzipien scheitern lässt und zu Exzessen der Quälerei und Gewalt führt: der Mangel an Mitleid. Interessanterweise spielt das Thema der Empathie in der klassischen Moralphilosophie keine Rolle. Ganz im Gegenteil wurde das Mitleid von Immanuel Kant geradezu verpönt, wollte er doch alle Moral allein auf die Vernunft gründen. Erst Arthur Schopenhauer machte sich für das Mitleid als ethisches Prinzip stark.
„Un Souvenir de Solferino“
Dafür kann er ein unwiderleglich starkes Argument ins Feld führen: Die akademischen und in weiten Feldern auch die religiösen Ethiken kranken daran, dass sie als Gesetze des Sollens in der Praxis wenig wirkungsvoll sind. Sie wecken kaum Emotionen. Das haben sie eben mit der Vernunft gemein, wie Ritter so eindrucksvoll an der Französischen Revolution gezeigt hat. Empathie aber ist eine Emotion. Sie weckt starke Motivationen.
Was das bedeutet, erzählt Ritter im folgenden Kapitel über Henri Dunant. Bekanntlich ist die Schlacht von Solferino am 24. Juni 1859 die Geburtsstunde des Roten Kreuzes. Ritter referiert die Schilderungen von Henri Dunant, „Un Souvenir de Solferino“, die einem bis heute pures Grauen einjagen können. Was wiederum zu denken gibt: Henri Dunant ist auf seine Weise ein am Leben Gescheiterter.
Letzte Fragen
Geradezu furios ist es nun, wie Ritter den Bogen, der von der Französischen Revolution ausgeht, schliesst: mit Charles Darwin. Was hat der Naturwissenschaftler mit der sozialen Realität zu tun? Die Antwort liegt auf der Hand: Es könnte sein, dass die Nachtseite des Menschen eine Naturgeschichte hat.
Eindringlich schildert Ritter, wie Darwin mit den ethischen Konsequenzen seiner eigenen Entdeckungen gerungen hat. Er empfand die Natur als widerwärtig und grausam, so ekelerregend, dass er in ihr keine Schöpfung – Darwin war kein Atheist – erkennen konnte. Und Ritter schildert, wie der „Darwinismus“, popularisert und propagiert vom Biologen Thomas Henry Huxley, zu einem Mittel eines Kulturkampfes um die Deutungshoheit in letzten Fragen wurde: Ist das Leben von Natur aus ein Kampf ums Dasein, in dem das Überleben der letzte Wert ist, dem alle anderen Werte unterzuordnen sind?
Die ausgewählten Texte und Analysen von Henning Ritter machen deutlich, dass es sich bei der Grausamkeit nicht um eine Reihe von Unfällen handelt, denen sich präventiv begegnen liesse. Die „Schreie der Verwundeten“ werden kein Ende finden.
Henning Ritter, Die Schreie der Verwundeten. Versuch über die Grausamkeit, Verlag C. H. Beck, München 2013