Am 6. Juni um 03.15 Uhr in der Nacht bellten plötzlich die Hunde vor dem Haus von Nabil al-Raee in Dschenin im israelisch besetzten Westjordanland. Soldaten sprangen über das Gartentor.
So jedenfalls erinnert sich Micaela Miranda, die portugiesische Ehefrau von Nabil, an jene Nacht des 6. Juni 2012. „Sie verlangten, meinen Mann zu sehen. Ich fragte wozu. Das ist mein Recht, und das ist mein Haus“, so stellte sich Micaela Miranda den nächtlichen Eindringlingen entgegen: „Die israelischen Soldaten erklärten, sie würden mir den Grund nicht nennen. Sie nahmen dann Nabil, steckten ihn in einen Armee-Jeep und fuhren davon.“ Nun muss er die unmenschlichen Haftbedingungen in einem israelischen Internierungslager ertragen.
Ein Gewehr, gerichtet auf mein Gesicht
Der Manager des „Freedom Theater“, Jonatan Stanczak – ein schwedischer Jude –, fragte die Israelis, warum Nabil al-Raee verhaftet worden sei. "Die einzige Antwort", sagte der Manager, „war ein Gewehr, gerichtet auf mein Gesicht.“ Und dazu die vage Auskunft, Nabil al-Raee werde festgesetzt wegen „illegaler Tätigkeiten“.
Das „Freedom Theater“ in Dschenin ist der israelischen Besatzungsmacht seit langem ein Dorn im Auge. Es wurde von Juliano Mer Khamis in den 1980ger Jahren aufgebaut. Juliano ist bzw. war ein israelischer Palästinenser. Er wurde 2011 ermordet. Die – israelischen und palästinensischen – Nachforschungen nach dem Mörder haben bis jetzt zu keinem Ergebnis geführt. Manche nennen den Geheimdienst Shin Bet als Auftraggeber; dem wäre die auf kulturelle und politische Emanzipation bestrebte Arbeit des Theaters zu gefährlich geworden. Andere vermuten die palästinensische Hamas als Drahtzieher; gemäss dieser Version hätten manche Aufführungen, in denen auch junge Frauen mitwirkten, den Islamisten nicht ins moralische Konzept gepasst.
Palästinensisch und jüdisch
Juliano Mer Khamis jedenfalls hatte eine junge Truppe aus dem Flüchtlingslager Dschenin zusammengestellt, die gesellschaftliche Themen – etwa die andauernde israelische Besatzung – in ihrem Tanztheater thematisierte. Die Truppe hatte auch grossen internationalen Erfolg. Bei Tourneen in Europa fand sie starken Zuspruch, im letzten Herbst etwa in Berlin.
Juliano Mer Khamis war der Sohn eines palästinensischen Israeli, der zur Zeit der Geburt des Sohnes 1958 eine führende Position in der israelischen kommunistischen Partei innehatte. Seine Mutter, Arna Mer Khamis, war eine jüdische Israelin, die sich früher in der israelischen Untergrundarmee Palmach engagiert hatte, sich später aber vom Zionismus abwendete. Die Mutter wurde 1993 mit dem alternativen Nobelpreis ausgezeichnet, sie hatte sich für die Kinder des Flüchtlingslagers Dschenin eingesetzt. Sohn Juliano diente zeitweise in der israelischen Armee – sehr zum Leidwesen des Vaters. Doch als er in Dschenin den Befehl verweigerte, einen alten Palästinenser aus dem Auto zu zerren, wurde er ins Gefängnis geworfen. Danach verliess er die Armee. Seine Identität beschrieb er später so: „Ich bin zu einhundert Prozent palästinensisch und ich bin zu einhundert Prozent jüdisch.“
Breite Unterstützung
Nach der Ermordung Julianos im April 2011 übernahm Nabil al-Raee die künstlerische Leitung des „Freedom Theater“. Im letzten Jahr weilte er auf Europatournee – u.a. gastierte seine Truppe in Berlin. Tänzerisch zeigten sie die Bürde der andauernden Besatzung, das Publikum war begeistert. Im Anschluss an die Aufführung diskutierten Darsteller und Regisseure mit den überaus interessierten Zuschauern. Wie sehr sich die künstlerische Arbeit des Theaters internationaler Aufmerksamkeit erfreute, zeigt auch die Tatsache, dass das deutsche Auswärtige Amt manches Projekt des Theaters unterstützte.
