Eines der interessantesten Bücher des Philosophen Peter Sloterdijk stammt aus dem Jahre 2005 und trägt den Titel: „Im Weltinnenraum des Kapitals“. Das war noch vor dem Ausbruch der Subprime-Krise. In diesem Buch hat der Philosoph die Ökonomie mit seinen Methoden seziert und dafür zu seiner eigenen Überraschung im gleichen Jahr auf der Frankfurter Buchmesse den Wirtschaftsbuchpreis der Financial Times Deutschland und von getAbstract erhalten. Im Rating von getAbstract erhielt das Buch insgesamt 9 von 10 Punkten, der Stil wurde mit 10, der Innovationsgrad mit 9 Punkten bewertet. Aber die „Umsetzbarkeit“ erhielt bloss einen Punkt.
Wenn Peter A. Wuffli jetzt eine „liberale Ethik“ vorlegt, erwartet man neue Nachrichten aus dem „Weltinnenraum des Kapitals“. Diesmal aber von einem Insider. Und dieser Insider hat es schwerer als der Philosoph. Denn er tritt mit einem dezidierten praktischen Anspruch auf: darzulegen, was im Raum der Wirtschaft ethisch richtig und falsch ist. Und gleichzeitig will er noch erklären, was damals schief gelaufen ist bei der UBS und warum er Knall auf Fall gehen musste.
Geld oder Ethik?
Das ist viel auf einmal. Die Gefahr liegt nahe, dass die „Ethik“ zu einem Rechtfertigungsinstrument geformt oder dass das eigene Handeln beschönigt wird. Wie glaubwürdig kann jemand als Ethiker sein, der als Akteur massgeblich an Entwicklungen beteiligt war, die ethisch problematisch sind?
Diese Fragen stellen sich nicht nur gegenüber Peter Wuffli. Arrogant hat Milton Friedman ethische Ansprüche mit dem Satz, „The social responsibility of business is to increase its profits“, weggebügelt, und überhaupt geht die herrschende Auffassung dahin, dass Ethik und Wirtschaft zwei verschiedene Paar Schuhe sind. Wuffli zitiert den Wiener Literaten und Kritiker Karl Kraus, der zu einem jungen Mann, der Wirtschaftsethik studieren wollte, gesagt haben soll: „Entscheiden Sie sich für das eine oder das andere.“
Welt ewiger Werte
Wuffli sieht das diametral anders. Zwar erkennt er an, dass es in der Wirtschaft um Wettbewerb der Unternehmen und um die Selbstbehauptung der menschlichen Akteure geht. Aber er ist der Überzeugung, „dass die Menschen in der Realität ihr Selbstbehauptungsstreben auch an ihren persönlichen Wertvorstellungen ausrichten. Daraus folgt, dass die Privatwirtschaft über weite Strecken so ethisch oder unethisch ist wie die darin tätigen Akteure.“ Ein paar Seiten weiter heisst es: „Unternehmerisches Tätigsein ist zunächst einmal von hoher ethischer Qualität, und je mehr ethische Ziele und Werte gleichzeitig dem Geschäftserfolg dienen, desto höher stehen die Chancen für die Realisierung dieser ethischen Ambitionen im betrieblichen Alltag.“
Mit ein bisschen bösen Willen kann man den letzteren Satz so verstehen, dass ethische Ziele sich mal mit den wirtschaftlichen Notwendigkeiten decken und mal nicht. Schön, wenn das der Fall ist, Pech, wenn „die Realität“ Handlungsweisen erfordert, auf die man nicht besonders stolz sein kann. Das meint Wuffli aber nicht, auch wenn er die Spannung zwischen Wertorientierung und dem Handeln unter wirtschaftlichen Sachzwängen durchaus anerkennt. Aber er setzt die Ethik argumentativ mit der Wirtschaft in ein vielfältig verzahntes Verhältnis, das sich dynamisch entwickelt.
Wie das Wufflische System funktioniert, lässt sich an dem auf den ersten Blick falschen oder auch banalen Satz: „Unternehmerisches Tätigsein ist zunächst einmal von hoher ethischer Qualität...“ zeigen. Denn Ethik ist für Wuffli keine abstrakte Welt ewig gleicher Werte, sondern Ethik entsteht im Alltag handelnder Menschen. Entsprechend können sich Werte wandeln, aber in allen diesen Wandlungen bleiben einige grundlegende Strukturen bestehen. Daher kann man Wufflis Satz so ausdeuten: Unternehmerischen Handeln ist dann von hoher ethischer Qualität, wenn Unternehmen echten Nutzen stiften.
Steigerung ethischer Ansprüche
Wuffli führt dazu viele Beispiele an: Mobilität, Kommunikation, Gesundheit oder die Wohnqualität. Von dort her ist es ihm ein Leichtes aufzuweisen, dass Unternehmen, die etwa Umweltanliegen glaubwürdig verfolgen, eine bessere Qualität der Mitarbeiter bekommen und auch gegenüber ihrer Kundschaft besser dastehen. Überhaupt konstatiert Wuffli eine Steigerung ethischer Ansprüche, die sich in der Aktivität zahlreicher ökologischer oder sozialer Gruppen ebenso manifestiert wie in der Berichterstattung der Medien und zahlreicher gesetzlicher Auflagen – von der Verfolgung von Korruption und Insiderhandel, schärfere Sanktionen bei Steuerhinterziehung über die Ahndung sexueller Verfehlungen bis zu immer strengeren Auflagen zum Schutz der Umwelt.
