Ihre schlohweissen kurzgeschnittenen Haare sind stets sorgsam gelegt. Mit weit über neunzig trägt sie Haupt und Haar mit einem gewissen Stolz immer noch aufrecht, überlässt an ihrem Äusseren nichts dem Zufall, hat sich so etwas wie einen Hauch von jugendlicher Koketterie bewahrt.
Sie ist so klein und zierlich, dass andere es beim Begrüssungskuss in Zeiten vor Covid-19 kaum wagten, sie zu berühren.
Dabei geht von Annette, mit bürgerlichem Namen Anne Beaumanoir, geboren an der Nordküste der Bretagne unweit von Saint Malo, eine fast ungeheure Kraft aus. Eine Kraft, die aus einem schier unglaublichen, abenteuerlichen und langen Leben herrührt, das sie, allen Gegenwinden trotzend, mit aufrechtem Gang durchlebt hat.
Anne Weber, die Trägerin des Deutschen Buchpreises, die jetzt Anne Beaumanoirs Lebensgeschichte mit viel Takt und der nötigen Distanz in die Form eines Epos in freier Versform gegossen hat, sagt, sie sei in dieser Frau zum ersten Mal in ihrem Leben einer echten Heldin begegnet.
Dieulefit – ein kleines Filmfestival
Die erste der zahlreichen Begegnungen, die die Grundlage für Anne Webers preisgekröntes Werk werden sollten, fand an einem Novembertag 2017 in dem südfranzösischen Städtchen Dieulefit mit seinen gerade mal 3’500 Einwohnern statt, dreissig Kilometer östlich des Rhonetals gelegen, auf der Höhe von Montélimar.
Einer der zahlreichen Vereine dieses Ortes, „Patrimoine, Mémoire, Histoire“ ( PMH) hatte zum dritten Mal sein jährliches dreitägiges Micro-Filmfestival organisiert. Das Thema in jenem Jahr lautete „L’Allemagne d’après“ (Deutschland, danach).
Anne Weber, die seit 1983 in Frankreich lebt und 2015, wie immer in deutscher und französischer Version gleichzeitig, ihren Roman „Vaterland“ veröffentlicht hatte, war am ersten Tag des Festivals als Diskussionsteilnehmerin auf dem Podium anwesend, als es um die Nazivergangenheit Deutschlands und den Umgang der nachfolgenden Generationen damit ging, sowie um etwaige Schuldgefühle der Nachkommen. Frankreichs Presse hatte „Vaterland“ als Werk gelobt, das mit historischem Tiefgang der Frage nachgehe, was es bedeute, in der heutigen Zeit Deutscher oder Deutsche zu sein.
Die damals 94-jährige Anne Beaumanoir, seit gut dreissig Jahren in der Nähe von Dieulefit zu Hause, sass an diesem Abend unter knapp hundert Interessierten im Publikum, griff sich dann während der Diskussion irgendwann das Mikrophon und sprach und sprach, konzentriert und fast druckreif, über die Zeit des Nationalsozialismus, über Widerstand, Mut und Schwächen, Gerechtigkeit und Unrecht und über die Notwendigkeit, die Erinnerung an diese Zeit zu bewahren und sich gegen ein Wiederaufkommen totalitärer Tendenzen in unseren Gesellschaften zu wehren.
Anne Weber, die Autorin, fühlte sich, wie sie am Ende ihres Epos drei Jahre später kurz einfliessen lässt, nach Annettes Auftritt damals reichlich klein und unbedeutend. Doch ein Funken war übergesprungen an diesem Abend, zwischen Autorin und ihrer künftigen Heldin.
Für die Anwesenden aus Dieulefit im Zuschauerraum war Anne Beaumanoirs Ansprache dagegen nichts Neues, denn es gab an diesem Ort in den Jahren davor kaum eine Veranstaltung mit Publikum, bei der Annette, wie sie in diesem Ort fast liebevoll genannt wird, nicht aufgestanden wäre und das Wort ergriffen hätte – immer, wenn es um Themen wie Totalitarismus, Faschismus, Unterdrückung oder Menschenrechte ging. Und immer wieder hörte man dieser engagierten weisen Frau mit ihrer festen, etwas rauchigen Stimme gerne zu. Noch bis vor wenigen Jahren war sie auch regelmässig in Schulklassen zu Gast, um Zeugnis abzulegen, um über die Zeit der nationalsozialistsichen Besatzung Frankreichs und ihr Leben im Widerstand zu sprechen.
