Sie ist eine ungewöhnliche Frau. Ungewöhnlich ist schon ihr Name: Sahra. Das „h“ am „falschen“ Ort.
Ihr Vater ist Iraner. Er war Student in Westberlin. Ab und zu durfte er – durch die Mauer – nach Ostberlin, wo ihre Mutter lebte. „Sahra“ ist die persische Version des Namens mit einem aspirierten „h“. Der Vater, der seine Tochter innig liebte, musste zurück in den Iran. Sie hat nie wieder von ihm gehört, ahnt das Schlimmste und leidet noch heute unter seinem Verlust.
Ungewöhnlich für ihre Mitschüler war auch ihr Aussehen. Da sie iranisches Blut hat, glich sie nicht einem ostdeutschen Mädel. In der Schule wurde sie als „Chinesin“ verhöhnt.
Und ungewöhnlich ist auch heute ihr Outfit. Sie sieht nicht aus, wie wir es von einer klassischen Super-Linken erwarten. Hochsteckfrisur, immer tadellos gekleidet. „Ohne weiteres könnte man sie für die Vorstandschefin eines DAX-Unternehmens halten“, schreibt ihr Biograf Christian Schneider in seiner jetzt vorgelegten Biografie *).
Diszipliniert, ohne Manuskript
Auch ihre Sprache unterscheidet sich von den meisten Politikern. Sie spricht präzise, diszipliniert, ohne Manuskript, ohne Versprecher, ohne falsche Betonung, nicht agitatorisch, mit klarer Gedankenführung. Sie ist „keine Charismatikerin im klassischen Sinn“, schreibt ihr Biograf. Doch die Leute hören ihr zu, viele glauben ihr.
Den meisten in ihrer Partei ist sie intellektuell haushoch überlegen. Das schafft Neid. Sie polarisiert wie kaum eine. Zeit ihres politischen Lebens wird sie angefeindet und verehrt. Von links und von rechts. Sie fasziniert und stösst ab. Plötzlich wird die überzeugte Marxistin als Stalinistin bezeichnet, als „Stalins Cheerleader“, als Rassistin und AfD-Anhängerin. Man könnte einwenden: Wer von Rechtsaussen und Linksaussen angegriffen wird, macht etwas richtig.
Das Bild, das wir von Sahra Wagenknecht haben und das die Medien zeichnen, ist das Bild einer selbstbewussten, teils arroganten und unbelehrbaren Selbstdarstellerin, die sich hoffnungslos in alter kommunistischer Ideologie verrannt hat. Sie wird gezeichnet als „Frau mit den kalten Augen“ (Lothar Bisky). Der Biograf korrigiert dieses Bild – und sehr differenziert. Das Buch entstand nach Gesprächen mit mehreren ihrer Weggenossen, Freunden und Feinden, und mit ihr selbst.
Das schüchterne Mädchen
Rätselhaft ist Sahra Wagenknecht schon immer, schon als Mädchen, das in der DDR-Provinz aufwächst. Immer schon ist sie „umgeben von einer Aura der Unnahbarkeit“, schreibt Schneider. Sie ist Einzelgängerin, Aussenseiterin. Schon früh kapselt sich das schüchterne Mädchen ab. Oft ist sie krank. Sie, die heute Gertenschlanke, neigt zu Übergewicht. Doch sie kann sich wehren. Wenn sie in der Schule verhöhnt wird, prügelt und kratzt sie.
Ihre Welt sind schon früh die Bücher, die Philosophie. „Sie ist regelrecht verliebt in Goethe“, schreibt Schneider. Sie verschlingt Kant, Fichte, Schelling und natürlich Marx und Hegel. Als sie ein Junge einmal zum Tanz auffordert, sagt sie ihm: „Wenn du mir ein Gedicht von Goethe rezitieren kannst, dann ja.“
Schon immer besticht sie durch ihre Selbstdisziplin. Eisern magert sie viele Pfunde herunter, und eisern arbeitet sie ihre Philosophen durch. Auch später liest sie bis zu 15 Stunden am Tag. Schon immer hat sie einen Hang zur Theorie.
