Die regierenden Sozialisten hoffen erneut auf einen Sieg, in den Umfragen hat die grösste Partei der Opposition aber aufgeholt. Ob die vorgezogene Parlamentswahl am 30. Januar klare Verhältnisse im Land mit jetzt knapp über 500’000 Covid-19-Infizierten schafft, steht also dahin. Für zusätzliche Spannung und für Ängste sorgt die Frage, ob die rechtsextreme Partei «Chega» zur drittstärksten Kraft aufsteigt.
Kurz vor der Neuwahl des portugiesischen Parlaments am 30. Januar hat sich Sozialistenchef António Costa ein Unwort zu eigen gemacht. Es ist eine Vokabel, die er wochenlang gemieden hatte. Seit Ende 2015 steht Costa an der Spitze von Minderheitsregierungen. In den nächsten vier Jahren möchte er jedoch ohne Mehrheitsbeschaffer auskommen. Eine «Mehrheit» wollte er also. Sie sollte robust, stabil oder beständig sein, Costa wollte für seinen Partido Socialista (PS) die Hälfte plus einen aller 230 Sitze im Parlament. Er mied aber das Adjektiv «absolut».
Schlechte Erinnerungen
«Die Portugiesen mögen keine absoluten Mehrheiten», hatte er noch im August 2019 gesagt. Seine Landsleute hätten schlechte Erinnerungen an absolute Mehrheiten, egal ob an solche des bürgerlichen Partido Social Democrata (PSD) oder des heute von ihm selbst geführten PS. Das sagte er wenige Wochen vor der letzten Parlamentswahl im Oktober 2019, bei der sein PS mit 38,2 Prozent der Stimmen 108 Mandate errang. Costa weiss, dass seine Landsleute mit absoluten Mehrheiten nicht nur politische Stabilität assoziieren, sondern auch Arroganz, Ämterwirtschaft und dubiose Machenschaften, mit deren Aufklärung die Justiz überfordert ist.
Costa spricht nun aber Klartext und will ausdrücklich eine «absolute Mehrheit». Hierfür braucht es erfahrungsgemäss annähernd 45 Prozent der Stimmen (zum Wahlsystem siehe Zusatz unten). Aber gar so viel haben ihm die Umfragen bisher nicht in Aussicht gestellt. Anfangs lagen die Sozialisten zwar deutlich vorn. Laut Umfragen der letzten Tage – von denen immer unklar ist, wie glaubwürdig sie sind – ist indes nicht einmal mehr ganz klar, ob sich Costas Partei überhaupt noch als stärkste Partei behaupten kann.
Sie hatte 2019, im letzten Jahr vor der Covid-Pandemie, noch von einem wirtschaftlichen Aufschwung profitiert. Nun fehlt das Gefühl, dass es im Land mit 10,3 Millionen Bewohnern aufwärts geht. Es wächst der Frust über eine Explosion der Mieten, und natürlich drückt die Pandemie auf die Stimmung – obwohl es in Portugal keine breiten Proteste gegen Anti-Covid-Massnahmen gegeben hat. Im Jahr 2021 kamen in Portugal weniger als 80’000 Kinder zur Welt, so wenig wie noch nie, seit es einschlägige Statistiken gibt, und das spricht Bände über das Vertrauen in die Zukunft. Im Wahlkampf der Sozialisten fehlen derweil mobilisierende Themen. Und Themen wie internationale Beziehungen oder der Kampf gegen den Klimawandel bleiben eher kleineren Parteien überlassen. Im Falle einer Niederlage will der 60-jährige Costa als PS-Generalsekretär zurücktreten.
