Das Gebiet um Innenministerium und Parlament ähnelt einem Schlachtfeld. Zwar nimmt dieses Areal nur einen winzigen Bruchteil der 15-Millionen-Metropole Kairo ein, in der das tägliche Leben sonst seinen hektischen, aber durchaus normalen Verlauf nimmt. Dennoch ist dieses Gebiet, das sich vom Tahrirpplatz nach West-Südwest in Richtung Abdin-Palast erstreckt, zu einem neuen Symbol des Widerstandes gegen staatliche Willkür und gegen die Kräfte der Konterrevolution geworden.
Symbolische Erfolge
Die regierenden Militärs haben eine derartige Angst davor, dass es den jungen Revolutionären gelingen könnte, das Innenministerium - Sinnbild für Polizeigewalt, Terror und Folter – einzunehmen, dass sie alle Zufahrtsstrassen mit bis zu drei Meter hohen Betonmauern verrammelt haben. Die Hauptstrasse, des Stadtteils, die Mohammed-Mahmoud-Strasse, ist für den Verkehr geschlossen, die hier liegende deutsche „Schule der Borromäerinnen“ hat ihren Unterricht eingestellt. Ein Gebäude der ägyptischen Steuerverwaltung ist ausgebrannt. Leichte Brisen von Tränengas liegen in der Luft. Ein kalter Wüstenwind hat Staub in die Stadt geweht, mit der Feuchtigkeit verbindet es sich zu einem Nebel, der die Hochhäuser am Nil fast ganz verhüllt.
Viele junge Leute lassen sich vom widrigen Wetter nicht entmutigen. Einige von ihnen haben es geschafft, auf eine der Mauern zu klettern. Von dort schleudern sie den Soldaten, die das Ministerium abriegeln, ihre revolutionären Parolen entgegen. Wenn die Situation zu eskalieren droht, fordern Jugendliche, die eine Art Ordnungsdienst erfüllen, die Menschen auf, sich zurückzuziehen. Es ist ein so gut wie aussichtsloses Unterfangen geworden, diese Mauern zu durchbrechen. Dennoch können die jungen Männer einen grossen, wenn auch nur symbolischen Erfolg verzeichnen. Eine der ersten Mauern, die auf der breiten Mohammed-Mahmoud-Strasse errichtet wurde, haben sie abreissen können. Mit grossen, starken Seilen sind sie gekommen, haben diese durch jene Stahlösen gewunden, an denen schwere Kräne sie ein paar Tage zuvor zu einer Mauer aufgestapelt haben, haben die Blöcke dann mit den Kräften vieler, die an dem Seil wie beim Tauziehen zerrten, zum Einsturz gebracht. Die Trümmer der Mauer sehen manche wie die Trümmer des alten Regimes, das sich von seinem Volk abgeschirmt hat.
Rückzug der Mittelklasse
Junge Leute erzählen von Folter, der sie durch das Militär ausgesetzt waren, von ihrem Willen, notfalls für die Revolution zu sterben, von ihrem Hass auf Polizei und Armee. Einer zeigt die Spuren einer Schussverletzung am Kopf – immerhin, sagt er, habe man ihm zehntausend Pfund, etwas mehr als eintausend Euro, Schmerzensgeld bezahlt. Andere zeigen auf ihren Mobiltelefonen Bilder, die sie von verletzten Menschen gemacht haben, auf die Kräfte der Konterrevolution geschossen hätten. Ein anderer sagt, er wünsche sich einen Salafisten zum Präsidenten. Eine weltliche Regierung, das habe sich erwiesen – so argumentiert er – , sei stets korrupt, man benötige eine Verbindung von Staat und Religion, um eine moralisch saubere Regierung zu bekommen.
