Der syrische Bürgerkrieg ist durch die Konfrontation eines Hauptanteils der syrischen Bevölkerung mit dem von der Asad Familie beherrschten syrischen Staat zustande gekommen. Doch er wird verschärft und genährt durch nicht weniger als drei Stellvertreterkriege, die von äusseren Mächten mittels der syrischen Kriegsparteien in Syrien ausgefochten werden.
Diese Stellvertreterkriege sind: jener der Russen gegen die Amerikaner und Europäer; jener der Sunniten gegen die Schiiten und der der Säkularisten gegen die Islamisten.
Noch einmal Kalter Krieg
Der erste der drei: Russen gegen Amerikaner und Europäer, erinnert an den Kalten Krieg. Die Russen sehen sich durch "Regimeänderungen" in der Defensive. Sie glauben, diese würden von den westlichen Staaten gefördert, wenn nicht sogar hervorgerufen
"Regimeänderungen" unter dem Beifall der westlichen Mächte wurden in der Tat unternommen, und zwar des öfteren in Staaten, welche die Russen als Teil ihres eigenen politischen Umfelds ansehen. Dies nicht nur auf dem Balkan, im Baltikum, in Polen, in der Tschechei und Slowakei, sondern sogar im Kaukasus im Fall von Georgien und in der Ukraine mit der „Orangenen Revolution“ von 2004.
Nie mehr Libyen!
Es war die Erfahrung von Libyen, die für Russland den Ausschlag gab. Die Russen hatten sich 2011 überzeugen lassen, im Sicherheitsrat Stimmenthaltung zu üben, und sie hatten dadurch die Luftaktion der Europäer und Amerikaner zum Schutz der Aufständischen von Benghazi vor den Truppen Ghaddafis geduldet und in der Praxis zugelassen. Diese "Schutzaktion" hatte sich dann zu einem offensiven Luftkrieg gegen Ghaddafi entwickelt und zu dem vom Westen angestrebten Regimewechsel geführt.
Moskau fühlte sich "hintergangen", weil in der Tat aus dem Schutz von Benghazi eine Nato Aktion zum Sturz des Ghadafi-Regimes geworden war. Solche Aktionen wollen die Russen nicht noch einmal zulassen. Vielmehr entschlossen sie sich, diesmal dem gefährdeten Gewaltherrscher mit diplomatischen Mitteln und durch Waffenlieferungen zu helfen. Angeblich fliegen sie auch"Berge von Papiergeld" nach Syrien ein.
Im Verlauf der zwei letzten Jahre wurden die Waffenlieferungen zu einer Überlebensfrage des Regimes, und man kann sagen, diesmal sind es die Russen, die ihr Gewicht entscheidend in die Waagschale warfen, um das bisherige Überleben des Regimes zu bewerkstelligen.
Alte Partner
Der Umstand, dass Syrien seit Jahrzehnten mit russischen Waffen ausgerüstet wird und dass es als einziges Mittelmeerland der russischen Kriegsflotte in Tartous bei Lattakiya einen Stützpunkt bietet, hat sicher zur Haltung von Moskau beigetragen. Doch der Wille, einer "Regimeänderung" entgegenzutreten, die in Russland als von der westlichen Welt "in die Wege geleitet" gesehen wird, wiegt wohl am schwersten.
Auch China stellt sich aus verständlichen Gründen hinter die Politik, die sich gegen "Regimewechsel" unter westlichem Einfluss richtet. Wenngleich Peking sich auf die politische Hilfe für das Asad-Regime im Rahmen des Sicherheitsrates beschränkt.
Diplomatischer Einsatz
Dieser wiedererstandene Kalte Krieg der um Syrien geführt wird, hat ohne Zweifel entscheidend zum bisherigen Überleben des Asad Regimes beigetragen. Ohne die diplomatische und die Waffenhilfe der Russen, wäre das Regime ziemlich sicher gestürzt. Wie schon der ursprüngliche Kalte Krieg hat der um Syrien geführte neben seinen militärischen auch diplomatische Aspekte.
Es gibt eine diplomatische Minimalformel, die im Juni 2012 in Genf von den beiden Parteien im syrischen "Kalten Krieg" angenommen wurde. Doch wie so oft bei derartigen Formeln verstehen beide Seiten die Übereinkunft so, wie es jedem von ihnen passt. Die Formel lautet: Eine Übergangsregierung sei einzurichten, deren Mitglieder von den Syriern in gegenseitiger Zustimmung zu bestimmen wären.
Die Formel sagt nichts darüber aus, ob Asad zu dieser Übergangsregierung gehören solle oder ob sie gar unter ihm als Präsidenten zu funktionieren habe. An dieser Frage jedoch scheiden sich die Geister in Syrien, und "gegenseitige Zustimmung" (mutual consent) der Syrer dürfte solange unerreichbar bleiben, als beide Seiten im syrischen Bürgerkrieg glauben, sie würden am Ende gewinnen.