In den letzten Jahren hat sie sich in Dieulefit für die Aufnahme syrischer Flüchtlinge stark gemacht. Und als sich dort bei den Kommunalwahlen im Frühjahr eine Liste präsentierte, die die Themen Ökologie, Transparenz und partizipative Demokratie auf ihre Fahnen geschrieben hatte, akzeptierte Annette, wie selbstverständlich, den Vorsitz des Unterstützungskomitees. Die Liste „Dieulefit Ensemble“ gewann mit 20 Prozent Vorsprung.
Mit Siebzehn in den Widerstand
Es ist kein Zufall, dass Anne Beaumanoir jetzt seit Jahrzehnten gerade in der Nähe von Dieulefit lebt, dem Städtchen, das in Frankreich zwischen 1939 und 1944 zu einer der Hochburgen des zivilen Widerstands gegen die Nationalsozialisten und das Vichy-Regime geworden war. 1’500 politisch Verfolgte oder Juden, darunter viele Kinder, hat der Ort in jenen Jahren beschützt, ernährt und letztlich gerettet und keiner in der Kleinstadt hat jemals etwas verraten. Dieser gute Geist von Dieulefit hat teilweise bis heute überlebt. „Ein Ort“, wie der Dichter Pierre Emmanuel nach Kriegsende schrieb, „an dem niemand ein Fremder ist“ (Dieulefit où nul n’est étranger). Wie geschaffen für Anne Beaumanoirs letzten Lebensabschnitt. Sie fand dort ein Haus, das bis dahin einem Rechtsanwalt gehört hatte, der Anfang der 60er-Jahre vor französischen Gerichten Mitglieder der algerischen Befreiungsfront FLN verteidigt hatte.
Auch dies, wie man sehen wird, kein Zufall.
Anne Beaumanoirs aussergewöhnlich turbulentes Leben hat in der Zeit der Besatzung Frankreichs durch Hitlers Truppen seinen Anfang genommen. Sie war noch keine siebzehn, als Marschal Pétain am 22. Juni 1940 den Waffenstillstand mit den Nationalsozialisten unterzeichnete und die Unterwerfung – zunächst nur der gesamten nördlichen Hälfte Frankreichs unter das Hitlerregime – akzeptierte.
Ein Jahr später stiess die junge Bretonin aus einfachen Verhältnissen, mit einem Vater, der den Sozialisten nahestand, als frischgebackene Medizinstudentin in Rennes zum französischen Widerstand. Nach einem weiteren Jahr schickte die kommunistische Widerstandsgruppe diese extrem jung aussehende Annette in die Hauptstadt Paris. Es folgten Stationen in Lyon, Marseille und Botendienste im ganzen Land, welche sie damals schon, wenn auch nur ganz kurz, in die Umgebung von Dieulefit führen sollten.
In ihrer Pariser Zeit im Untergrund, als sie, noch keine zwanzig, im Widerstand ihre erste grosse Liebe, einen jungen deutschen Juden, kennen gelernt hatte, schwanger geworden war und abgetrieben hatte, tat Anne Beaumanoir dann etwas, das die strenge Disziplin der kommunistischen Untergrundbewegung strikt untersagte. Sie ergriff, gemeinsam mit ihrem wenige Monate später von französischen Nazikollaborateuren ermordeten Gefährten, Eigeninitiative. Etwas, das von den Genossen zu jener Zeit als „Individualismus“ verurteilt wurde.
Informiert über die bevorstehende Pariser Grossrazzia gegen Juden Mitte Juli 1942, brachten die beiden jungen Menschen ein jüdisches Geschwisterpaar zunächst in einem Pariser Vorort in Sicherheit, bevor Annette, wie selbstverständlich und trotz aller Schwierigkeiten und Gefahren, die zwei jüdischen Jugendlichen zu ihren Eltern in die Bretagne brachte, wo beide die Zeit der deutschen Besatzung überleben sollten. Anne Beaumanoir wurde dafür Jahre später von Yad Vashem zur Gerechten unter den Nationen ernannt.
