Die «Allianz der Zivilgesellschaft» gegen die Selbstbestimmungs-Initiative vergleicht diese sehr treffend mit dem Trojanischen Pferd aus der griechischen Antike. Anstelle der griechischen Krieger, die sich in diesem in die Stadt einschlichen und so Troja eroberten, wollen sich darin Parteisoldaten der SVP listig verstecken, um mit neuen Bundesverfassungsbestimmungen, einmal in diese eingeschleust, unseren Rechtsstaat von innen her aus den Angeln zu heben. Modern gesprochen liegt ein eigentlicher Trojaner vor, der unsere bewährte demokratische Software nachhaltig beschädigen soll.
Die nur so genannte Selbstbestimmungsinitiative hat nichts mit der Wahrung unserer Selbstbestimmung, nichts mit einer angeblichen Rettung der direkten Demokratie und nichts mit der Abwehr von fremden Richtern zu tun. Entscheidend ist der Wortlaut der Verfassungsänderungen gemäss dem Initiativtext und nicht die anderslautende Abstimmungspropaganda.
Gemäss ihrem Initiativtext will die SVP das Völkerrecht und den Schutz der Grund- und Menschenrechte in der Schweiz wie auch die Gewaltenteilung als die Grundlagen echter Demokratie, teilweise recht verdeckt, aufheben. Das lässt sich rechtlich mehrfach belegen. Und um Recht und Rechtsetzung geht es bei Volksinitiativen auf Änderung der Bundesverfassung, weshalb unsere direkte Demokratie mit solchen gefährdet ist, wenn nicht die rechtlichen Fragen aufgezeigt und erörtert werden, sondern im Abstimmungskampf nur mit Schlagworten gekämpft wird.
Im Übrigen hat die Volksinitiative auch nichts mit einem allfälligen Rahmenabkommen der Schweiz mit der EU oder mit dem Gerichtshof der EU, der wir nicht angehören, in Luxemburg zu tun. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte des Europarates in Strassburg (EGMR), dem wir angehören, darf nicht mit jenem (EUG) verwechselt werden. Sollte das Rahmenabkommen mit Bestimmungen abgeschlossen werden, die der SVP-Initiative widersprechen, so würde auch eine angenommene Selbstbestimmungs-Initiative Volk und Stände nicht daran hindern, dieses zu ratifizieren. Denn nach der eigenen Auffassung der SVP würde dieses spätere Recht in jedem Fall das frühere ihrer Initiative brechen.
Widerspruch in sich
Das Völkerrecht ist die rechtliche Ordnung, die die Grundlage für friedfertige Beziehungen unter den Völkern und Staaten bildet. Könnte sich jeder Staat, wie die SVP-Initiative es verlangt, bei einem Widerspruch zu seiner Verfassung – und sogar bei einem erst nachträglich geschaffenen solchen Widerspruch – ohne weiteres auf ihr Landesrecht berufen, um das Völkerrecht missachten zu können, wäre das Völkerrecht gar nicht die rechtliche Ordnung, die es sein will und tatsächlich ist.
Landesrecht absolut vor das die einzelnen Staaten übergreifende Völkerrecht stellen zu wollen, bedeutet daher, die Verbindlichkeit von Völkerrecht auszuschalten. Es kann seltene gerechtfertigte Ausnahmen eines Vorrangs von Landesrecht geben; solche aber zur Regel machen zu wollen, indem das Völkerrecht zwar zu beachten ist, Landesrecht aber Vorrang haben soll (Initiativtext Art. 5 Abs. 4), ist ein Widerspruch in sich.
Das Wiener Abkommen über das Recht der völkerrechtlichen Verträge, welches alle Staaten angenommen haben, bestimmt denn auch ausdrücklich, dass kein Staat sich auf sein Landesrecht berufen kann, um abgeschlossene Verträge zu verletzen. Daran müssen wir uns halten – und daran halten wir uns als gute Schweizerinnen und Schweizer auch. Würde die Initiative angenommen, stünde vorab dieser Vertrag im Widerspruch zu unserer geänderten Bundesverfassung und müsste daher gekündigt werden, weil Verhandlung zum genannten Grundsatz undenkbar sind. Das führte dann dazu, dass diese wesentlichste Grundlage für alle bestehenden und auch für neue Völkerrechtsverträge, die die Schweiz abschliessen wollte, dahinfiele.
Fehlende Selbstbestimmung und «fremde Richter»?