Über die Jahre hat sich das Theater zu einer bedeutenden künstlerischen Institution im besetzten Westjordanland entwickelt. Es bildet zum Beispiel Schauspieler aus. Die Studenten sollen lernen, mit international anerkannten Choreographen und Regisseuren zu arbeiten. Sie sollen auch die physischen und stimmlichen Fähigkeiten entwickeln, sich in der Welt des Theaters auszudrücken. Als Dozenten arbeiten in Dschenin Fachleute aus den skandinavischen Ländern, aus Grossbritannien, aus den USA, aus Portugal, Deutschland, Israel und auch Palästina. Finanzielle Unterstützung kam auch von verschiedenen europäischen Institutionen und von einer UN-Organisation.
Unheilvolle Rolle der Autonomiebehörde
Diese internationale Aufmerksamkeit stört die Kreise der israelischen Besatzungsmacht, der jeder Widerstand – auch jener, der auf einer friedlich-kulturellen Basis aufbaut – suspekt ist. Denn auch diese Art der Resistance stört die angestrebte Unterwerfung der Palästinenser. Nach Aussage von Mitgliedern des „Freedom Theatre“ ist die Verhaftung von Nabil al-Raee die sechste Deportation eines Mitglied des Ensembles innerhalb von zwölf Monaten.
Dabei spielte auch die palästinensische Autonomiebehörde eine unheilvolle Rolle. Von den USA und der Europäischen Gemeinschaft genötigt, mit Israel in „Sicherheitsfragen“ zu kooperieren, setzte die Behörde zeitgleich Zakaria Zubaideh, einen Mitbegründer des Theaters und Mitbewohner im Haus von Nabil a-Raee, fest. Bis heute sitzt er - vermutlich - in einem Gefängnis in Jericho, und zwar menschenrechtswidrig. Die Mitglieder des Theaters beklagen, dass sowohl israelische wie auch palästinensische Behörden kaum Anstrengungen gemacht hätten, den Mörder von Juliano Mer Khamis zu finden, während laufend Angehörige der Schauspieltruppe verhaftet würden.
Merkel für Freilassung
Nun sitzt Nabil al-Raee im israelischen Internierungslager Jalameh. Jeder Kontakt mit der Aussenwelt ist ihm untersagt, kein Rechtsbeistand darf zu ihm. Das klingt für ein zivilisiertes Land, als das Israel im Westen, besonders in der Bundesrepublik Deutschland, wahrgenommen wird, überraschend. Doch die langjährige israelische Praxis zeigt, dass das Vorgehen gegen Nabil al-Raee durchaus eine schlechte, nämlich menschenrechtswidrige Tradition in Israel darstellt. Vor zwei Jahren etwa sass der palästinensische Bürgerrechtler Dschamal Dschuma (Jamal Juma) in einem israelischen Internierungslager. Dschuma ist Koordinator der Kampagne „Stop the Wall“. Ausserdem ist er massgeblich an der Kampagne „Boykott Deligitimation, Sanctions“ (BDS) beteiligt, zu der palästinensische Nichtregierungsorganisationen aufgerufen haben.
Als Förderer dieser Kampagne versuchte Dschamal Dschuma, Israel wirtschaftlich zu treffen. So erreichte er zusammen mit anderen palästinensischen Bürgerrechtlern, dass einige europäische Institutionen, etwa der „Norwegische Staatspensionsfonds“, ihre Investitionen aus der israelischen Rüstungsfirma Elbit zurückzogen. Elbit liefert nämlich elektronische Überwachungsanlagen für die von Israel gebaute Trennmauer. Die europäischen Firmen, die Elbit aus ihrem Portefolio strichen, begründeten diesen Schritt damit, dass der Mauerbau mit den ethischen Standards ihrer Unternehmen nicht übereinstimme. Natürlich traf der Rückzug der Skandinavier die Israelis wirtschaftlich hart. Deshalb wurde Dschmal Dschuma wochenlang verhört. Erst eine internationale Protestaktion zwang die Israelis, ihren unbequemen Gefangenen freizulassen. Sogar die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel setzte sich seinerzeit für die Freilassung Dschamal Dschumas und seiner Mitgefangenen ein.