Weltpolitische Anliegen
Die russisch-westliche Konfrontation in Syrien ist insofern ein Stellvertreterkrieg, als es dabei um Belange geht, die weit über Syrien hinaus reichen. Letzten Endes geht es darum, ob autoritäre Regime an der Macht bleiben sollen, auch wenn sich ein bedeutender Teil der von ihnen beherrschten Bevölkerung gegen sie erhebt, oder ob die internationale Gemeinschaft - unter Führung der demokratischen Mächte - eingreifen darf oder soll, um der Volkserhebung zum Durchbruch zu verhelfen.
Sunniten gegen Schiiten
Der zweite Stellvertreterkrieg ist jener, der sich im arabisch-persischen Raum - und weiter bis nach Pakistan - zwischen Schiiten und Sunniten abspielt. Heute wird manchmal von der "uralten Feindschaft" der Sunniten und der Schiiten geredet. Dies ist nicht mehr berechtigt. Das ist so, als ob man eine Erbfeindschaft zwischen Katholiken und Protestanten postulieren wollte.
Zwischen beiden Religionen, den islamischen und den christlichen, hat es Kriege und Kämpfe gegeben. Doch es gab auch lange Perioden des durchaus friedlichen Zusammenlebens. Erst im Gefolge des iranisch-irakischen Krieges von 1980 bis 1988 und darauf in dem als Folge der amerikanischen Besetzung des Iraks 2005 und 2006 tobenden innerirakischen Konfessionskrieg ist der nahöstliche sunnitisch-schiitische Gegensatz in der arabischen Welt neu ausgebrochen.
Die Machtverschiebung im Irak
Die amerikanische Invasion des Irak hat dort einen Machtwechsel verursacht. Sie brachte zum ersten Mal seit vielen Jahrhunderten schiitische Parteien an die Macht und entzog diese den Sunniten. Dieser Machtwechsel beunruhigte Saudi Arabien - wahrscheinlich über Gebühr. In der Sicht von Riad besteht die Gefahr, dass nicht nur im Irak, sondern auch im Rest der arabischen Welt die Schiiten den Sunniten die Macht entreissen könnten.
Die Saudis glauben, die arabischen Schiiten würden in diesem Bemühen von Iran unterstützt. Sie sehen die Hände Irans bei allen Unruhen am Werk, die unter den Schiiten im arabischen Raum ausbrechen. Dabei macht Riad wenig Unterschied zwischen den verschiedenen - und voneinander geographisch und theologisch sehr weit entfernten - Zweigen des Schiismus.
Viele Arten des Schiismus
Die Saudis neigen dazu, alle in einen Topf zu werfen: die 12er Schiiten von der gleichen Religionsrichtung wie jene Iran, die im Irak, in Saudi Arabien, in Bahrain und als Minderheiten in anderen Golfstaaten, im Libanon und in sehr geringer Zahl auch in Syrien leben, zusammen mit den 5er Schiiten (auch Zaiditen genannt) des Nordjemens, heute Träger des Houthi Aufstandes in Nordjemen. Diese vermischen sie mit den ausgesprochen friedliebenden 7ern, die weit verstreut im Nahen Osten, im Indischen Subkontinent und in Afrika leben (ein Zweig von ihnen steht unter dem Agha Khan).
In den Augen Riads gehören auch die syrischen Alawiten und die türkischen Alevi Bektaschi zu "den Schiiten". Ihre religiösen Ausprägungen haben sich weit von der islamischen Normalität entfernt. Historisch leiten sich die syrischen Alawi von einer späten Seitenentwicklung der 7er Schiiten ab, die einst (unter den Fatimiden 909-1171) in Ägypten herrschten. Die türkischen Alevi hängen historisch mit dem 12er Schiismus zusammen.
Ringen um die Zukunft des Golfes
Die saudische Angst vor "den Schiiten" hat wahrscheinlich viel mit der Golfpolitik zu tun. Der Persische Golf wird von Iran als persisches Einflussgebiet gesehen und beansprucht; doch der Arabische Golf, wie ihn die Araber nennen, mit seinem Erdöl und Erdgas stellt das Herzgebiet des "Arabischen Golf Kooperationsrates" dar, der Saudi Arabien mit vier kleineren Golfstaaten verbindet.
Mit Iran sind die Beziehungen seit den Tagen Khomeinis gespannt, als dieser versuchte, kurz nach seiner Machtergreifung von 1979 die iranische Revolution über die Pilgerfahrt in den gesamten arabischen Raum hinauszutragen, dabei auf den Widerstand Saudi Arabiens stiess und ein Streit entstand, in dem Khomeini dem saudischen Königshaus die Berechtigung absprechen wollte, die Pilgerfahrt zu beaufsichtigen.