Doch das Bild der Demonstranten hat sich gewandelt. Es sind nicht mehr die einigermassen gut ausgebildeten jungen Leute, die vor einem Jahr Hosni Mubarak aus dem Amt verjagten. Vielmehr sind es Jugendliche aus den ärmeren Schichten, die hier als Wächter der Revolution auftreten und in Zelten auf dem Tahrir-Platz kampieren. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass manche von ihnen auch hier sind, um Randale um der Randale willen zu machen. Die Mittelklasse-Revolutionäre der ersten Stunde haben sich zurückgezogen – sie planen für den 11. Februar, den Jahrestag des Sieges über Mubarak, den Beginn einer Kampagne des zivilen Ungehorsams.
Immer wieder Zwischenfälle
Werden die Revolutionäre ihr Werk zu Ende führen können? Oder werden die immer noch aktiven Kräfte des Ancien Regime ihr Ziel erreichen, die alte Ordnung – mit einigen Modifikationen – zu restaurieren? Nach dem Massaker im Stadion von Port Said, bei dem die für die Sicherheit verantwortlichen Kräfte tatenlos zusahen, wie 72 Menschen zu Tode kamen, herrschen Trauer und Empörung im Lande - und eine neue Einigkeit. Einigkeit im Widerstand gegen einen Militärrat, den viele Junta nennen, der es seit einem Jahr bewusst – oder aus reiner Unfähigkeit, wie andere argumentieren -, duldet, dass die Kräfte der Restauration Instabilität im Lande säen. Und der es zulässt, dass Menschen entführt, Autos gestohlen, Banken überfallen werden.
In einer einzigen Woche wurden in Sharm el-Sheikh eine Wechselstube überfallen (zwei Touristen kamen ins Kreuzfeuer der zwischen Dieben und Polizei ausgebrochenen Schiesserei und starben), in Kairo eine Bank ausgeraubt, wurden in Kairo an der „Deutschen Evangelischen Oberschule“ zwei Kinder entführt und gegen Zahlung von zwei Millionen Pfund freigepresst, im Sinai zwei Touristen entführt (aber gleich wieder frei gelassen). Zufall? Angesichts der Häufung dieser Verbrechen glauben viele, die alten Mubarak-Seilschaften stünden hinter manch einer der Untaten – und der Militärrat dulde die Unsicherheit, um seine Macht zu festigen oder um die Kräfte der Mubarak-Ära zu stärken.
Seltsame Transaktionen
Denn die führenden Generäle sind ein Teil dieser Epoche. Seit dem Putsch von Oberst Gamal Abdel Nasser im Jahre 1952 regieren die Militärs im Hintergrund stets mit; Hosni Mubarak kommt aus diesem Kreis, er war Luftwaffenoffizier. Und die ökonomischen Privilegien - das Militär kontrolliert etwa 25 Prozent der Wirtschaft, manche setzen die Zahl sogar auf 40 Prozent an - will sich keiner der Generäle nehmen lassen. Heute, in der Übergangszeit und in einer Epoche der Unsicherheit, die der Umbruchszeit in Osteuropa ein wenig ähnelt, ist es aber auch möglich, dass Kriminelle den allgemeinen Schwebezustand ausnutzen, weil sie die geschwächte Staatsgewalt nicht fürchten müssen.
So kursieren Geschichten, deren Wahrheitsgehalt nicht immer nachzuprüfen ist. Doch dass sie auf einem realen Kern beruhen, glauben viele im Land. Etwa jene vom Besitzer eines gestohlenen Allradautos, der, nach monatelangen telephonischen Verhandlungen über den Rücknahmepreis, von den Dieben mit verbundenen Augen in die Wüste gefahren wurde, wo er Hunderte anderer gestohlener Vehikel sah, deren Besitzer auch aufgefordert waren, hohe Summen für die Rückgabe zu zahlen. Oder jene von einem Filmregisseur, der für seine Produktion eine hohe Dollarsumme benötigte, aber nur ägyptische Pfund besass, die keine Bank umtauschen wollte. Schliesslich wurde er von einem Mittelsmann mit verbundenen Augen in eine Vorstadt gefahren und fand sich dort in einem Keller mit Stapeln harter Valuta wieder, die er für seine Landeswährung ohne weiteres eintauschen durfte. Der Diebstahl öffentlicher Gelder war offenbar gang und gäbe in der Mubarak-Zeit. Aufgedeckt wurden die Machenschaften selten, weil fast alle, einschliesslich hoher Polizeioffiziere, davon profitierten.
