Das Modell stiess in der EU anfangs auf viel Misstrauen. Sechs Jahre lang regierten die Sozialisten, mit Unterstützung oder Duldung durch kleinere linkere Parteien, und dem Land ging es dabei gar nicht so schlecht. Weil das linke Modell in der Abstimmung über das Staatsbudget 2022 nicht mehr funktioniert hat, steuert das Land wohl auf Neuwahlen zu.
Es sei das beste und das linkste Staatsbudget der letzten sechs Jahre gewesen, hatte die sozialistische Abgeordnete Ana Catarina Mendes am Mittwochabend noch im Lissabonner Parlament beschworen. Aber sie wusste, dass nach der Debatte über den Entwurf der sozialistischen Minderheitsregierung für das Staatsbudget 2022 gutes Zureden nicht mehr helfen würde. Eine halbe Stunde später war die politische Krise nicht mehr wegzudiskutieren, weil eine Mehrheit von 117 der 230 Abgeordneten gegen die Vorlage votiert hatte. Für diesen Fall hatte Staatspräsident Marcelo Rebelo de Sousa schon einige Tage zuvor die Auflösung des erst vor gut zwei Jahren gewählten Parlaments und die Ansetzung vorzeitiger Neuwahlen angekündigt.
Bruch diesmal unvermeidlich
Für das Budget stimmten nur die 108 Abgeordneten des Partido Socialista (PS) von António Costa, seit 2015 Regierungschef. Dagegen votierten nicht nur, wie von vornerein nicht anders zu erwarten, alle 86 Abgeordnete des bürgerlichen und rechten Lagers, sondern auch die des Linksblocks (19), der Kommunisten (10) und der Grünen (2), bei 5 Enthaltungen. In den letzten sechs Jahren hatten die Budgetentwürfe stets dank linker Stimmen oder Enthaltungen die parlamentarischen Hürden genommen. Was lief diesmal schief?
Das Gerangel um das Budget hat in den letzten Jahren zur Polit-Folklore gehört. Was die PS-Regierung in ihre Entwürfe schrieb, ging den linkeren Parteien anfangs nie weit genug. Nach Zugeständnissen der Sozialisten in Detailfragen fand sich, in den letzten Jahren mit immer mehr Ach und Krach, irgendwie doch eine Mehrheit. Im letzten Jahr hatte der Linksblock schon gegen das Budget gestimmt. Nur die Kommunisten sicherten durch Stimmenthaltung die Mehrheit. Auch diesmal erklärten sich die linken Parteien dazu bereit, bis zur letzten Minute zu verhandeln. Aber der Bruch schien unvermeidlich.
Viel Gerangel, nicht nur um die Staatsfinanzen
Schon vor der Abstimmung gaben sich Vertreter der Regierung in Anbetracht der absehbaren Abfuhr der kleineren linken Parteien so, als verstünden sie die Welt nicht mehr. Ministerpräsident Costa sagte in seiner Schlussrede, dass der Entwurf sogar schon einige Forderungen dieser Parteien berücksichtige. Er erwähnte Massnahmen gegen die Armut von Kindern, eine ausserordentliche Erhöhung aller Renten bis knapp unter 1’100 Euro monatlich und das Anlaufen eines Programms, das kostenlose Krippenplätze für alle Kinder vorsah.
Für die öffentlichen Investitionen, war vorher immer wieder argumentiert worden, sei dank der EU-Hilfen zur Überwindung der pandemischen Krise ein Anstieg um immerhin rund 30 Prozent vorgesehen. Ein Nein zum Budget werde die Verwendung dieser Gelder erschweren. Ohne Budget gälte zunächst das sogenannte «Zwölftel-Regime»: Die geschäftsführende Regierung könnte jeden Monat so viel ausgeben, wie in jedem Monat des Vorjahres zur Verfügung stand.