Der Machtumschwung im Irak
Seit dem Machtwechsel zwischen Schiiten und Sunniten in Bagdad hat Riad sich selbst zum Vorkämpfer gegen die vermutete schiitische Expansion erklärt. Riad übersieht dabei, dass die Demonstrationen und Erhebungen der arabischen Schiiten in Orten wie Bahrain, dem Irak, Libanon und in Saudi Arabien selbst hauptsächlich darauf zurückgehen, dass die Schiiten in all diesen Staaten seit der osmanischen Zeit als das nicht-Staatsvolk leben mussten und dass sie seit den frühen 80er Jahren versuchten, volle Gleichberechtigung mit dem sunnitischen Staatsvolk zu erlangen.
Syrien-Iran, ein politisches Bündnis
Im Falle der syrischen Alewiten besteht in der Tat ein Bündnis mit Iran seit den Zeiten Khomeinis. Doch es handelt sich dabei um ein politisches Bündnis, das ursprünglich zustande kam, weil Hafez al-Asad und Khomeini bittere Feinde Saddam Husseins waren. Während des ganzen achtjährigen Kriegs zwischen Iran und Irak stand Syrien unter Vater Asad praktisch als der einzige Verbündete an Seiten Irans und wurde dafür mit Erdöllieferungen und Erdölgeldern belohnt.
Zur Zeit der israelischen Invasion Libanons, massiv von 1982 bis 1984 und in Grenzgebieten weiter bis 2000, schuf Iran die Bewegung Hizbullah, indem Teheran Revolutionswächter zur Ausbildung jener Milizen zu den libanesischen Schiiten sandte. Syrien wurde das Bindeglied zwischen Hizbullah und Iran. Waffen, Gelder, Instruktoren wurden aus Iran nach Damaskus geflogen und von dort über die weitgehend offenen Grenzen nach Südlibanon und in die Bekaa Ebene transportiert, die Wohngebiete der libanesischen Schiiten.
Religiöse oder politische Allianz?
Diese Verbindung bedeutete für Iran einen verlängerten Arm in die Levante und mit Hizbullah eine Möglichkeit, als die Kraft aufzutreten, die kämpfe, um "Jerusalem zu befreien", wie der Hauptslogan lautete, unter dem Hizbullah gegründet wurde. Syrien kam dabei auch auf seine Rechnung, die Aktivität Hizbullahs in Südlibanon erlaubte den Syrern, ein Minimum an Spannungen aufrecht zu erhalten, um daran zu erinnern, dass Israel die syrische Kuneitra Provinz (heute meist "Golan" genannt) besetzt halte, ohne die gefährlichen Folgen von Grenzunruhen für Syrien auf sich nehmen zu müssen. Die Rechnung ging auf: 2006 haben die Israeli auf Libanon eingeschlagen, Syrien verschonten sie.
Was für die Saudis einen schiitischen Arm in die Levante bildet, ist für die syrische und die iranische Regierung in erster Linie eine politische Allianz, die sich gegen Israel richtet.
Krieg "den Schiiten"
Doch der saudische Wille, die Macht "der Schiiten" zu brechen, bewirkte, dass der syrische Bürgerkrieg auch zum Stellvertreterkrieg zwischen "schiitischen" Mächten und "sunnitischen" wurde. Je weniger die syrische Armee sich in ganz Syrien durchsetzen kann, weil sie zwar die Waffen besitzt, ihr aber verlässliche Mannschaften fehlen, desto mehr werden gegenwärtig libanesische Schiiten unter dem Banner von Hizbullah und iranische Revolutionswächter als Hilfskräfte in das syrische Ringen einbezogen.
Auf der Gegenseite bewaffnet Saudi Arabien zusammen mit Qatar die sunnitischen Kämpfer gegen "die Alawiten" von Asad.
Islamismus - Säkularismus
Der dritte Stellvertreter Krieg hat schon begonnen, doch er wird wahrscheinlich erst voll entflammen, wenn Asad zu Fall kommt. Dies ist der gleiche der sich heute in der gesamten islamischen Welt zwischen Mali und Pakistan entwickelt und der in Tunesien und in Ägypten als ein politischer Krieg ausgefochten wird. Man kann ihn als den Krieg zwischen den Säkularisten und den Islamisten beschreiben. Doch bei genauerem Zusehen hat er drei Kräfte, die gegeneinander ringen: die Säkularisten, die Muslim Brüder und die salafistischen Jihadisten.
Al-Qaida als Patron, oder nicht?