Allzu ruhige Nachkriegszeit
Ihr Leben als Erwachsene, das so turbulent begonnen hatte, sollte nach Kriegsende in Marseille nur für knapp zehn Jahre in ruhigeren Bahnen verlaufen. Irgendwie hatte sie ihr Medizinstudium zu Ende gebracht, einen Arzt aus dem Grossbürgertum der Hafenstadt am Mittelmeer geheiratet, zwei Kinder geboren und als Ärztin zu arbeiten begonnen. Sie wurde sehr schnell zu einer angesehenen Neurologin und lebte mit der Familie, erstmals seit langem ohne finanzielle Sorgen, in einer herrschaftlichen Stadtwohnung.
Doch für Annette war das offensichtlich nicht ausreichend. Bis Mitte der 50er-Jahre war sie nebenbei auch noch ein sehr überzeugtes und aktives Mitglied in einer Zelle der Kommunistischen Partei, bis sie, die Rebellin, sogar noch vor dem sowjetischen Einmarsch in Ungarn 1956, das autoritäre Gehabe der Parteioberen und die mangelnde innerparteiliche Demokratie in der KP nicht mehr ertragen konnte und ihre Mitgliedskarte zurückgab.
Erneut in der Illegalität
Und dann waren da in jener Zeit aber auch noch die sogenannten „Ereignisse“ in Algerien, die man erst Jahrzehnte später als Krieg bezeichnen sollte. Im November 1954 hatte der algerische Befreiungskrieg begonnen, der fast acht Jahre dauern sollte.
Für Annette war schnell klar, auf welcher Seite sie in diesem Konflikt stehen würde. Zumal als nach und nach bekannt wurde, dass die französische Armee nach Bombenanschlägen des FLN in Algerien begonnen hatte, Foltermethoden anzuwenden, die Bevölkerung in manchen Regionen in Lager zwang und algerische Gefangene reihenweise von hinten erschoss oder aus Hubschraubern warf. Was die Gestapo während der deutschen Besatzung getan hatte, praktizierte nun die französische Armee.
Für Annette war das zu viel, sie musste tätig werden, sich in Gefahr begeben und schloss sich einer Gruppe an, die in Frankreich aktiv den FLN unterstützte.
Schluss mit dem grossbürgerlichen Leben. Ihr Mann und befreundete Familien kümmerten sich um die beiden Kinder, während Annette unterwegs war. Quer durch Frankreich transportierte sie beachtliche Geldsummen für die Nationale Befreiungsfront Algeriens FLN, oder aber Personen, die unter falscher Identität lebten, auf Nebenstrassen im Auto quer durch ganz Frankreich von A nach B. Und manchmal waren wohl auch Waffen im Kofferraum.
1959 geriet sie, wahrscheinlich durch Verrat, in eine Polizeikontrolle, wurde verhaftet, zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt und landete in der berüchtigten Haftanstalt von Marseille, „Les Baumettes“. Mit einer der algerischen Mitgefangenen von damals ist sie bis heute befreundet.
Doch Annette wäre nicht Annette, wenn sie nicht auch in dieser Situation eine Lösung gefunden hätte. Zugegeben, sie hatte Glück. Denn sie war hochschwanger, erwartete ihr drittes Kind und durfte unter Hausarrest in ihre Wohnung zurück. Und in den Wochen vor und nach der Geburt fand sich eine Lösung. Ein unbewachter Kellerausgang in einer winzigen Nebengasse am Haus.
Ganz oben und ganz unten in Algerien
Annette liess erneut ihren Mann und ihre jetzt drei Kinder – das Neugeborene war nur wenigen Wochen alt – zurück und gelangte mit Hilfe von Freunden via Rom nach Tunis, wo die provisorische Regierung Algeriens ihre Zelte aufgeschlagen hatte. Und mit dieser ging Anne Beaumanoir Anfang Juli 1962, am Tag der Unabhängigkeit, nach Algerien, wurde dort unter Präsident Ben Bella die Nummer zwei im neu geschaffenen Gesundheitsministerium, mit der Aufgabe betraut, das Gesundheitssystem aufzubauen.