Wie arm ist das Land wirklich?
Zudem hatte sich das Regime bestens geschützt. Von den dreizehn Divisionen, welche die Armee umfasste, waren zehn zum grossen Teil ausserhalb Kairos stationiert – damit die Rekruten nicht zu sehr mit der unzufriedenen Bevölkerung fraternisieren und damit sie sich bei Unruhen nicht auf die Seite der Armen schlagen würden.
Drei Divisionen aber – Fallschirmjäger, Spezialkräfte und Republikanische Garde - galten als Schutzschild und Speerspitze des Regimes. Etwa 20 000 Dollar monatlich habe, so wird berichtet, ein Unterführer monatlich erhalten, höhere Offiziere hätten es auf das Fünffache gebracht, Generäle besässen zusätzlich Villen und durften sich in schönen Clubs delektieren. Diese Loyalitätszahlungen erschienen in keinem Haushaltsplan; das Verteidigungsbudget kann bis heute ohnedies kein Parlamentarier einsehen. Und über die Einnahmen aus dem Suezkanal, derzeit etwa 450 Millionen Dollar monatlich, habe, so sagen viele, Hosni Mubarak persönlich verfügt. Auch hätten die einzelnen Ministerien auf speziellen Konten bis zu 300 Milliarden ägyptische Pfund (37,5 Milliarden Euro) angehäuft - Gelder, die niemals in die Wirtschaft investiert worden seien. Ägypten, ein armes Land, das Entwicklungshilfe benötige? Manche Insider schmunzeln über eine solche Einschätzung. Geld sei genug da, man habe es aber nicht investiert, um das Volk in Armut und Abhängigkeit zu halten.
Luxeriöse Gefängiszellen
Beweisen kann man als Aussenstehender solche Aussagen zwar nicht. Aber bezeichnend ist doch, was die Menschen Ägyptens inzwischen für möglich halten. Ein spezieller Geheimdienst – Amn el Daula, Staatschutz – sollte das Regime und speziell auch die Staatspartei NDP (National Demokratische Partei) und deren Machenschaften schützen. Dieser gesamte Apparat erscheint auch heute noch weitgehend intakt. Ihn zu durchbrechen, sehen die Revolutionäre nun als ihre nächste Aufgabe an. Doch wie dieses Ziel erreichen, wenn – wie bis vor kurzem geschehen – die Mubarak-Söhne Gamal und Alaa zusammen mit dem geschassten Innenminister Habib el-Adli in ein und demselben Gefängnis sitzen und, wie viele behaupten, über Mobiltelefone und möglicherweise auch Computer ihre Anweisungen an ihre Anhänger draussen geben? Die Herren hätten Zellen, die Zimmern eines Drei-Sterne-Hotels glichen, ihr Essen habe den Standard eines Fünf-Sterne-Etablissements. Jetzt, nach massiver Kritik an solchen Privilegien, sollen die Gefangenen getrennt werden.
Auch der Gefangene Hosni Mubarak soll nun aus einem komfortablen Militärhospital ins Krankenhaus des Thora-Gefängnisses in Kairo verlegt werden, dorthin, wo die gewöhnlichen Kriminellen sitzen – und, bis jetzt, seine beiden Söhne sowie der Ex-Innenminister.
Gespannt warten die Menschen in Kairo auf die Ereignisse des Wochenendes. Wird es am Jahrestag des Mubarak-Rücktritts am 11. Februar eine Renaissance des zivilen Widerstandes auf dem Tahrir geben? Die Behörden sind ängstlich geworden. Die Kairoer Oper etwa hat bis Ende Februar alle Aufführungen und Konzerte abgesagt.