„Organisation illegaler Demonstrationen“
Über vier Wochen sass Dschamal Dschuma in einem israelischen Internierungslager. Schlafentzug war eine der Behandlungsmethoden, das Einblasen kalter Luft in die Zelle, in der er kaum ausgestreckt liegen konnte, eine andere; frische Wäsche bekam er allenfalls alle zehn, zwölf Tage. „Wenn Sie nicht kooperieren“, bedeuteten ihm seinerzeit die israelischen Aufseher, „dann werden Sie lange Zeit hier bleiben.“
Lange Zeit im Gefängnis - nämlich drei Jahre – sitzt Mahmoud Sarsak, ein palästinensischer Fussballspieler, der auf dem Weg von Gaza ins Westjordanland verhaftet wurde. Seit achtzig Tagen ist Mahmoud Sarsak im Hungerstreik – auch deshalb, weil bis heute keine Anklage gegen den jetzt 25 Jahre alten jungen Mann erhoben worden ist. Ins Gefängnis musste auch Abdallah Abu Rahmah aus dem palästinensischen Dorf Bilin. Abu Rahmah ist Koordinator der friedlichen Kampagne gegen Israels Sperrmauer, die auch bei Bilin verläuft. Er wurde 2009 wegen der „Organisation illegaler Demonstrationen“ zu 18 Monaten Haft verurteilt. Zuvor, 2008, war Abu Rahmah von der „Internationalen Liga der Menschenrechte“ mit der Ossietzky-Medaille ausgezeichnet worden. Die Ehrung war den Israelis offenbar Ansporn, jetzt erst recht gegen den Unbequemen aus Bilin vorzugehen.
Dschenin - historischer Albtraum
Vieles spricht, dafür, dass Nabil al-Raee vom Friedenstheater Dschenin in diesen Tagen unter jenen üblichen israelischen Schikanen zu leiden hat wie seinerzeit Dschmal Dschuma. Wahrscheinlich wird wieder nur, wie im Falle Dschamal Dschuma, eine internationale Kampagne helfen. Schon setzen sich auch jüdische Organisationen für Nabil al-Raee ein. So richtete die „Jüdische Stimme“ (www.juedische-stimme.de) einen Appell an Israel, den gefangenen künstlerischen Leiter des „Freedom Theater“ von Dschenin umgehend freizulassen.
Dschenin: Für Israel und für die Bewegung des Zionismus ist die Stadt ein historischer Albtraum. In den dreissiger Jahren des letzten Jahrhunderts begann hier der erste grosse arabische Aufstand gegen die einwandernden Juden und gegen die britische Mandatsmacht. Es war kein Geringerer als Izzedin al-Qassem, ein Araber syrischer Abstammung, der schon gegen die französische Mandatsmacht in Syrien gekämpft hatte, der 1935 zum Aufstand gegen Zionisten und Briten aufrief. Im selben Jahr wurde er mit einigen Mitkämpfern in den Bergen zwischen Dschenin und Nablus getötet. Der militärische Zweig der Hamas ist heute nach Izzedin al-Qassem benannt. Während der zweiten Intifada machten israelische Truppen im Jahr 2002 weite Teile des Flüchtlingslagers Dschenin dem Erdboden gleich – so vehement war in Dschenin wieder einmal der Widerstand.
Im Meer des Schweigens
Und in diesem Dschenin ist das „Freedom Theatre“ ansässig. Nach der Ermordung von Juliano Mer Khamis schrieben die Angehörigen des Ensembles: „Die revolutionäre Botschaft wird nicht verschwinden. Sie wird die gelben Sande und die Berge mit den Mandelbäumen erstürmen. ... Die Botschaft wird kommen von hier, von der Bühne des „Freedom Theatre“, wo Menschen geschaffen sind, frei zu sein, und wo sie engagiert sind im kulturellen Kampf für Freiheit. In einem Meer von Schweigen erhebt sich nur eine Stimme. Es ist die der Freiheitskämpfer, denen Du (gemeint ist der ermordete Mer Khamis) zeigtest, wie das kulturelle Gewehr auf den Schultern zu tragen ist.“
In einem Brief an die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, in dem sie diese baten, sich wie damals für Dschamal Dschuma nun auch für Nabil al-Raee einzusetzen, schrieben die Verfasser dieses Beitrages am 10.Juni 2012, dass sich wie seinerzeit Dschamal Dschuma auch Nabil al-Raee keinerlei terroristischer Gewalttat schuldig gemacht habe. Auch andere Mitglieder des Theaters hätten sich niemals mit Gewalt der israelischen Besatzung widersetzt. Vielmehr habe Nabil al-Raee den Mut gehabt, nach der Ermordung von Juliano Mer Khamis die künstlerische Leitung des „Freedom Theater“ Dschenin zu übernehmen.