Gegenseitige Schuldzuweisungen
Von 2015 bis 2019 war Costas erste Minderheitsregierung aufgrund von schriftlichen Abkommen mit Linksblock, Kommunisten und Grünen über «gemeinsame Positionen» über die Runden gekommen, vier volle Jahre lang. Nach harten Krisenjahren galt es damals, «das Blatt der Austerität zu wenden» und etwas zu verteilen, was heute nicht mehr so leicht ist. Nach der Wahl von 2019 hatten die Sozialisten keine festen Partner mehr. Nur mit Ach und Krach fand sich im Herbst 2020 eine knappe linke Mehrheit für das Staatsbudget 2021. Ende Oktober 2021 aber stimmten sowohl die einstigen linken Mehrheitsbeschaffer als auch alle bürgerlichen und rechten Parteien gegen den Entwurf für das Budget 2022. Staatspräsident Marcelo Rebelo de Sousa löste das Parlament auf und setzte Neuwahlen an.
Costa ist als geschickter Taktiker bekannt. Er habe in der Hoffnung auf eine absolute Mehrheit bei vorgezogenen Wahlen diese Krise bewusst herbeigeführt und die Verhandlungen über das Budget platzen lassen, sagen Linksblock und Kommunisten. Letztere hätten just ein Budget mit vielen linken Akzenten verworfen und auf «unverantwortliche» Art trotz Pandemie diese Krise provoziert, sagt Costa. Ausgerechnet jetzt, da die EU-Hilfen für die wirtschaftliche Belebung ins Land kämen, seien doch klare Verhältnisse notwendig. Und für politische Stabilität brauche es die absolute Mehrheit, um die Costa nun beinahe bettelt.
Notfalls mit wechselnden Mehrheiten
Und wenn das Stimmvolk den Sozialisten diese Mehrheit versagt? Costas Aussagen zu dieser Frage variieren. In einer TV-Debatte versicherte er, dass er die Mauer zwischen seinem PS und den einstigen linken Partnern, die er 2015 niedergerissen habe, nicht neu errichten wolle. Zugleich machte er aber keinen Hehl daraus, dass er den Mehrheitsbeschaffern von einst nicht mehr traue. Zwar bietet sich der Linksblock als Partner für den Abschluss eines Abkommens über die Regierbarkeit des Landes an. Von möglicher «Konvergenz» nach der Wahl reden die Kommunisten. Bisher aber wollte Costa die Mehrheit für sich. An diesem Montag sagte er aber, dass seine Partei «mit allen Parteien» reden müsse, ausser mit der extremen Rechten.
Es gibt zwischen den Sozialisten und den kleineren linken Parteien natürlich Knackpunkte. Dazu zählen das Arbeitsrecht, die nächsten Etappen für die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns von jetzt 705 Euro und die Stärkung des nationalen Gesundheitsdienstes. Linksblock und Kommunisten riskieren allerdings, an den Urnen für ihr Nein zum Budget bestraft zu werden – und Costa will nicht nur ohne sie auskommen. Auch will er sich nicht in die Abhängigkeit des PSD als grösster Partei der Opposition begeben, obwohl ihr Präsident, Rui Rio die Hand ausstreckt. Denkbar erscheint dabei allenfalls eine Verständigung, aber keine Koalition der zwei stärksten Parteien.
Tierschützer als Partner?
Im Falle eines Sieges hätte Costa die Qual der Partnerwahl. Was könnte er tun? Laut einer Umfrage von Mitte Januar hätten den Sozialisten in dem für sie günstigsten Fall nur drei Mandate zur absoluten Mehrheit gefehlt.
Auf immerhin vier Mandate kam 2019 die junge Partei «Pessoas-Animais-Natureza» (Menschen-Tiere-Natur, PAN), die sich zur Verständigung mit PS wie auch mit PSD anbot. Weil sich PAN in der Abstimmung über das Budget 2022 enthalten hatte, gab es schon mehrmals Lob von Costa, der diese Partei von der Schuld für diese Polit-Krise freisprach. Er räumte ein, dass er mit Duldung von PAN regieren könne. Einen ganz kleinen Partner fände er vielleicht in der linken Splitterpartei «Livre», die sich als europäisch, sozial, progressiv und ökologisch definiert. Sie hatte 2019 erstmals einen Sitz errungen.
