„Ja zur direkten Demokratie, Ja zur Selbstbestimmung“ – der Text auf den Plakaten der SVP klingt gut. Welcher Schweizer ist gegen die direkte Demokratie? Doch die Aussage der Plakate ist irreführend. Unsere Demokratie würde durch ein Ja zur SVP-Initiative erschüttert. Dem Bundesgericht würden Schranken gesetzt, und die Einwohner der Schweiz könnten nicht mehr an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gelangen, wenn sie den Eindruck haben, vor den hiesigen Gerichten nicht zu ihrem Recht gekommen zu sein.
Um unsere Rechte durchzusetzen, ist der Weg nach Strassburg nötig
In unserer schönen Bundesverfassung sind die Menschenrechte aufgeführt. Doch diese Rechte, beispielsweise jenes auf ein gerechtes Verfahren, kann vor Bundesgericht nicht erstritten werden: in der Schweiz gibt es kein Verfassungsgericht. Deshalb besteht einzig die Möglichkeit, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg anzurufen.
Ein aufschlussreiches Beispiel. Hans Moor (*), ein Turbinenmonteur, ist 2005 infolge eines Tumors, verursacht durch Asbeststaub, gestorben. In den 60er und 70er Jahren revidierte er Dampfturbinen. Diese waren, um den Wirkungsgrad zu steigern, durch einen Asbestmantel isoliert, den der Monteur jeweils wegkratzen musste. Moor war deshalb oft dem Asbeststaub ausgesetzt. Erst 1994 wurde die Verwendung von Asbest in der Schweiz verboten. 2003, Moor war 55-jährig, erkrankte er: Atembeschwerden. Eine Lungenoperation im folgenden Jahr war erfolglos, die Schmerzen nahmen zu; auch die Chemotherapie und danach die Bestrahlung brachten keine Linderung der starken Schmerzen und der Atemnot. Nach langem Leiden starb der Asbestkranke im Oktober 2005.
Mit der Klage bei den Gerichten abgeblitzt
Vor seinem Tod hatte Moor eine Zivilklage gegen Alstom eingereicht, welche die Rechtsnachfolgerin der Maschinenfabrik Oerlikon war, für welche der Monteur ursprünglich gearbeitet hatte. Seine Vorwurf: er und seine Arbeitskollegen seien nicht über die Gefährlichkeit von Asbest informiert und es seien keine Schutzmassnahmen veranlasst worden. Das Unternehmen entgegnete, „das Ereignis“ sei längst verjährt. Der Einwand des Kranken, entscheidend könne nur der Beginn der Erkrankung sein, denn zuvor habe er ja gar nicht klagen können, liess das Gericht jedoch nicht gelten. Mit Verweis auf die geltende Bundesgerichtspraxis lehnte es die Klage ab. Die Witwe Moor und die beiden Töchter zogen die Klage weiter und klagten auch gegen die Suva, denn diese soll bereits Ende der fünfziger Jahre gewusst haben, dass Asbest gefährlich war. Trotzdem bestätigte das Bundesgericht, die Verjährungsbestimmungen seien bewusst so ausgestaltet wurden, denn man könne einen Schuldner (in unserem Fall den Arbeitgeber) nicht auf unbestimmte Zeit im Unklaren lassen, ob er einem Geschädigten irgendwann eine Wiedergutmachung zu leisten habe. Eine Richterin war mit dem Entscheid nicht einverstanden; sie war in der Minderheit.
Dank Strassburg wurden die Asbestopfer entschädigt
Die Angehörigen ergriffen die letzte Möglichkeit und wandten sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und innert kurzer Zeit bestand ihre Klage die Vorprüfung. Nach einiger Zeit, im März 2014, gab das Gericht der Familie Moor recht: Die Richter in Strassburg waren der Ansicht, dass die bundesgerichtliche Praxis der Verjährungsfrist den fairen Zugang zu einem Gericht missachtete; auch Asbestopfer hätten das Recht, auf wirkungsvolle Klagen. Danach wies das Bundesgericht in Lausanne das Arbeitsgericht in Baden an, sich mit dem Fall zu befassen.
