Eine Anhörung lässt vermuten, dass das Oberste Gericht der USA nächstes Jahr das seit 1973 verbriefte Recht auf Abtreibung streicht. Eine konservative Minderheit im Lande würde die Mehrheit bevormunden.
«Mein Ziel ist es, Sie davon zu überzeugen, dass sich das Gericht nicht aus hörigen Parteigängern zusammensetzt», sagte die von Donald Trump nominierte Oberste Richterin Amy Coney Barrett im vergangenen September – eine je nach Perspektive arg naive oder unverblümt zynische Aussage angesichts des Umstands, dass im US Supreme Court sechs Konservative gegenüber drei Liberalen in der Mehrheit sind.
Nach der zweistündigen Anhörung Mitte letzter Woche im Fall «Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization» sind Zweifel an Barretts Feststellung mehr als angebracht. Amerikas Oberstes Gericht will bis zum nächsten Sommer entscheiden, ob es ein 2018 im Staat Mississippi erlassenes Abtreibungsverbot nach der 15. Woche aufrechterhalten will. Täte es das, wäre der Entscheid ein schwerer Schlag gegen das Urteil des Gerichts im Fall «Roe v. Wade» aus dem Jahre 1973, als das Gremium Abtreibungen bis zur 23. oder 24. Schwangerschaftswoche erlaubte – ein Urteil, welches das Gremium im Fall «Planned Parenthood v. Casey» bestätigte.
Jeglicher Basis in der Realität entbehrten die Argumente des obersten Prozessvertreters des Staates Mississippi, der vor dem Gericht davon sprach, «Roe v. Wade» würde «unser Land verwüsten» und habe weder eine Basis in der Verfassung und noch einen Platz in der Geschichte oder den Traditionen des Landes. Nirgendwo, sagte der Jurist, anerkenne das Oberste Gericht das Recht, ein Leben zu beenden. Dass Amerika nach wie vor die Todesstrafe kennt, hatte er offenbar verdrängt.
Umfragen zufolge würden nach einer Abschaffung des Rechts auf Abtreibung wohl rund die Hälfte aller 50 US-Bundesstaaten Abtreibungen umgehend verbieten, viele unter ihnen ohne Ausnahmen für Vergewaltigungen oder Fälle von Inzest. Zwar könnten vermögende Amerikanerinnen in andere Staaten reisen, um dort abtreiben zu lassen, aber Millionen ärmere Frauen und überdurchschnittlich viele Angehörige von Minderheiten könnten sich das nicht leisten.
Verstörend in diesem Kontext der Vorschlag der stramm katholischen Richterin Amy Coney Barrett, Frauen könnten unerwünschte Neugeborene ja jederzeit, wie Gesetze in einigen Staaten es vorsehen, in einem «safe haven», d.h. an einem sicheren Platz wie etwa einer Polizeistation abgeben oder Säuglinge einfach zur Adoption freigeben (Barrett selbst hat sieben Kinder, zwei unter ihnen adoptiert). Sie räumte zwar ein, dass der Zwang, ein Kind auszutragen, «zweifellos ein Eingriff in die körperliche Autonomie» darstelle, was aber auch auf andere Kontexte wie das Impfen zutreffe.
Für renommierte Rechtsexperten ist nach den mündlichen Plädoyers beider Seiten und aufgrund der Reaktionen der einzelnen Richterinnen und Richter wahrscheinlich, dass «Roe v. Wade» fallen wird – aufgrund von Argumenten, die weniger mit juristischen Überlegungen als mit religiösen Überzeugungen zu tun haben. Die liberale Richterin Sonja Sotomayor drückte das unverblümt so aus: «Wird diese Institution den Gestank überleben, den dies (eine Streichung des Gesetzes) in der öffentlichen Wahrnehmung kreieren wird, dass die Verfassung und ihre Interpretation lediglich politische Werkzeuge sind?»
Falls Amerikas Supreme Court tatsächlich gegen das Recht auf Abtreibung urteilt, so würde das genau jenes Recht von Individuen gegenüber staatlicher Macht beschneiden, welches das Gremium im Fall eines verfassungsmässig garantierten Rechts auf verdecktes Waffentragen ausbauen will, wie Initianten aus dem Staat New York fordern. Es wäre ein weiterer Fall von Inkonsequenz, der sich nicht mehr juristisch, sondern lediglich politisch begründen liesse – ein Kotau gegenüber der republikanischen Partei. «In beiden Fällen wissen wir, was sie (die konservativen Richter) tun werden», schreibt Linda Greenhouse, die für die «New York Times» über den US Supreme Court berichtet: «Wir wissen nur nicht, wie sie das erklären werden.»
Die neue Situation, argumentiert die liberale Richterin Elena Kagan, würde die Macht der Staaten gegenüber dem Bund zementieren. Denn die Regierung in Washington DC könnte juristisch nicht mehr gegen Behörden der Einzelstaaten vorgehen: «Falls das der Fall wäre, würden wir in einer Welt leben, die sich sehr stark von jener unterscheidet, in der wir heute leben.» Zu befürchten wäre auf jeden Fall, dass konservative Staaten versucht sein könnten, die persönlichen Freiheiten ihrer Bürgerinnen und Bürger noch weiter einzuschränken, falls sie das als politisch opportun erachteten.
In wie unterschiedlichen Welten Befürworterinnen und Gegner des Rechts auf Abtreibung bereits heute leben, zeigte sich, als bei der Anhörung in Amerikas Hauptstadt Pro- und Kontra-Argumente aufeinanderprallten. Vor dem einem Tempel nachempfundenen Gebäude des Supreme Court an der 1st Street NE hatten sich Befürworter und Gegner des Rechts auf Abtreibung zu einer Kundgebung eingefunden, wobei die Opposition wesentlich aggressiver und lautstärker agierte. «Das geschieht, wenn man Frauen erlaubt, Männer zu kastrieren. Gott hasst euch», schrie ein frommer Abtreibungsgegner in sein Megafon: «Vielleicht hätten einige unter euch abgetrieben werden sollen, ihr bösen, ekligen, abstossenden, teuflischen – Ich will euch nicht einmal Frauen nennen! Ihr seid blutrünstige Tiere». Auf solche Stimmen hören nun offenbar die konservativen Richterinnen und Richter des Gremiums.
Für die republikanische Partei, die sich in der Vergangenheit stets gegen das Recht auf Abtreibung stark gemacht hat, wäre die Streichung von «Roe v. Wade» vor den Zwischenwahlen 2022 unter Umständen ein zweischneidiges Schwert. Solange das Recht in Kraft ist, kann die Partei folgenlos dagegen opponieren, um bei ihrer evangelikalen Wählerschaft zu punkten. Wird das Gesetz aber abgeschafft, betrifft das republikanische Wählerinnen im Lande viel unmittelbarer.
Die Opponenten des Rechts auf Abtreibung agitieren unter dem Slogan «pro-life». In einer freien Gesellschaft ist Lebensbejahung zwar ihr gutes Recht. Heuchlerisch wird eine solche Haltung aber dann, wenn sich dieselben Kreise gegen eine Verschärfung von Schusswaffengesetzen stemmen, wie es das Oberste Gericht wahrscheinlich auch tun wird. Der Waffenlobby zufolge helfen Schusswaffen, die amerikanische Bevölkerung zu schützen. In Wirklichkeit sterben in den USA jeden Tag 100 Menschen an den Folgen von Schusswaffengebrauch. Angesichts solcher Argumente von Schusswaffenbefürwortern und Abtreibungsgegners stirbt in Amerika auch die Vernunft.