Der Streit ging in den letzten Wochen allerdings nicht nur um Fragen, die unmittelbar mit dem Budget zu tun hatten. Auf Drängen des Linksblocks rang sich die Regierung dazu durch, dass im staatlichen Gesundheitsdienst beschäftigte Ärztinnen und Ärzte keine leitenden Positionen im privaten Sektor mehr einnehmen dürfen.
Als Zugeständnis an die Kommunisten gab es eine Erhöhung der – vor Jahren stark gekürzten – Abfindungen, die bei Ablauf bestimmter Arbeitsverhältnisse fällig sind. Bei der Partei für Menschen, Tiere und Natur (PAN) erwarb sich die Regierung einige Sympathien durch ein Verbot des Besuches von Stierkämpfen für Jugendliche unter 16 Jahren.
Die kleinen linken Parteien fordern unter anderem aber auch mehr Mittel für das Gesundheitswesen und eine Erhöhung der Saläre im Staatsdienst um mehr als die geplanten 0,9 Prozent. Schwer zu schlucken ist für die Kommunisten die geplante Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf nur 705 Euro, gegenüber jetzt 665 Euro monatlich.
Auch unter linker Regie ging es aufwärts
Die Sozialisten regieren seit Ende 2015 ohne absolute Mehrheit. Als das Volk kurz zuvor sein Parlament wählte, blickte es zurück auf vier Jahre harter Austerität unter einer bürgerlichen Koalition. Letztere hatte, als Voraussetzung für einen Notkredit der internationalen «Troika», in den Jahren 2011–14 ein Programm harter Anpassungen umgesetzt.
Was Costa im Wahlkampf versprach, klang wie die Quadratur des Kreises. Er wollte sich vom Programm der Austerität abwenden und dennoch die Vorgaben der EU für den Abbau des Staatsdefizits erfüllen. Seine Partei ging nur als zweitstärkste Kraft aus der Wahl hervor. Doch Costa gab sich nicht geschlagen. Er verständigte sich mit Linksblock, Kommunisten und Grünen auf einige «gemeinsame Positionen», womit er sich in einigen entscheidenden Fragen den Rückhalt dieser Parteien für eine Minderheitsregierung sicherte. Im Tausch gegen einige Zugeständnisse schluckten diese Parteien die Kröte des von ihnen immer wieder verteufelten «Diktats» der EU für den Abbau des Staatsdefizits.
Für dieses Konstrukt ging der von einem rechten Politiker erstmals gebrauchte Begriff «geringonça» – sinngemäss ein Wackelbau oder schiefes Konstrukt – ins Polit-Vokabular des Landes ein. Entgegen aller Skepsis und vieler Unkenrufe aus Brüssel und Berlin ging die Rechnung auf. Costa rückte vom Pfad der strengen Austerität ab, die Stimmung im Land verbesserte sich, die Wirtschaft verzeichnete bis zur Pandemie ein moderates Wachstum, und für das Jahr 2019 wies das Land zum ersten Mal nach über 40 Jahren gar einen ganz kleinen Haushaltsüberschuss aus.
Linke links der Sozialisten zu pragmatisch?
Costas Sozialisten gingen aus der Parlamentswahl im Oktober 2019 zwar gestärkt hervor, wenngleich noch ohne absolute Mehrheit. Anders als 2015 kamen auch keine Vereinbarungen mit anderen Mehrheitsbeschaffern zustande. Costa muss sich seine Mehrheiten von Fall zu Fall suchen, anders als sein spanischer Genosse und Amtskollege Pedro Sánchez. Jener rang sich, wohl nicht zuletzt dank portugiesischer Inspiration, gar zur Bildung einer – wenngleich nicht konfliktfreien – Koalition mit der linken Formation Unidas Podemos durch.