Der Untergang der DDR „ein einziges Grauen“
Aufgewachsen ist sie in einem Staat, der vorgab, „sozialistisch“ zu sein. Doch systemtreu ist sie nie. Studieren darf sie nicht. Man weist ihr eine Stelle als Sekretärin zu. Sie verachtet Honecker, die Parteizeitung „Neues Deutschland“ bestellt sie ab. Sie nennt sie „unerträglich“.
Doch sie glaubt an die DDR – nicht an eine DDR à la Honecker, sondern an eine moderne, reformierte, offene DDR: Sie glaubt an eine Erneuerung des sozialistischen Experiments. So ist für sie denn auch der Untergang der DDR „ein einziges Grauen“. Als die Mauer geöffnet wird, bricht sie zusammen. „Ich war erledigt ... es war die schlimmste Zeit, die ich bisher erlebt habe.“
Jetzt studiert sie Philosophie und wird staatlich diplomierte Philosophin, später auch Ökonomin. Sie vergräbt sich im Osten, in den Westen will sie nicht. „Ich kann mir nicht vorstellen, in Frankfurt am Main oder in Hamburg zu leben“, sagte sie damals.
„Sozialismus ist so aktuell wie nie“
Sie tritt in die PDS ein, in die kommunistische Nachfolgepartei, und macht eine Blitzkarriere. Das Verhältnis mit Gregor Gysi ist von Anfang an vergiftet. Sie wirft vielen in ihrer Partei vor, umgefallen zu sein, sich zu verleugnen und nicht mehr die orthodoxe marxistisch-leninistische Philosophie zu vertreten.
Einmal sagt sie, der Verfall des sozialistischen Lagers habe 1956 begonnen, als Chruschtschow die Entstalinisierung einleitete. Das sei der Beginn der Abkehr vom Marxismus-Leninismus und der Einzug der bürgerlichen Ideologie gewesen. Nach dieser Stellungnahme wird sie als „Stalinistin“ bezeichnet“. Sie weist diese Klassifizierung weit von sich. „Was in den Dreissigerjahren in der Sowjetunion geschah, darf sich nie wiederholen“, sagt sie.
Sie will eine Gesellschaft schaffen, „in der die Tüchtigen für ihren Fleiss belohnt, die Nichtsnutze aber bestraft werden“. „Sozialismus ist kein altes Rezept. Er ist so aktuell wie nie“. Man solle sich mit der Frage beschäftigen, „warum der Kapitalismus wieder so gnadenlos brutal agiert, wie er es tut.“
Der Medienstar
Sie sagt Sätze wie: „Alle positiven Ideen der Marktwirtschaft sind tot. Wo gibt es denn noch wirklich offene Märkte und echten Wettbewerb!“
Die Freien Demokraten verhöhnt sie. „Es wird Zeit, den typischen FDPlern, die von Ökonomie nicht mehr verstehen als die auswendig gelernten Sprüche ihrer eigenen Wahlwerbungsprospekte, entgegenzuhalten, wie Marktwirtschaft tatsächlich funktioniert.“
Langsam unterzieht sie ihre frühere Weltsicht „einer grundlegenden Revision“, schreibt ihr Biograf. Sie ist gemässigter geworden: keine Radikalopposition mehr.
Jetzt wird sie zum Medienstar. Immer wieder Auftritte in Talkshows am Fernsehen. Sie wird ins Europaparlament, später in den Bundestag gewählt. Die „schöne Sahra“, wie der Boulevard sie nennt, ist längst zum „Popstar“ geworden.
„Moderne linke Politikerin“
Sie will kämpfen: „Dann ist es auch egal, ob es Sozialisten, Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschaftler, Grüne oder einfach Menschen mit Verantwortungsbewusstsein und sozialem Gewissen sind.“ Allerdings: „Mit Schröder oder Fischer wird sich in diesem Land nichts ändern.“
Dieser Ansicht ist auch der frühere Finanzminister Oskar Lafontaine, der sich mit Schröder überworfen hat.
Die PDS wird jetzt zur Partei „Die Linke“, die auch im Westen Fuss fassen will. Lafontaine und Wagenknecht heiraten. Letztlich sei diese Partei, schreibt Schneider, „auch ein Kind“ dieses Paares.
Und jetzt, so der Biograf, mutiert Sahra Wagenknecht „zu einer modernen linken Politikerin“. Doch das nehmen viele nicht zur Kenntnis.
