Mit dem marktschreierischen Titel «Reichtum ohne Gier» preist Sahra Wagenknechts Buch sich entschieden unter seinem Wert an. Denn was die Vorsitzende der Linksfraktion im Deutschen Bundestag und promovierte Ökonomin zu bieten hat, ist zum einen eine fundierte und klare Analyse der vom Finanzmarkt getriebenen Weltwirtschaft und zum anderen ein gewichtiger Diskussionsbeitrag zur Frage, wie eine auf das Gemeinwohl ausgerichtete und innovationsstarke Marktwirtschaft aussehen könnte.
Plakatives zum Einstieg
In einem zwanzig Seiten langen Vorwort fasst Sahra Wagenknecht ihre Position zusammen. Hier allerdings redet vorerst einmal die Politikerin, die im Hickhack der Parteien auf das «schlagende Argument» setzt und deswegen zuspitzt und verallgemeinert. Man möchte dazwischenrufen: Nein, es gibt keine globale Zunahme der Armut! Nein, die Arbeitslosigkeit wächst nicht weltweit! Nein, der Markt stärkt nicht nur ein paar wenige multinationale Konzerne! Nein, Schröders «Agenda 2010» war nicht eine einzige soziale Katastrophe! Nein, die Löhne unterhalb der Top-Saläre sind nicht durchs Band gesunken! Nein, der Mittelstand ist nicht eliminiert worden!
Die plakative Kurzfassung des Vorworts mag einiges Stirnrunzeln provozieren. Um so mehr sei deshalb empfohlen, das ganze Buch zu lesen. In der breiteren Darstellung beweist die Autorin solide Fakten- und Theoriekenntnisse. In einem flüssigen Stil ohne Fachjargon und Imponierfloskeln baut sie ihre Argumentation auf. Das Buch ist eine Einladung zur Diskussion. Es ist ihm zu wünschen, dass es über die verwunderten und bewundernden Echos in der Presse hinaus dann auch sachliche Debatten auslösen wird.
Verfechterin der Marktwirtschaft
Wer von der einstigen Kommunistin eine marktfeindliche Haltung erwartet, darf sich eines Besseren belehren lassen. In einem Interview hat die in der DDR aufgewachsene 46jährige Sahra Wagenknecht bekannt, erst nach dem Mauerfall die Ideen des Ordoliberalismus, der Freiburger Schule und der Sozialen Marktwirtschaft kennengelernt zu haben. Ökonomen wie Alexander Rüstow und Walter Eucken haben sie stark beeindruckt, und sie nimmt in ihrem neuen Buch vielfach auf deren Ansichten und Theorien Bezug.
Ganz im ordoliberalen Sinn nimmt Sahra Wagenknecht das Leitbild des auf Freiheit, Transparenz und Wettbewerb basierenden Marktes gegen dessen gegenwärtige Verfälschungen in Schutz. So hält sie fest, Markt sei «eigentlich» ein innovationsfreundliches und grosse Fortschritte ermöglichendes System: Das Pro-Kopf-Einkommen wurde von 1700 bis 2012 trotz Versechsfachung der Weltbevölkerung verzehnfacht. Die gewaltige Steigerung der Produktivität und die wissenschaftlich-technischen Neuerungen haben historisch einen enormen Gewinn an Lebensqualität ermöglicht – ein klares Plus für die Marktwirtschaft.
Fehlentwicklungen
Unter dem Regime des modernen Kapitalismus würden jedoch die Innovationskräfte vielfach zurückgebunden oder in falsche Richtungen gelenkt. So fehle es heute im Grossen an kreativer Bewältigung von Schlüsselproblemen wie nachhaltiger Energieversorgung, umweltschonender Mobilität oder Beseitigung des Hungers. Bei der Produktentwicklung verhindere oft das Profitinteresse die mögliche bessere Qualität (Stichwort Value-Engineering, eine auf maximalen Kapitalertrag ausgerichtete Entwicklung). Und mit einer taktischen Flut von Patenten blockierten grosse Unternehmen gezielt Forschungsarbeiten nicht nur von Konkurrenten, sondern selbst von Hochschulinstituten.