Die Parteien einigten sich auf einen Vergleich, bevor ein Urteil ausgesprochen wurde: die Angehörigen von Hans Moor erhielten eine Entschädigung. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte brachte einiges in Bewegung: Bundesrat Berset liess einen Runden Tisch gründen, und unter der Leitung von alt Bundesrat Leuenberger wurde nach einer Lösung für die Asbestopfer gesucht. 2017 wurde die „Stiftung Entschädigungsfonds für die Asbestopfer“ gebildet, worauf die Opfer und ihre Angehörigen auf relativ unbürokratische Weise entschädigt wurden.
Kritik an der Schweiz nur ausnahmsweise
Dieser Fall zeigt, dass die Strassburger Richter Lücken und Mängel im schweizerischen Recht korrigieren können. Die Leser sollten jedoch nicht denken, dass die Schweiz oft kritisiert und verurteilt werde. Im Gegenteil: 98,4% der Klagen aus der Schweiz bestehen die Vorprüfung nicht oder werden abgewiesen. Der Gerichtshof anerkennt, dass die Schweiz die Menschenrechte weitgehend beachtet und schützt.
Die kleine Schweiz ist auf das internationale Recht angewiesen
Eine folgenschwere Forderung der SVP-Initiative besagt: „Die Bundesverfassung steht über dem Völkerrecht und geht ihm vor, unter Vorbehalt der zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts“ wie Folter. Das schafft grosse Unsicherheit. Die Schweiz ist ein kleines Land, weshalb sie auf internationale Abkommen angewiesen ist. Dabei haben alle Vertragspartner die gleichen Rechte und, sofern eine Partei einige Bestimmungen missachtet, kann sie zur Vertragstreue verpflichtet werden. Unser Land kann – im Unterschied zur Weltmacht USA – ihren Standpunkt nicht alleine und mit Drohungen durchsetzen, sie muss sich auf das international geltende Recht verlassen können.
economiesuisse: SVP-Initiative setzt Beziehungen zu wichtigen Partnern aufs Spiel
Die Schweiz hat über 4’000 Abkommen ausgehandelt, die vom Parlament ratifiziert sind. Viele betreffen den internationalen Handel. Rund 130 Abkommen sind zum Schutz der Investitionen in andern Ländern abgeschlossen worden. Im Falle von Enteignungen verlangen sie eine angemessene Entschädigung, nicht eine vollständige, wie es die Bundesverfassung vorsieht. Diese Abkommen entsprechen deshalb nicht dem schweizerischen Recht, müssten also gekündigt werden. Es ist leicht vorstellbar, was das für die Schweizer Unternehmen, ihre Angestellten und, ganz allgemein, für die Wirtschaft bedeuten würde. Es ist deshalb nicht überraschend, dass der Präsident von economiesuisse, Heinz Karrer, in einem Interview mit der „Basler Zeitung“ die SVP-Initiative klar ablehnt. Weiter stellte der Wirtschaftsführer fest, dass bilaterale Wirtschaftsbeziehungen für den Erfolg des Exportlandes Schweiz von zentraler Bedeutung seien. Die Selbstbestimmungsinitiative greife dieses Erfolgsmodell an und setze die guten Beziehungen zur EU und anderen wichtigen Märkten leichtfertig aufs Spiel. Gleicher Meinung ist auch der Schweizerische Gewerbeverband.
Die Selbstbestimmungsinitiative ist gefährlich weil sie Misstrauen säht und Unsicherheit schafft für die Vertragspartner, obschon die Schweiz bisher ein sehr vertrauenswürdiger Partner war. Niemand weiss, wie viele Abkommen gekündigt werden müssten. Diese Bedrohung wäre ein Hindernis vor allem für die exportorientierte Wirtschaft. Überdies könnten einzelne Menschen aus der Schweiz nicht mehr vor dem Gerichtshof in Strassburg klagen, und die Menschenrechtskonvention müsste früher oder später wohl gekündigt werden. Darüber würden sich namentlich jene Staaten freuen, welche die Menschenrechte nicht respektieren wie Russland, Polen und Ungarn. Aber wollen wir jenen europäischen Ländern einen Gefallen tun, welche die Demokratie verachten?
(*) Aus dem Buch „Frau Huber geht nach Strassburg“ von Kilian Meyer und Adrian Riklin, WoZ-Verlag, CHF 22.--.