Mit ihrer Ablehnung des Völkerrechts lehnt die SVP-Initiative in erster Linie die internationale Grundlage für unsere Selbstbestimmung ab, die uns und allen Staaten in der UNO-Charta garantiert ist. Die Eidgenossenschaft konnte 1291 «fremde Richter» – was damals klar nur fremde Landesherren bedeutete – nur ablehnen, weil der Kaiser ihr das Privileg der Reichsunmittelbarkeit verliehen hatte, so wie heute die Uno-Charta der Schweiz die Selbstbestimmung sichert. Wer sich der wirkmächtigen Ablehnung «fremder Richter» in unserem Bundesbrief bedient, sollte dies nicht verantwortungslos entgegen dem tun, wie Stauffacher im Schillerschen Wilhelm Tell dies auffasste. Dort heisst es: «Nicht unter Fürsten bogen wir das Knie, freiwillig wählten wir den Schirm der Kaiser. (...) Denn herrenlos ist auch der Freiste nicht, ein Oberhaupt muss sein, ein höchster Richter, wo man das Recht mag schöpfen in dem Streit.»
Die Schweiz ist entgegen dem, was die nur so genannte Selbstbestimmungs-Initiative suggeriert, selbstbestimmt und dies gerade auch in Sachen Völkerrecht. Wir bestimmen gemäss den demokratischen Regeln unserer Bundesverfassung – die klar auch in dieser Hinsicht unser höchstes Gesetz ist – selber, welches Völkerrecht wir vertraglich übernehmen und welches nicht.
So haben wir selbstbestimmt die zahlreichen für uns als Kleinstaat überlebenswichtigen völkerrechtlichen Wirtschaftsverträge abgeschlossen und ebenso die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und ihren Gerichtshof in Strassburg angenommen, wo so nicht fremde, sondern von uns selbst gewählte Richter ihres wichtigen unabhängigen Amtes für ganz Europa walten. Nur Aserbeidschan unterzieht sich dem nicht.
Menschenrechte vor Bundesgesetzen
Das Bundesgericht tut nichts anderes als verfassungs- und pflichtgemäss dieses demokratisch gesetzte Recht anzuwenden, wenn es in langer konstanter Rechtsprechung die völkerrechtlichen Menschenrechtsgarantien über die Bundesgesetze setzt. Von einem «einsamen» Entscheid allein einer Abteilung des Bundesgerichts, wie die Initianten behaupten, kann dabei keine Rede sein. Die Grund- und Menschenrechte sollen uns gerade vor unzulässigen Eingriffen durch Bundesgesetze (wie aktuell z. B. mit einer Überwachung von uns allen als Versicherte im Gesetz, über das wir auch am 25. November abstimmen) schützen.
Die Menschenrechte müssen daher stets und gerade auch gegenüber späteren partikularen Verfassungsbestimmungen und Gesetzen vorgehen, sonst würden sie ihren Zweck überhaupt nicht erfüllen. Das ist die bewährte sog. Schubert-Praxis, die bewusste Abweichungen von Völkerrecht durch den Gesetzgeber ausnahmsweise zulässt, solche aber bei den Menschenrechtsgarantien ausschliesst und konsequenterweise ausschliessen muss. Wer das Gegenteil fordert, will unseren demokratischen Rechtsstaat aushöhlen.
Kein genügender Grund- und Menschenrechtsschutz
«Bundesgesetze und Völkerrecht» sind gemäss Art. 190 der Bundesverfassung für die Gerichte «massgebend», nicht aber diese selber; so unverständlich das auch ist. Daher müssen unsere Gerichte aber Bundesgesetze anwenden, auch wenn sie verfassungswidrig sind. In der gleichen Bestimmung werden das Völkerrecht und damit die völkerrechtlichen Menschenrechtsgarantien wie die der EMRK jedoch ausdrücklich neben den Bundesgesetzen als massgebend erklärt.
Nur dank dieser Bestimmung in unserer Bundesverfassung können wir uns in der Schweiz genügend gegen unverhältnismässige Eingriffe in unsere Grund- und Menschenrechte wehren. Gerade dieses Abwehrrecht will die SVP mit einer Änderung der genannten Bestimmung abschaffen. Insbesondere die EMRK, die 1974 noch nicht dem Referendum unterstand, soll als für unsere Gerichte nicht mehr massgebend erklärt werden. Dies ist in Tat und Wahrheit so, auch wenn die SVP das Gegenteil behauptet und diese Auswirkung ihrer Initiative eher zu verstecken sucht.