Obwohl alle drei in Syrien einen gemeinsamen Feind haben und verzweifelt gegen ihn kämpfen, ist kürzlich in Syrien die Dreiteilung sichtbar geworden. Am 10 April hat plötzlich die "Qaida im Irak" erklärt, sie habe sich mit der syrischen Nusra Front zusammengeschlossen. Ihr gemeinsames Ziel sei ein islamisches Emirat in Syrien und im Irak zu gründen. Gleichzeitig liess der Qaida Chef Zawahiri aus Afghanistan (oder sitzt er in Pakistan wie sein Vorgänger Ben Laden?) vernehmen, die Nusra Front sei ein Teil von Qaida, und alle Kämpfer sollten die Front unterstützen. Der Leiter von Nusra Front erklärte seine Zugehörigkeit zu al-Qaida und Zawahiri, doch er sagte auch, er sei nicht über den Zusammenschluss mit der Irakischen Qaida orientiert oder befragt worden.
"Unwillkommen und unzweckmässig"
Andere islamistische Kampfgruppen in Syrien erhoben laute Kritik an dem Zusammenschluss und an den Solidaritätserklärungen gegenüber Zawahiri. So erklärte der Sprecher der Islamischen Befreiungsfront, die eine Dachorganisation für verschiedene islamistische Kampfgruppen darstellt: "Als wir unseren Jihad gegen das sektiererische Regime entfesselten, taten wir dies nicht, um uns irgendeinem Mann hier oder dort zu unterstellen." Al-Qaida im Irak "will uns einem Staat unterstellen, ohne uns zu fragen, der von einem Emir regiert wird, den wir nicht gewählt haben und den wir überhaupt nur durch die Medien kennen. Jemandem Gefolgschaft zu leisten, der unsere Realitäten nicht kennt, dient weder unserem Volk noch unserer Nation".
Andre merken an: "alle Bezugnahme auf gewisse Namen, die starke Reaktionen auf der ganzen Welt gegen das syrische Volk hervorrufen, sollten vermieden werden." In dem Flecken Tel Abyad in der Provinz Raqqa soll es zu Zusammenstössen zwischen Nusra und der Islamistischen Faruq Brigade sowie anderen islamistischen Kampfgruppen gekommen sein, als die Regimetruppen abzogen. Dabei ging es vermutlich darum, wer den Ort beherrschen dürfe.
Säkulare und muslimische Demokraten
Die säkulare Gegenfront ist durch die Revolutionäre und Aktivisten gegeben, denen es um die Befreiung Syriens geht, nicht um einen islamischen Staat Syrien. Sie bilden wahrscheinlich noch immer den grössten Teil der Kämpfer, manche Gewährsleute glauben 90 Prozent.
Die Muslimbrüder, die eine knappe Mehrheit in der sogenannten Koalition der syrischen Exilpolitiker abgeben, bilden die dritte Kraft in dem Ringen um die islamische oder islamisch demokratische oder rein demokratische Ausrichtung eines künftigen Syriens, das nach Asad entstehen soll. Doch sogar die säkularen Freiheitskämpfer geben zu, dass Nusra und ähnliche Gruppen zur Zeit die wirksamsten seien, weil sie über Geld und Waffen verfügten
Was tun gegen die Islamisten?
Bei den Amerikanern und den Europäern wächst die Besorgnis, dass die islamistischen Gruppen die Zeit nach Asad dominieren, oder dass sie sofort einen neuen Krieg für einen islamischen Staat entfesseln könnten. Daher steigt ihre Bereitschaft, die säkularen Gruppen mit "nicht tödlichen Mitteln" zu unterstützen. Dazu gehört offenbar auch der Versuch, Offiziere und Mannschaften der Aufständischen in Jordanien auszubilden. Die "tödlichen Mittel" werden offenbar mehr von den Saudis, den Qataris und vielleicht auch von türkischer Seite geliefert. Wobei natürlich die Möglichkeiten von verdeckter Zusammenarbeit, etwa über die CIA, nicht ausgeschlossen werden können.
Offiziell bleibt das Ziel der Nato und der Amerikaner weiterhin "eine politische Lösung". Doch um sie zu erreichen, so sagen die westlichen Diplomaten, müsse der Druck auf Asad erhöht werden. Gleichzeitig aber sei zu vermeiden, dass die Hilfsgüter und Waffen "in die falschen Hände" gerieten.
Reichweite über Syrien hinaus
Das Land Syrien jedoch und seine ganze Bevölkerung wird von den inneren Gegensätzen des Bürgerkrieges und den sie überlagernden Stellvertreterkriegen zermalmt. Gerade weil die Einsätze der Stellvertreterkriege weit über das Land Syrien hinausreichen und in ihnen um Ziele gekämpft wird, für die Syrien als blosse Arena dient, schwindet die Bereitschaft der streitenden äusseren Mächte dahin, Syrien und seine Bewohner zu schonen.