Entgegen der landläufigen Auffassung, wonach die Dynamik der Wirtschaft mit ihrem Globalisierungseffekt ethische Barrieren unterspült, argumentiert Wuffli, dass mit der Zunahme der Komplexität die Nachfrage nach ethischer Orientierung steigt. Sehr schön zeigt er das an der Umstrukturierung der Unternehmen, die früher hierarchisch geführt wurden, und jetzt aus dynamischen Einheiten bestehen, die zudem im Sinne der Transparenz Auskünfte über ihre Strategien und Resultate erteilen müssen.
Eine wichtige Rolle spielt das Vertrauen. Denn weil unsere Welt immer komplexer wird, kann der Einzelne immer weniger davon überblicken und beurteilen. Daher ist er zunehmend auf den Rat anderer angewiesen. Soziologisch ausgedrückt dient Vertrauen der Reduktion von Komplexität. - Überhaupt stellt man immer wieder fest, dass Wuffli nicht nur die ethische Fachliteratur gründlich studiert hat, sondern zum Beispiel auch Schlüsseltexte der Soziologie.
Die neue Zivilgesellschaft
Was ist „liberal“ an der Ethik Wufflis? Immer wieder betont er, dass er sich schon als junger Mann und Mitglied des Freisinns, der späteren FDP, mit diesem Thema beschäftigt hat. Scharf wendet er sich gegen die dem „Neoliberalismus“ zugeschriebene Auffassung, wonach der Staat so wenig wie möglich in Erscheinung treten solle und die Wirtschaft eine ethikferne Veranstaltung sei. Dagegen macht er immer wieder klar, dass die Wirtschaft staatliche Rahmenbedingungen braucht. Der entscheidende Punkt liegt aber darin, dass der Staat nur über die Setzung von Rahmenbedingungen seine Funktion wahrnehmen kann, nicht aber durch direkte steuernde Eingriffe. Denn die Wirtschaft sei so dynamisch und komplex, dass jede einmal definierte Massnahme schon veraltet ist, wenn sie angewendet wird.
An die von ihm immer wieder beschriebene Komplexität der globalisierten Welt lagert er die „Zivilgesellschaft“ und die darin tätigen NGOs an. Mit Bezug auf Ralf Dahrendorf zeigt er, dass die Aufgaben der Gegenwart nur durch das Engagement privat organisierter Gruppen von Bürgern – daher Zivilgesellschaft – bewältigt werden können. So ist in seinen Augen die Entwicklungshilfe der UNO und einzelner Staaten daran gescheitert, dass sie viel zu unflexibel eingesetzt wurde. Private Initiativen und Ansätze wie die Mikrokredite sind in seinen Augen ungleich effizienter. In diesem Sinne hat er zusammen mit seiner Frau eine eigene Stiftung, „elea Foundation for Ethics in Globalization“, ins Leben gerufen. „elea“, benannt nach der von Griechen gegründeten gleichnamigen süditalienischen Hafenstadt engagiert sich weltweit für die Implementierung entwicklungsfördernder Technologien, „nachhaltige Kommerzialisierung“ und die Berufsausbildung von Jugendlichen.
Verschwiegene Ökokatastrophe
Sieht Wuffli zu viel des Guten? Wie steht es mit dem kurzfristigen Denken aufgrund der Vierteljahresbilanzen, wie mit der wachsenden Kluft von Arm und Reich? Und man wird auch kaum behaupten können, dass die Ökokatastrophe im Golf von Mexiko auf eine zunehmende Ethisierung der Energiekonzerne hindeutet. Gar nicht zu reden von der Verseuchung des Nigerdeltas durch Ölrückstände, die nur deswegen möglich ist, weil die Weltöffentlichkeit dort nicht hinschaut und Shell nicht entsprechend an den Pranger gestellt wird.
Gegenbeispiele gegen Wufflis Thesen gibt es genug, aber Wuffli behauptet auch nicht, dass wir in der besten aller Welten leben. Immer wieder betont er, dass die Wirtschaft ein evolutionärer Prozess ist, der eben auch zahlreiche traurige Begleiterscheinungen hat. Die Menschen seien gar nicht intelligent genug, um so etwas wie die Marktwirtschaft aus sich heraus zu erfinden. „Wir sind in dieses Wirtschaftssystem hineingestolpert“, zitiert er Friedrich August von Hayek. Und wir stolpern weiter.
Das Schicksal des Vaters
Diese Sichtweise ermöglicht es Wuffli, die Krise der UBS anzusprechen. Die Erklärungen, die er anbietet, klingen plausibel, wobei es durchaus möglich sein kann, dass Kenner der Materie wie Lukas Hässig (Der UBS-Crash) ganz andere Fakten ins Feld führen würden als Wuffli. Auf jeden Fall sind die Passagen berührend, in denen er sich mit seiner überraschenden Demission auseinandersetzt und darin eine Parallele zum Schicksal seines Vaters sieht: „Mit knapp 40 Jahren wurde er der in der Schweiz bisher jüngste Generaldirektor einer Grossbank und mit 50, kurz nach seiner Ernennung zum Präsidenten der Generaldirektion, nahm sein beruflicher Weg infolge krimineller Handlungen von Untergebenen eine Wende, wie es seinem Sohn rund 30 Jahre später und im selben Alter passieren sollte.“ - Hier begegnet dem Leser ein Mensch, der über Verletzbarkeit und Reifung unaufdringlich zu schreiben vermag.
Peter A. Wufflis „Liberale Ethik“ wird lange Bestand haben. Er hat ein kenntnisreiches und vielschichtiges Buch vorgelegt. Es ist die Sicht eines nachdenklichen Praktikers.
Peter A. Wuffli, Liberale Ethik. Orientierungsversuch im Zeitalter der Globalisierung, Stämpfli Verlag, Bern 2010