Eigene, nicht «fremde» Richter ausgeschaltet
Würde dieser Änderung unserer Bundesverfassung zugestimmt, bedeutete dies somit, dass unsere (!) Gerichte uns nicht mehr vor unverhältnismässigen Eingriffen durch Bundesgesetze in unsere Grund- und Menschenrechte schützen könnten. Allein gestützt auf die Bundesverfassung können sie dies nicht, und die EMRK dürften sie nicht mehr anwenden.
Nicht die «fremden», sondern allein die eigenen Richter würden so ausgeschaltet und damit auch hier das Gegenteil erreicht von dem, was die Initianten vorgeben erreichen zu wollen. Der Zugang aus der Schweiz mit Beschwerden an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg, gegen den gewettert wird, bliebe nämlich bestehen, da die Initiative eine Kündigung der EMRK nicht verlangt. Das haben die Initianten nicht richtig durchdacht.
Aufhebung der Gewaltenteilung
«Wenn die Bürgerinnen und Bürger und das Parlament entschieden haben, dass kriminelle Ausländer ausgeschafft werden müssen», dann dürfe nicht ein Richterspruch dies verhindern, sagt die SVP. Bei uns hätten die Bürgerinnen und Bürger das letzte Wort, damit seien wir gut gefahren, das habe uns zu einem erfolgreichen Land gemacht.
Nun ist es aber so, dass das Parlament und bei einem Referendum das Volk die Gesetze erlassen (Legislative), der Bundesrat diese vollzieht (Exekutive) und die Gerichte sie anwenden (Judikative). Diese Gewaltenteilung ist so in der Bundesverfassung festgelegt. Deshalb haben gerade nicht Parlament und Bürgerinnen und Bürger und schon gar nicht selbst ernannte Sprecher für das ganze Volk das letzte Wort dazu, wann im Einzelfall straffällig gewordene Ausländer oder Ausländerinnen unser Land zu verlassen haben oder bei unverhältnismässigen Eingriffen in deren garantierte Menschenrechte ebenfalls nicht.
Das entscheiden hier wie in allen anderen Fällen der konkreten Gesetzesanwendung unsere Gerichte, in letzter Instanz das Bundesgericht in Lausanne und gegebenenfalls der EGMR in Strassburg, nachdem wir mit der Ratifizierung der EMRK allen Menschen in der Schweiz das Recht eingeräumt haben, auch an dieses zu gelangen, wenn ihre Grund- und Menschenrechte verletzt werden.
Und damit sind wir sehr gut gefahren, bis hin zur Einführung unseres Stimmrechts auch für Frauen als Vorwirkung, wie auch mit allen darauf zurückzuführenden segensreichen Rechten und Pflichten der Bürgerinnen und Bürger im Grundrechtskatalog unserer Bundesverfassung und in weiteren völkerrechtlichen Konventionen.
Wenn unsere Gerichte die völkerrechtlichen Menschenrechtsgarantien namentlich der EMRK anwenden und behördliche Entscheide, die diesen widersprechen, gegebenenfalls als unzulässig aufheben, so handeln sie nur strikt nach unserer Bundesverfassung. Das ändern zu wollen, bedeutete die für den demokratischen Rechtsstaat grundlegende Gewaltenteilung mit ihrer bewährten Ausbalancierung der staatlichen Macht aufzuheben.
«Hütet euch am Morgarten»
Wir Schweizer und Schweizerinnen werden uns und unseren Mitbewohnern aber unsere Freiheit und Selbstbestimmung – die von Grund- und Menschenrechten und nicht von populistischen Politikern gesichert sind – nicht einschränken lassen. Die Argumente und das teilweise Loblied der Initianten auf diese Rechte, während sie deren richterlichen Schutz und die Gewaltenteilung aufheben wollen, lassen sich an Irreführung kaum überbieten. Deshalb: «Hütet euch am Morgarten» am 25. November! Die Initiative ist ein Trojanisches Pferd, das wir nicht in unseren Staat hineinlassen dürfen.
Die zur Abstimmung gelangende Volksinitiative beweist, dass unsere direkte Demokratie sehr gut funktioniert, sonst könnte die SVP nicht, selbst allein auf weiter Flur, verlangen, dass man Völkerrechtsverträge jederzeit auch brechen können müsse und dass die EMRK und ihr richterlicher Rechtschutz nicht weiter gelten solle. Sie müssen aber den Stimmberechtigten auch das Recht belassen, dazu – ihre List durchschauend – klar nein zu sagen.