Wie die ägyptische Revolution enden wird, ist ungewiss. Gewiss erscheint, dass sie in den Köpfen vieler Menschen etwas bewegt hat. Jeder zukünftige Herrscher muss damit rechnen, dass er es mit einem anderen Volk zu tun haben wird – selbst in den Dörfern des Südens.
Den üblichen Vorstellungen zufolge, die man als Ausländer von den Menschen auf den Dörfern Ägyptens hat, wird man sich fragen, ob die Dorfbewohner hier in Oberägypten - weit entfernt vom Kairoer Tahrirplatz - überhaupt über Politik, genauer gesagt über die ägyptische Revolution nachdenken. Schliesslich kursieren im Lande viele Witze über die „Saidis“ – in denen den Bewohnern dieses Landstriches meistens ausserordentliche Einfältigkeit attestiert wird. Wer aber mit Khaled, Scheich Zain und Tayeb Murad spricht, wird schnell erkennen, dass es auch hier viele kleine Tahrirplätze gibt, auf denen die Revolution fortgeführt wird.
Beginn der Autonomie
Khaled sitzt nicht weit entfernt von den Memnon-Kolossen jenseits der Stadt Luxor am Westufer des Nils - dort, wo die Touristen ihre Eintrittskarten für das Tal der Könige, das Tal der Königinnen und für den Tempel der Hatschepsut kaufen. Khaled repariert Fahrräder, und er verdient magere 140 Pfund etwa 13 Euro im Monat, indem er die elektrische Anlage im Luxortempel am Ostufer des Nils instand hält. Ein Leben am Existenzminimum – doch Khaled ist neuerdings zufrieden, jedenfalls mit der politischen Situation im Lande. Jetzt, nach der Verjagung der Familie Mubarak, „sind wir wieder Herren im Lande“, sagt er. Und er fügt hinzu: „Wir sind nicht mehr besetzt wie von einer fremden Macht.“. Khaled weiss, dass er und mit ihm das gesamte ägyptische Volk nun selbst über sein Schicksal bestimmen kann. Und wenn wieder einmal ein Herrscher die Macht an sich reissen sollte, dann, sagt Khaled, können wir abermals eine Revolution beginnen.
Natürlich ist Khaled zu den Parlamentswahlen gegangen. Im Dorf Beirat gleich nebenan haben die Muslimbrüder gewonnen. Nach den Gründen befragt, sagt Khaled, der Kandidat der Muslimbrüder habe in den finsteren Zeiten der Mubarakdiktatur stets auf der Seite des Volkes gestanden und diesem geholfen. Mehrmals sei er deswegen vom Regime ins Gefängnis geworfen worden. „Weil er nie mit dem Regime kollaborierte, haben wir ihn gewählt“, sagt Khaled. Und warum hat man nicht für den Bürgermeister gestimmt, der auf der Liste einer liberal-demokratischen Koalition für das Parlament in Kairo kandidierte ? Weil, sagt Khaled, dieser Bürgermeister sein Amt nicht zur Zufriedenheit der Bürger ausgefüllt und weil er zudem mit korrupten Geschäftsleuten in Kairo verbandelt gewesen sei.
Stetige Verbesserung
Die Menschen haben also vielerorts die Muslimbrüder gewählt, weil sie von diesen eine konkrete Verbesserung ihres Lebens erwarten. Ideologisch-religiöse Gründe haben weniger eine Rolle gespielt. Und im Übrigen, sagen viele, könne man die Brüder in der neuen Demokratie auch wieder abwählen, wenn sie den Erwartungen der Menschen nicht entsprächen.
Hat sich die persönliche Lebenssituation für Khaled seit dem Sturz Mubaraks verbessert ? Ein wenig, sagt Khaled. Er habe eine minimale Gehaltsaufbesserung bekommen. Auch werde sein Gehalt nun fast pünktlich ausgezahlt. Früher habe er mindestens drei Monate auf seine karge Entlohnung warten müssen. Das jeweils ausstehende Geld habe irgendein Beamter für sich privat einbehalten.