„Sahra muss gegangen werden“
„Sie zeichnet das Bild einer Weltwirtschaft, in der einige wenige ‚global players’ sich die Märkte – und die Politik – unterworfen haben ...“
Der Sommer 2018 bringt eine Wende: Sahra Wagenknecht spricht sich – versimpelt gesagt – dafür aus, nicht mehr alle Migranten aufzunehmen. Die Genossen heulen auf. Man stellt sie in die Ecke der AfD. Und zu allem Übel bietet ihr die AfD auch noch – zynisch – die Parteimitgliedschaft an.
Im September 2018 initiiert sie – innerhalb der Partei – die Bewegung „Aufstehen“. Damit will sie ein linkes, überparteiliches Sammelbecken schaffen, von dem sie schon früher träumte. Ihre Gegner werfen ihr vor, die Partei spalten zu wollen. Zwar zählt „Aufstehen“ schnell über hunderttausend Mitglieder, doch dann versandet das Projekt, weil es stümperhaft vorbereitet wurde.
Ihre Gegner rufen jetzt zum Generalangriff. „Sahra muss gegangen werden“, sagte der heutige Parteivorsitzende Bernd Riexinger.
Sie geht
Doch sie geht von selbst. Stress, Überlastung, Burnout. Sie zieht sich aus der Führungsspitze von „Aufstehen“ zurück – ebenso aus dem Fraktionsvorstand der Linken. „Die Gründe sind dafür schlicht, dass meine Gesundheit mir Grenzen gesetzt hat.“ Sie werde aber politisch aktiv bleiben.
Ihr Biograf kommentiert: „Sahra Wagenknechts Kapitalismus- und Gesellschaftsdiagnose trifft so viele neuralgische Punkte der Gegenwart, dass man sie ‚zutreffend’ nennen muss“, und zwar „jenseits aller politischen Präferenz.“
Ja, sie sei noch immer Marxistin, sagt sie heute. Aber zuerst müsse man definieren, was man unter Marxismus versteht. Sie möchte die Gesellschaft gerechter, die Wirtschaft transparenter und effizienter machen.
Einmal hat sie gesagt, sie versuche, „das nachzuholen, was die SPD versäumt oder aufgegeben hat“.
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„Näher werden Sie Sahra Wagenknecht nicht kommen!“ heisst es in der Werbung des Buches. Das ist nicht übertrieben: Man kommt ihr sehr nahe. Die Biografie von Christian Schneider zeigt uns Sahra Wagenknecht nicht nur als Politikerin, sondern auch als Mensch. Und da erfährt man Erstaunliches.
Wir würden sie wohl in den Talkshows nach der Lektüre dieses Buches in einem anderen Licht sehen. Doch jetzt, nach ihren Rücktritten, sehen wir sie nur noch selten.
Sie ist noch immer das Opfer früherer kommunistischer Postulate. Und vieles, was sie früher gesagt hat, wirkt tatsächlich verblendet, kurzsichtig, „verdogmatisiert“ und völlig aus der Zeit gefallen.
Zwar hat sie sich gewandelt, doch das Image, das sie sich damals zulegt hat, ist schwer abzustreifen. Es ist verständlich, dass ihre politischen Gegner das Bild der unbelehrbaren Super-Marxistin weiter hegen und pflegen. Und natürlich wirft man ihr vor, was sie den anderen vorwarf: dass sie sich nur gewandelt habe, um ihre Karriere zu retten.
Man muss ihre politische, „marxistische“ Haltung nicht teilen – die wenigsten von uns tun es –, aber etwas muss man ihr zugutehalten: Sie hat für ihre Überzeugung gekämpft, ist keine Umfallerin, hat lange Zeit den Neid und die Schmähungen ihrer Gegner ertragen – und hat schliesslich erschöpft aufgegeben.
Nun ist es ruhig geworden um sie. Sie hat Freude am Kochen bekommen. Jetzt kocht sie „Spaghetti à la Oskar“ (Tomatensauce mit Kräutern, was zwar keine überragende Herausforderung ist). Und sie fährt Rad. Unter anderem pedalt sie auf den Mont Ventoux. Das ist eines der schwierigsten Teilstücke der Tour de France.
*) Christian Schneider: Sahra Wagenknecht. Die Biografie, Campus Verlag, Frankfurt/New York, September 2019.