Die Gründe solcher Fehlentwicklungen sind laut Sahra Wagenknecht die Abkoppelung der Kapitalinteressen von denjenigen der Unternehmen und die Konzentration des Kapitals bei einer Ein-Prozent-Oberschicht. In der Gesellschaft nimmt der Anteil der aus Kapitalrenditen stammenden leistungslosen Einkünfte zu, was dazu beiträgt, dass die grössten Vermögen am stärksten wachsen. Es ist eine Schicht von Plutokraten entstanden, in die man mit noch so viel Arbeit und Sparen nicht aufsteigen kann. Die Mittelschicht hat Geld, die Oberschicht hat Kapital. Letzteres zeichnet sich nicht dadurch aus, dass es Wert hat, sondern dass es Wert erzeugt. Durch Vererbung nicht nur der Vermögenswerte, sondern auch der Machtpositionen in der Wirtschaft schottet sich die kapitalistische Feudalschicht ab.
Machtballungen
Konkurrenz und freie Märkte sind nicht im Interesse des Kapitalismus. Dieser zielt auf Oligopole und Verflechtungen, um höchstmögliche Profite herauszuholen. Kapitalvertreter wehren sich deshalb stets gegen wirksame wettbewerbsrechtliche Vorschriften und Institutionen. In der ordoliberalen Wirtschaftstheorie kommt genau solchen Instrumenten eine Schlüsselfunktion zu, um Machtballungen vorzubeugen oder sie aufzulösen.
Eine Schicksalsfrage der wirtschaftlichen Entwicklung ist für Sahra Wagenknecht die Kontrolle der Netze: Energie, Wasserversorgung, Verkehr, Kommunikation. Die Autorin plädiert dafür, solche Infrastrukturen in öffentlichem Besitz und Auftrag zu bewirtschaften. Netze, so ihr Argument, erfordern sehr grosse Investitionen, begründen aber keine Economy of scale, da es für ihren Betrieb keine entscheidende Rolle spielt, wie intensiv sie genutzt werden. Sind sie im Besitz von Kapitalgesellschaften, so entstehen unausweichlich Interessengegensätze zwischen Nutzern und Investoren, bei denen die Nutzer den Kürzeren ziehen. Zudem verleiht private Kontrolle über Netze eine problematische Machtposition.
Herrschaft oder Demokratisierung des Kapitals
Doch Sahra Wagenknechts Kritik geht noch viel weiter. Sie erklärt den Kapitalismus rundweg für schädlich und unnötig. Er ist nicht ein System, in dem mit Kapital produziert wird, sondern eines, in dem dies um des Kapitals willen geschieht. Da sind dann Produkte bloss Mittel zum Zweck, Löhne einzig Kostenfaktoren und Kunden schlicht Ressourcen. Oberstes Ziel der Veranstaltung ist der Unternehmensgewinn und dessen Ausschüttung in Form von Kapitaleinkommen.
Zwar braucht es Kapital zur Schaffung und Weiterentwicklung von Unternehmen. Die daraus abgeleitete Konsequenz, es brauche hierfür Finanzmärkte und Kapitalisten – dieses Dogma zu stürzen macht sich Sahra Wagenknecht anheischig. Ihr Ansatz ist die Demokratisierung des Zugangs zu Kapital. Einen Hebel zur Veränderung des kapitalistischen Systems sieht sie in der Unterbindung der Geldschöpfung durch die Banken. Diese Idee verficht auch die Vollgeld-Theorie. Für Sahra Wagenknecht genügt dies aber noch nicht, da sie annimmt, findige Banker würden wohl Finanzvehikel ersinnen, mit denen sie dieses Verbot umgehen könnten.
Geld muss nach ihrer Überzeugung ein öffentliches Gut sein und das Bankenwesen dementsprechend ein gemeinwohlorientierter öffentlicher Sektor. Sahra Wagenknecht skizziert das Konzept einer kleinteiligen Finanzbranche ohne Giganten, bestehend aus Regionalbanken vom Typ Sparkasse, ferner mittelgrossen Gemeinwohlbanken als zentralen Akteuren, international tätigen Clearing-Banken und nationalen Zentralbanken mit wirtschaftspolitischen Steuerungsaufgaben. Den Finanzunternehmen, die privat und renditeorientiert tätig bleiben wollten, wäre dies freigestellt – allerdings unter der Bedingung des ausdrücklichen Verzichts auf jede staatliche Hilfe im Krisenfall.
