Ein palästinensischer Kardiologe aus Falls Church (Virginia), der in Gaza aufgewachsen ist, hat sich geweigert, Vertreter der Regierung Biden zu treffen. Das Weisse Haus, sagt er, habe die Tötung von 85 Mitgliedern seiner Familie unterstützt.
Von Dr. Tariq Haddad
Wenige Tage vor seinem jüngsten Besuch in der Region lud Aussenminister Antony J. Blinken mehrere Mitglieder der palästinensisch-amerikanischen Gemeinschaft zu einem Treffen ein, um die Reaktion der Regierung Biden auf Israels Angriff auf den Gazastreifen zu erörtern, der nach Ansicht des Internationalen Gerichtshofs und eines US-Bundesgerichts einem Völkermord gleichkommen könnte. Ich war unter ihnen.
Was könnte ich in drei Minuten zu jemandem sagen, der den Angriff Israels, bei dem bisher 85 Mitglieder meiner Familie getötet worden sind, unterstützt und begünstigt? Wie könnte ich Minister Blinken eine Fotogelegenheit bieten, wenn Präsident Biden nicht nur Israel bewaffnet und finanziert, sondern auch gerade die Mittel für die wichtigste Hilfsorganisation gestrichen hat, die zwei Millionen Palästinensern humanitäre Hilfe leistet, denen der Tod durch von den USA gelieferte Bomben droht, sowie Hunger und Krankheiten, die dadurch verursacht werden, dass Israel die Einfuhr von Lebensmitteln, Wasser und Medikamenten nach Gaza bis auf ein Rinnsal verhindert?
Ich konnte die Einladung von Aussenminister Blinken nicht mit gutem Gewissen annehmen und habe mich daher entschieden, das Treffen zu boykottieren, wie auch eine Reihe anderer Mitglieder unserer Gemeinschaft. Stattdessen hoffe ich, dass er sich die Zeit nehmen wird, um etwas über den Leidensweg meiner Familie zu erfahren, der einen Mikrokosmos des Alptraums darstellt, den alle Palästinenserinnen und Palästinenser in Gaza durchleben und an dem die Regierung Biden zutiefst mitschuldig ist.
Mitte Oktober wurden Generationen eines Zweiges meiner Familie bei einem einzigen israelischen Luftangriff getötet. Unter den Getöteten befanden sich Tuqa, die eigentlich ihre Hochzeit feiern wollte, sowie Esam und Jamal, die als Teenager Basketball und Tischtennis spielten. Kurz darauf wurden meine Cousins Hatem und Aziz in Khan Younis im südlichen Gazastreifen – der in der so genannten sicheren Zone liegen sollte – zusammen mit 14 weiteren Verwandten, unter ihnen sieben Kinder, getötet. Aziz war Apotheker. Hatem hatte immer ein Lächeln im Gesicht. Ein Knabe überlebte, allerdings mit einer Amputation. Als er nach der Operation aufwachte, erfuhr er, dass sein Vater, sein Onkel und seine Geschwister tot waren. Kurz darauf starb auch er.
Im November wurde das Haus meines Cousins durch eine israelische Rakete zerstört. Wael, der überlebte, fand die Hälfte der Leiche seiner Mutter in den Trümmern begraben, zusammen mit den Überresten seiner Schwester Wafaa, einer geliebten Lehrerin. Sein Bruder Hani erlitt lediglich eine leichte Beinverletzung. Da er jedoch keine medizinische Hilfe erhielt, verblutete er. Die Leichen von Hanis Frau und seiner Schwester Huda werden noch immer vermisst. Die Intensität der israelischen Bombardierung machte eine ordnungsgemässe Beerdigung unmöglich; Verwandte begruben die Leichen, die sie bergen konnten, in einem behelfsmässigen Massengrab.
Ich erhalte täglich Nachrichten von meiner Familie: Wer wurde getötet, wer braucht ein Zelt, um sich vor dem Winterregen und der Kälte zu schützen, wer hat noch nichts gegessen? Die neugeborenen Zwillinge meiner Cousine waren von Geburt an unterernährt. Die Häuser aller überlebenden Verwandten sind zerstört oder beschädigt. Sie sind entweder in einem Zelt, in einer UN-Schule oder bei Freunden untergebracht. Sie ernähren sich hauptsächlich von Brot, manchmal auch von Tierfutter. Einige Menschen in Gaza sind dazu übergegangen, Gras zu essen. Mein Cousin Nael schrieb kürzlich: «Wir haben 24 Stunden am Stück ohne Essen geschlafen, und seit drei Monaten haben wir kein Mehl, Fleisch, Gemüse oder Obst mehr gesehen.» Mein 80-jähriger Onkel leidet wegen des verseuchten Wassers an schrecklichen Magen-Darm-Erkrankungen.
Israel hat in den letzten vier Monaten mehr als 27’000 Palästinenser im Gazastreifen getötet, unter ihnen mindestens 11’500 Kinder, und mehr als 66’000 weitere verletzt. 60 Prozent der Häuser in Gaza wurden beschädigt oder zerstört; 1,7 Millionen Menschen wurden aus ihren Häusern vertrieben, die meisten von ihnen mehrfach, und 2,2 Millionen Menschen sind unmittelbar vom Hungertod bedroht. Israel hat systematisch Krankenhäuser und medizinisches Personal angegriffen, so dass das Gesundheitssystem des Gazastreifens fast vollständig zusammengebrochen ist, hat Hunderte von Schulen, UN-Einrichtungen, Bäckereien, Moscheen, Kirchen und Flüchtlingslager bombardiert und ganze Städte und Stadtteile zerstört. In Gaza wurde ein neues medizinisches Akronym geprägt, das mit erschreckender Häufigkeit verwendet wird: WCNSF – «Verwundetes Kind, keine überlebende Familie».
Präsident Biden hatte fast vier Monate Zeit, seinen Kurs zu korrigieren und seine Mitschuld an Israels brutalem Angriff zu beenden, aber er hat sich bewusst dagegen entschieden. Wenn dem Präsidenten und Aussenminister Blinken das Leben der Palästinenser im Gazastreifen und die Interessen der palästinensisch-amerikanischen Gemeinschaft, die sie jetzt zu beschwichtigen versuchen, wirklich am Herzen liegen, müssen sie einen sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand fordern und von Israel verlangen, dass es ausreichende humanitäre Hilfe in den Gazastreifen lässt, und den fortgesetzten Transfer von Waffen und Finanzmitteln an das israelische Militär beenden.
Im grösseren Kontext müssen sie Druck auf Israel ausüben, damit es seine brutale, seit über 55 Jahren andauernde militärische Besetzung des Westjordanlands und des Gazastreifens beendet und sein 75 Jahre altes Apartheidregime abschafft, einschliesslich der Gewährung gleicher Rechte für die mehr als 20 Prozent der israelischen Bevölkerung, die Palästinenser sind und in ihrem eigenen Heimatland weit verbreiteter systematischer Diskriminierung und Unterdrückung ausgesetzt sind. Dies sind die Ursachen für die Gewalt in der Region.
Dies wird weder unsere Angehörigen zurückbringen noch den bereits entstandenen Schaden beheben. Aber es wird weiteres Leid und die Gefahr einer weiteren Eskalation in der Region und darüber hinaus verhindern.
Quelle: «Mondoweiss – News & Opinion About Palestine, Israel & the United States»; https://www.youtube.com/watch?v=DfnzauJGpQg