Die bis in die jüngste Zeit passionierte Autofahrerin, die ihren bordeauxroten Fiat Punto immer noch zielsicher und ohne Brille durch Dieulefit chauffiert, war damals im Rahmen ihrer Arbeit in Algerien zehntausende Kilometer unterwegs. Als hohe Mitarbeiterin des Gesundheitsministerium hatte sie selbstverständlich einen Chauffeur. Doch Annette setzte sich regelmässig selbst ans Steuer. Nur vor jedem Dorf oder jeder Stadt musste sie kurz anhalten und die Plätze tauschen, worum sie der Chauffeur flehentlich gebeten hatte. Er hätte es nicht ertragen, dabei gesehen zu werden, wie er sich von einer Frau chauffieren lässt.
Annette kennt fast alle der noch lebenden Granden des FLN und es ist köstlich, wenn sie etwa über den langjährigen algerischen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika und dessen Bruder mit einer schönen Portion Verachtung aus dem Nähkästchen plaudert. Beide hat sie nach der algerischen Unabhängigkeit 1962 in Algier als Jungspunde erlebt, die mit Revolution nicht viel am Hut, sondern vor allem Feste, Feiern, Frauen, Geld und grosse Autos im Kopf hatten. Aber sie gehörten damals eben schon zum Clan der neuen Mächtigen in Algerien. Jedoch eher auf der Seite von Boumedienne, der Algeriens ersten Präsidenten, Ben Bella, 1965 mit Hilfe des Militärs stürzen sollte.
Ben Bellas Sturz war auch für Anne Beaumanoir das Ende ihrer algerischen Zeit. Erneut war sie in Lebensgefahr und erneut musste sie untertauchen. Monatelang blieb sie versteckt, bevor sie es über Tunis nach Europa schaffte. Nach Frankreich konnte sie nicht zurück, also ging sie nach Genf und arbeitete dort für lange Jahre, bis zu ihrer Begnadigung, als Leiterin der neurologischen Abteilung eines Krankenhauses. Erst in den 70er-Jahren konnte sie wieder nach Frankreich zurück.
Die Begegnung am dritten Tag
Dass Anne Beaumanoir nun zur Heldin des Epos von Anne Weber geworden ist, schuldet die geneigte Leserschaft dem Ende des dreitägigen Filmfestivals zu Dieulefit Mitte November 2017. Am letzten Abend hatten die Organisatoren alle Teilnehmer zum Essen ins Restaurant geladen, und natürlich war als Ehrengast auch Anne Beaumanoir zugegen. Und diese Gelegenheit hat sich Anne Weber damals glücklicherweise nicht entgehen lassen. Man sieht noch, wie sie sich unter den rund 25 Gästen bemühte, den Platz neben Annette zu ergattern. Sie hat sich an diesem Abend ihre Heldin geschnappt und sie danach nicht mehr losgelassen, im lauten Rund fürs erste, vor Tintenfisch oder Entenbrust, zwei Stunden lang ihr Ohr an Annettes Mund gehalten und immer wieder in diese hellblauen Augen geblickt, die offen sind, abwartend, nur manchmal durchdringend und immer beobachtend, Augen, die Bände sprechen und denen man nichts erzählen kann.
Weniger als drei Jahre später sollte „Annette, ein Heldinnenepos“ erscheinen.
Doch Annette hat noch nicht ausgekämpft. Man weiss nicht, ob sie sich über den Deutschen Buchpreis für Anne Weber wirklich freuen konnte oder was sie davon mitbekommen hat. Vor mehreren Wochen hat sie einen Hirnschlag erlitten, ist danach in ihrem Krankenhauszimmer zwei Mal gestürzt – und doch: zu 90 Prozent, so hört man aus Dieulefit, hat sie ihre mentalen Fähigkeiten wiedererlangt.
2000 hatte die damals bereits 77-jährige Anne Beaumanoir ihr rasendes Leben in einer Art Autobiographie niedergelegt unter dem langen Titel: „Le Feu de la Mémoire: la Résistance, le Communisme et l’Algérie. 1940–1965“. Das Buch liegt seit diesem Jahr auch auf deutsch in einer zweibändigen Ausgabe vor unter dem Titel „Wir wollten das Leben verändern“.
Der Investigativjournalist und Filmemacher Denis Robert hat 2018 zusammen mit seiner Frau einen Film über Anne Beaumanoir produziert unter dem Titel „Une vie d’Anette“.