Beirat ist ein Konglomerat von etwa elf kleineren Dörfern mit etwa 25.000 Einwohnern. Die Sehenswürdigkeit des Ortes ist der gut erhaltene Tempel Medinet Habu, der Gedenktempel für den Pharao Ramses III. ( Regierungszeit etwa 1186 bis 1155 v.Chr. ). In einem der kleinen, traditionell aus Nilschlamm gebauten Häusern wohnt Scheich Zain mit seiner Familie. Im Hauptberuf ist er Inspektor jener Schulen, welche die Kairoer islamische Universität Al-Azhar hier in der Region unterhält. Nebenberuflich aber engagiert sich Scheich Zain für die sozial benachteiligten Menschen in Beirat.
Ende der Inspektionen
Zusammen mit anderen hat er eine Organisation gegründet, die ein Zentrum für Behinderte eingerichtet hat und dieses unterhält. Im Vorstand dieser Nicht- Regierungsorganisation sitzen Vertreter aus jeweils einem der Dörfer Beirats. Sie sammeln Geld für die Tätigkeiten der Organisation. Und sie wissen, welche Mitbewohner so krank sind, dass man für sie einen eigenen Transport ins Hospital in der 60 Kilometer entfernten Stadt Qena organisieren und finanzieren muss. Geübt im Umgang mit der ägyptischen Bürokratie haben sie alle ihre Einnahmen und Ausgaben fein säuberlich notiert, damit sie die Genehmigung für ihre karikativen Tätigkeiten auch ja nicht nach einer der üblichen Inspektionen durch die Behörden verlieren.
Und was hat sich für sie verändert seit der Revolution? Einer der Vorstandsmitglieder erklärt sogleich mit freudigem Ausdruck, dass die ständigen Besuche durch die Staatssicherheit nun nicht mehr stattfinden. Seit Mubaraks Fall vor einem guten Jahr sei kein Geheimdienstoffizier mehr in ihren Räumen aufgetaucht. Den Finanzen ihrer Organisation sei das nur zugute gekommen, denn bei jedem Besuch hätten die Offiziere der Staatssicherheit auch für sich privat Gelder eingestrichen. Das sei der Preis dafür gewesen, dass man in Ruhe habe weiterarbeiten können.
Gefahr des Missbrauchs
Scheich Zain und seine Kollegen sind nicht die einzigen in Beirat, die sich aus eigenem Antrieb um das Wohl ihrer vom Staat vernachlässigten Mitbewohner kümmern. Einer der - unausgesprochenen - Führer im Dorf ist Tayeb Murad. Schon während der Revolution vor einem Jahr hat er mit einer Gruppe von jungen Leuten dafür gesorgt, dass ein unweit in der Wüste gelegenes koptisches Nonnenkloster von möglichen Randalierern verschont blieb. Wie in Kairo haben auch in Habu, einem der Dörfer Beirats, seinerzeit die jungen Leute Barrieren errichtet, um Plünderern und Anhängern des alten Regimes von vornherein keine Chance zu gaben.
Tayeb ist der Spiritus Rector einer Gruppe von etwa 400 jungen Leuten, die sich im Dorf um soziale Belange kümmern. Auf Facebook haben sich etwa 80 von ihnen unter der Rubrik "Elbeiratgroups" eingetragen. Als gleich nach der Revolution einige Kleinunternehmer die vermeintliche neue Freiheit dazu nutzen wollten, Geschäfte auf Kosten ihrer Mitbürger zu machen, griffen Tayeb Murad und seine Gruppe ein. Ein Bäcker etwa begann, vom Staat zugeteiltes subventioniertes Mehl zu hohen Preisen weiter zu verkaufen, statt damit Fladenbrot für die Menschen zu backen.