Die Frage der richtigen Haltung zum Staatsbudget für das Jahr 2022 brachte Costas Mehrheitsbeschaffer von einst in ein Dilemma. Ihr Rückhalt für die PS-Regierung hat sich für sie an den Urnen nicht ausgezahlt. Vor allem die Kommunisten erlitten bei den Lokalwahlen von 2017 und 2021 sowie bei der Parlamentswahl 2019 schmerzhafte Verluste.
Sollten sie mit ihrem Pragmatismus zu stark von eigenen Positionen abgerückt sein? Müssten sie auf raschere Verbesserungen der Lebensbedingungen für ihre traditionelle Klientel pochen? In einer führenden nationalen Tageszeitung erinnerte eine Kommentatorin daran, dass nur ein Drittel der Armen im Land in festen Arbeitsverhältnissen stehe.
Nervenkrieg der Schuldzuweisungen
Mit jeder Erhöhung des Mindestlohns steigt bekanntlich auch der Anteil jener abhängig Beschäftigten, die genau diesen Lohn erhalten. Damit schwindet auch die Differenz zwischen den Verdiensten mehr oder weniger qualifizierter Personen. Und 35 Jahre nach dem Beitritt des Landes zur jetzigen EU, 1986, ist es schwer zu verstehen, dass überhaupt noch über Mindestlöhne in der Grössenordnung von 700 Euro gefeilscht wird, erst recht nach einem drastischen Anstieg der Wohnungsmieten in den letzten Jahren. Im Land steigt offenbar die Unzufriedenheit, von der kurzfristig Rechtspopulisten profitieren könnten.
Die Parteien links der Sozialisten dürften es aber schwer haben, ihr Votum gegen das Budget zu rechtfertigen, erst recht angesichts eines absehbaren Nervenkrieges der Schuldzuweisungen für die politische Krise. Ein oft eher passives, ans Improvisieren gewohntes und der Resignation zugewandtes Volk könnte eher dazu neigen, an den Urnen für das kleinere Übel oder gar für Rechtspopulisten zu stimmen, als sich von Aufrufen zum Kampf für seine Rechte mobilisieren zu lassen. Auch vielen eingefleischten Wählern von Parteien links der Sozialisten dürfte mulmig sein.
Die Rechte «wegen Bauarbeiten geschlossen»
Es fragt sich immer noch, warum Costa nicht etwas mehr getan hat, um sein Budget zu retten. Für den Fall von Neuwahlen wünschte sich Costa, der sich stets als gewiefter Taktiker profiliert hat, «eine gestärkte und stabile Mehrheit» für seine Partei. Und es ergibt sich der Eindruck, als komme eine politische Krise für ihn gar nicht ungelegen.
In den letzten Wochen war der Partido Social Democrata (PSD), immerhin stärkste Oppositionspartei, vor allem mit sich selbst beschäftigt. Gerade jetzt macht der EU-Abgeordnete Paulo Rangel dem jetzigen PSD-Chef, Rui Rio, den Parteivorsitz streitig. Um Inhalte geht es, wie so oft in dieser Partei, dabei eher am Rande. Am 4. Dezember haben die Mitglieder das Wort, womit unklar ist, wer die Partei so kurz vor einer Parlamentswahl führen wird. Im Parlament scherzte Ministerpräsident Costa süffisant, dass die Rechte «wegen Bauarbeiten geschlossen» sei.
Erst einmal aber ist Staatspräsident Marcelo Rebelo de Sousa am Zug. Er muss, ehe er das Parlament auflöst, unter anderem die im Parlament vertretenen Parteien und den Staatsrat – ein verfassungsmässiges Organ zur Beratung des Präsidenten – anhören. Neuwahlen müssen 55 bis 60 Tage nach der Veröffentlichung des Dekretes über die Auflösung des Parlaments stattfinden. Als frühestmögliche Wahltage sind der 16. und der 23. Januar im Gespräch. Nach der Direktwahl des Staatspräsidenten im Januar dieses Jahres und den landesweiten Lokalwahlen im September würde das Volk damit zum dritten Mal innert einem Jahr an die Urnen gerufen.