Costa räumt aber auch ausdrücklich ein, dass er sich Mehrheiten von Fall zu Fall suchen könne. Mit solch wechselnden Mehrheiten hatte der jetzige Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, als Chef einer sozialistischen Minderheitsregierung 1995–99 eine ganze Legislaturperiode überstanden. Ausgerechnet in dieser Zeit ohne «klare Verhältnisse» qualifizierte sich Portugal für die Startgruppe des Euro.
Auch die Rechte tut sich mit der Arithmetik schwer
Aber auch die Parteien des bürgerlichen und rechten Lagers tun sich mit der Arithmetik nicht leicht. In den letzten Monaten des vergangenen Jahres war der PSD – ein Sammelbecken mit sozialdemokratischen, konservativen und liberalen Strömungen – mehr mit sich selbst beschäftigt als mit den Problemen des Landes. In einem internen Führungsstreit behauptete sich der Ökonom Rui Rio – der nach eigenen Worten nicht «rechts» steht und sich als «katholisch, aber nicht gläubig» definierte – als Parteichef. Als Partner nach einem allfälligen Wahlsieg sieht er den konservativen «Partido Popular» (CDS-PP), die alteingesessene Rechtspartei, die in den Umfragen aber sehr schlecht abschneidet, und die junge «Iniciativa Liberal» (IL), die 2019 erstmals einen Sitz errang. Sie kandidiert mit einem ultraliberalen Programm zur Senkung von Steuern und weniger Staat.
Als unerlässlicher Teil einer rechten Mehrheit sieht sich aber auch rechtsaussen die xenophob-populistische Partei «Chega» («Es reicht»). Ihr bisher einziger Abgeordneter, André Ventura, hofft nicht nur auf Verstärkung im Parlament. Er fordert unter anderem die Einführung der lebenslangen Haft (die Portugal 1884 abschaffte, die Verfassung verbietet sie) für Mord und sexuellen Missbrauch von Kindern. Vor allem mit dem Blick auf Roma-Gemeinden wettert er gegen den Missbrauch von Sozialleistungen durch Personen, die nach seinen Worten nicht arbeiten wollen. Er wettert, obwohl diese Zahlungen nur einen Bruchteil der staatlichen Aufwendungen für die Folgen von Bankpleiten ausmachen.
Splitterparteien hoffen auf Zuwachs
Ventura hofft, dass Chega zur drittstärksten Kraft wird und empfiehlt sich als Vize-Ministerpräsident eines PSD-Chefs Rio, der derartige Angebote zurückweist. Er will Chega auch nicht in eine Regierung aufnehmen, würde die Duldung durch Chega aber nicht verschmähen. Einen «Sündenfall» gibt es schon, auf regionaler Ebene, auf den fernen Azoren. Seit Ende 2020 ist dort eine PSD-geführte Koalition auf Duldung durch Chega angewiesen.
Just auf den Erhalt des jetzigen Rangs als drittstärkste Kraft im Parlament, als symbolischen Sieg über Chega, hofft indes auch der Linksblock. Seine Koordinatorin, Catarina Martins, erklärt die Rivalität um den dritten Platz zu einem Kampf zwischen Toleranz und Hass.
Die zwei grössten Parteien des Landes mögen auf eine Bipolarisierung der Wahl setzen und diese zur Wahl zwischen zwei Kandidaten für das Amt des Regierungschefs stilisieren. Vor allem kleinere Parteien hoffen aber auf einen Zugewinn an Stimmen und Sitzen. Bei der Wahl von 2019 hatten zehn Parteien den Einzug ins Parlament geschafft (bei separater Zählung von Kommunisten und Grünen, die gemeinsam kandieren, aber separate Fraktionen bilden). Im zersplitterten Parlament dürften einige der Splitter wachsen. Ob Staatspräsident Rebelo de Sousa mit der Ansetzung dieser Wahl den Weg zur Schaffung klarer Verhältnisse und von Stabilität geebnet hat, erscheint fraglich.