Viele kleine Verbesserungen
Tayeb Murad ging zum Gouverneur von Luxor – danach nahmen seine Mitstreiter die Brotverteilung selber in die Hand. Sie verteilten das Brot, das der Bäcker nach ihrer Intervention nun wieder backen musste, selber, damit jeder, besonders die ärmeren Familien, an ihr täglich Brot kamen. Ebenso verfuhren Tayeb Murad und seine Gruppe mit dem Geschäftsmann, der die Flaschen mit Haushaltsgas plötzlich zu derartig überhöhten Preisen abgeben wollte, dass viele Dorfbewohner sie nicht mehr bezahlen konnten. Wie beim Brot übernahmen auch hier Tayeb Murad und seine Gruppe die Verteilung. Jetzt ist jede Familie wieder mit Gas versorgt. Auch für die Hygiene im Dorf haben die jungen Leute gesorgt. An verschiedenen Plätzen stellten sie Mülltonnen auf – eigentlich eine simple Massnahme, welche aber von der alten Mubarakbürokratie nicht bewältigt wurde.
Und schliesslich hat Tayeb Murad mit Hilfe der ägyptischen Caritas auch einen Alphabetisierungskurs organisiert. Die Quote der Menschen, die nicht lesen und scheiben können, liegt besonders in den Dörfern noch bei ungefähr 40 Prozent. Wie lernbegierig aber die Menschen sind, zeigt die Tatsache, dass an dem neu eingerichteten Unterricht sogar Dorfbewohner teilnehmen, die schon sechzig Jahre alt sind.
Archäologisches Sperrgebiet
Noch ein anderes Problem harrt der Lösung. Zu Zeiten des Alleinherrschers Mubarak haben die Behörden eine gewaltige, etwa 15 Kilometer lange, fast drei Meter hohe Mauer errichtet. Sie trennt das grüne Fruchtland von der Wüste. Diese gilt als archäologisches Sperrgebiet. Ägyptologen erklären, hier seien noch viele Funde auszugraben. Und deshalb müsse man verhindern, dass Bauern immer mehr Wüste bewässerten und somit das Fruchtland über das archäologische Sperrgebiet ausdehnten. Jedoch: Viele Bauern können sich von ihrem kargen Land nicht mehr ernähren, sie benötigen dringend zusätzlichen Siedlungsraum – für die Landwirtschaft und für den Bau von Häusern, um ihren wachsenden Familien eine Lebensgrundlage zu geben.
Jetzt aber leben die Kleinbauern hinter der Mauer fast wie in einem Gefängnis. Und sie schauen stets auf eine Wand, die ihnen den gewohnten Weitblick in die Wüste verbaut. Die Mauer hat keine Tore und keine Fenster. Nun wollen Tayeb Murad und seine Gruppe erreichen, dass die Mauer zumindest in ihrer Höhe begrenzt und an einigen Stellen durchlässig wird.
Gegen Korruption und Egoismus
Doch das Ungetüm wurde im Auftrag der ägyptischen Antikenverwaltung vom Militär errichtet – und diese Institutionen sind auch im revolutionären Ägypten nicht leicht zu Kompromissen zu bewegen. Vorerst wohl müssen die Bauern weiter mit der Mauer leben. Die Ägyptologen freuen sich. Die Dorfbewohner leiden weiter. Den Interessen der Antikenverwaltung ist gedient, denen der Bauern nicht. Ein offenbar unlösbarer Konflikt.
Immerhin haben Tayeb Murad und seine Gruppe bereits internationale Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Der amerikanische Ethnologe Lila Abu-Lughod schreibt in der Fachzeitschrift „American Ethnologist“ (Vol. 39, Nr.1, Februar 2012): „Im Dorf von Al-Tayeb spricht die Jugend die moralische Sprache der Verantwortung, der Selbstlosigkeit und des Allgemeinwohls. Sie kämpft gegen Korruption und Egoismus. Es ist eine starke Sprache von sozialer Moral, nicht aber von Rechten. Sie sprechen nicht von Demokratie, aber indem sie Probleme direkt angehen, leben sie persönlich Demokratie.“
Heute fügt Tayeb Murad hinzu, dass man die Revolution vollenden müsse, dass man Rechtsstaatlichkeit erkämpfen und Korruption ausrotten müsse. Dazu sei auf lange Zeit persönliches Engagement der Menschen notwendig.
Khaled, Scheich Zain, aber ganz besonders Tayeb Murad leben dieses Engagement täglich vor - weit entfernt vom Tahrirplatz in Kairo, der durch den Mut dieser Menschen, die noch viele andere an ihrer Seite haben, doch so nahe ist.