Dirigismus als Fremdkörper
Ergänzt wäre Wagenknechts Finanzsystem mit Kapitalverkehrskontrollen und einem nationalen «Finanz-TÜV», der an Finanzgeschäften nur erlauben würde, was realwirtschaftlichen Nutzen bringt. – In diesem letzten Punkt äussert sich ein Hang zum Dirigismus, der bei Sahra Wagenknecht wahrscheinlich einem linken Staatsverständnis entspringt. In einer freien Marktwirtschaft, der die Autorin ja ausdrücklich den Vorzug gibt, wäre er ein Fremdkörper und in der Praxis schwerlich handhabbar.
Die grobe Skizze eines im Dienst des Gemeinwohls stehenden Finanzwesens ist der schwächste Teil des Buches. Überzeugender fällt der Teil aus, im dem Sahra Wagenknecht Modelle von Unternehmen beschreibt, die nicht Kapitaleignern gehören beziehungsweise unter deren Aufsicht stehen, sondern eine Kontrolle ohne Eigentum eingerichtet haben.
Modell für den «Dritten Weg»
Das Muster liefert die 1889 von Ernst Abbe gegründete und bis heute existierende Carl-Zeiss-Stiftung, die den seit 1846 bestehenden feinmechanisch-optischen Betrieb als selbstverwaltetes Unternehmen konstituierte. Das Statut der Stiftung verlangte vorrangige Innenfinanzierung der Unternehmensentwicklung, geringe Kreditaufnahme, Reservenbildung für Krisen, Gewinnausschüttung an wissenschaftliche und gemeinnützige Einrichtungen, ferner für die damalige Zeit ausserordentliche Sozialleistungen für Mitarbeiter und eine Limite bei den Vergütungen an Führungskräfte von maximal dem Zehnfachen des durchschnittlichen Arbeitslohns im Unternehmen.
Der wirtschaftspolitische Kopf des Prager Frühlings, der Ökonom Ota Šik, hat mit seinem «Dritten Weg» (zwischen Kommunismus und Kapitalismus) und den von ihm propagierten und erforschten Mitarbeitergesellschaften an Erfahrungen wie die der Carl-Zeiss-Stiftung angeknüpft. Sahra Wagenknecht greift sein Konzept der Kapitalneutralisierung auf: Das in einem Unternehmen erwirtschaftete Kapital wird ab einer bestimmten Limite nicht den Anteilseignern zugeschlagen, sondern ins Unternehmenseigentum überführt. Diese Neutralisierung von Gewinnen ist quasi das Gegenstück zur beschränkten Haftung der Aktionäre.
Die Autorin sieht vier Typen der Unternehmensorganisation, die an die Stelle von Kapitalgesellschaften treten: Personengesellschaften (vor allem für gewerbliche und mittelständische Betriebe sowie Start-ups), Mitarbeitergesellschaften nach dem Vorbild der Carl-Zeiss-Stiftung (der Normalfall für mittlere und grössere Betriebe), Öffentliche Gesellschaften (für Grossunternehmen mit starkem Einfluss auf das Gemeinwesen; daher Mitsprache durch Vertreter der Öffentlichkeit im Kontrollorgan) und Gemeinwohlgesellschaften (für gemeinnützige Dienste wie Infrastrukturen, Spitäler etc.).
Andere Wirtschaft zur Diskussion gestellt
Mit diesem Set von Unternehmensverfassungen glaubt Sahra Wagenknecht eine moderne Wirtschaftsordnung vorschlagen zu können, in der unternehmerische Initiative gefördert wird, aber die Konsequenzen der heutigen neofeudalen Besitzverhältnisse vermieden werden.
Die unvermeidlichen Unsicherheiten und Unklarheiten der knappen Skizzierung erscheinen hier bei den Alternativen für Unternehmensverfassungen deutlich weniger störend als bei Wagenknechts Vorschlag eines gemeinwohlorientierten Finanzsystems. Das dürfte damit zu tun haben, dass Unternehmensorganisation das anschaulichere Thema ist; zudem stützen sich die Vorschläge auf bewährte Praxis und eine breite Forschung und Fachdiskussion, für die Ota Šik einer der wichtigen Exponenten war.
Sahra Wagenknecht fordert dazu heraus, zwei grosse Fragenkreise in Angriff zu nehmen. Erstens: Wie müsste die Konkretisierung der anderen Wirtschaft aussehen, damit sie tatsächlich funktioniert? Und zweitens: Wie kommen wir von A nach B? – Es ist zu hoffen, dass die Herausforderung angenommen werde.
Sahra Wagenknecht: Reichtum ohne Gier. Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten, Campus Verlag, Frankfurt/New York 2016, 292 S. (auch als E-Book)