Auch Covid-Infizierte dürfen wählen
Noch fraglicher ist, ob er diese Wahl für den 30. Januar angesetzt hätte, wenn er die Entwicklung der Pandemie vorgesehen hätte. Am Montag lag die 14-Tage-Indidenz bei 5’263 neuen Fällen je 100’000 Einwohner. Die Zahl der akuten Fälle betrug 509’628. Fast ebenso viele Personen befinden sich in vorsorglicher Isolation.
Erst seit der letzten Woche ist klar, dass Infizierte und Isolierte am Wahltag nicht zu Hause bleiben müssen. Sie dürfen sich in die Wahllokale begeben, auf direktestem Weg, und müssen auf dem direktesten Weg nach Hause zurück. Ihnen wird empfohlen, zwischen 18 und 19 Uhr zu wählen.
Es scheint so, als komme die Pandemie dem inhaltlichen Niveau dieses Wahlkampfes zugute. Es gibt weniger Rummel als sonst. In der ersten Januarhälfte sahen derweil immerhin rund 20 Millionen Frauen und Männer im Fernsehen die rund 30 Debatten zwischen jeweils zwei führenden Figuren der neun im Parlament vertretenen Parteien. In der heissen Schlussphase der Kampagne ziehen die Karawanen der Parteien natürlich durch das Land, die Kandidatinnen und Kandidaten halten aber mehr Abstand als sonst. Würden manche Kandidaten sonst wahrscheinlich Wangenküsschen an Marktfrauen verteilen, bleibt es diesmal bei dem einen oder anderen Tänzchen, meist mit Gesichtsmaske, so lange die TV-Kameras laufen, und Selfies. Im Auto können die Kandidaten zum Desinfektionsmittel greifen.
Der Nutzen dieser Wahl muss sich noch erweisen. Präsident Rebelo de Sousa ist dafür bekannt, dass er mit wenig Schlaf auskommt. Ob er in diesen Tagen weniger schläft als sonst, ist nicht bekannt.
Wie funktioniert das Wahlsystem?
Das Parlament mit Sitz im Lissabonner Palácio de São Bento hat 230 Abgeordnete aus 22 Wahlbezirken – dies sind die 18 Distrikte auf dem Festland, die Inselregionen Azoren und Madeira sowie je ein Wahlkreis für die Landsleute im europäischen Ausland und in Übersee. Laut Verfassung erfolgt die Verteilung der Sitze proportional zur Zahl der Stimmen. Eine Sperrklausel, wie die deutsche Fünfprozentklausel, gibt es nicht, aber der Teufel steckt im Detail, denn in kleineren Wahlbezirken sind sehr viele Stimmen praktisch verloren.
Wie viele Abgeordnete ein jeder Wahlkreis stellt, richtet sich nach der Zahl der Stimmberechtigten. Nur die Auslandswahlkreise sind mit einer festen Zahl von je 2 Abgeordneten in São Bento vertreten. Im Inland entfallen derweil 48 Mandate auf den Distrikt Lissabon, 40 auf Porto, 19 auf Braga im hohen Norden, 18 auf den Distrikt Setúbal, südlich von Lissabon, und 16 auf Aveiro, südlich von Porto. Vor allem in Lissabon und Porto haben auch kleinere Parteien gute Chancen auf die Wahl von Abgeordneten.
Besonders schwer haben es kleine Parteien dagegen im Distrikt Portalegre, der nur 2 Abgeordnete stellt, sowie in Bragança, Guarda, Évora und Beja mit jeweils 3 Mandaten, in Castelo Branco mit 4, in Vila Real und auf den Azoren mit je 5 und in Viana do Castelo und Madeira mit jeweils 6 Abgeordneten. Vor allem die Landflucht und die Verkleinerung des Parlaments von 250 auf jetzt 230 Sitze bei einer Verfassungsrevision im Jahr 1989 haben die Luft für kleinere Parteien dünner gemacht. (tf)