Die Liberalen haben im 19. Jahrhundert den demokratischen Bundesstaat geschaffen. Heute ist ihnen vor allem die Freiheit der Wirtschaft wichtig sowie weniger Staat.
Den Liberalen sind wir dankbar! Starke Persönlichkeiten waren überzeugt, dass souveräne Kantone mit eigenen Münzen, Massen und Zöllen keine Zukunft haben. Nach dem kurzen Sonderbundskrieg haben sie 1848 innerhalb von 51 Tagen die Verfassung für den Bundesstaat geschaffen. Weitsichtigen Politikern ist es mit grossem Einsatz gelungen, eine Mehrheit der stimmberechtigten Männer und der Kantone für ein neues politisches Kleid der Schweiz zu gewinnen. Neben der Volkskammer, dem Nationalrat, schufen sie den gleichberechtigen Ständerat, in dem alle Kantone gleichwertig vertreten sind.
Das war ein Entgegenkommen gegenüber den katholischen Kantonen, um ihnen den Beitritt zum neu geschaffenen Bundesstaat zu erleichtern; den Sonderbundeskrieg hatten sie gegen die liberalen Kantone verloren.
Volksrechte mit Referendum und Volksinitiative erweitert
Im Laufe der Jahre wurde die direkte Demokratie eingeführt, zuerst das Referendum, d. h. die Möglichkeit, gegen neue Bundesgesetze eine Volksabstimmung zu verlangen, danach die Volksinitiative, um die Verfassung zu ergänzen. Erst im Jahr 1891 wurde der erste Katholisch-konservative Politiker in den bisher ausschliesslich freisinnigen Bundesrat gewählt, und über 50 Jahre später, mitten im Krieg, der erste Sozialdemokrat.
Schon zuvor war das Proporzwahlrecht für den Nationalrat verwirklicht worden, wodurch die Linke an Gewicht gewann. Die Bundesversammlung schmälerte die Vorherrschaft der Freisinnig-demokratischen Partei (oder eben der Liberalen) deutlich im Jahr 1959, als die Zauberformel zustande kam und je zwei freisinnige, christdemokratische und sozialdemokratische Bundesräte gewählt wurden, sowie einem Vertreter der BGB, die inzwischen zur Schweizerischen Volkspartei geworden ist.
Liberale – die ersten Grünen
1972 erschien der Bericht des «Club of Rome», der davor warnte, dass das Wachstum nicht unbegrenzt weiter dauern könne und der Schutz der Umwelt wichtig werde. Die ersten Politiker, die im Parlament in Bern Sensibilität für die Umwelt zeigten, waren damals Liberale, was heute überraschen mag. Etwas später zog der Freisinn mit dem Slogan «Mehr Freiheit und Verantwortung – weniger Staat» in den Wahlkampf. Verantwortung trat bald in den Hintergrund und allmählich legten sie ihre traditionelle Rolle als staatstragende Partei beiseite.
Das Verhältnis unseres Landes zu Europa entwickelte sich zum entscheidenden Thema. Nicht allein die Wirtschaft, u. a. auch die Liberalen setzten sich für den Europäischen Wirtschaftsraum ein. In der folgenschweren Volksabstimmung vom Dezember 1992 unterlagen Bundesrat und Parlament gegenüber den von Christoph Blocher angeführten Europagegnern, damals unterstützt von der neuen Umweltpartei, den Grünen.
In der Folge begann der Siegeszug der SVP; die Fäden zog der reiche Zürcher Industrielle Christoph Blocher, der über die Eliten schimpfte, zu denen auch er gehörte, und unsere Institutionen verhöhnte. Sein damaliger Präsident der SVP, der nachmalige Bundesrat Ueli Maurer, reiste durchs Land und gründete viele neue SVP-Sektionen. Er nannte die Freisinnigen «Weicheier» und «Nette». Die doch so stolzen Liberalen begehrten kaum auf gegen die vielen Schmähungen und setzten die enge Zusammenarbeit mit der SVP fort.
Diese Partei bestand auf der absoluten Souveränität für die Schweiz, bezeichnete die Europäische Union als die Macht des Bösen, stempelte die Ausländer als Eindringlinge ab (nicht die reichen), verleumdete die Asylsuchenden als Schmarotzer des schweizerischen Sozialstaates wie auch die Bezüger von Invalidenrenten; das kam nicht gut an, weshalb sie bloss noch ausländische Invalide ins Visier nahmen. Anfeindungen und Beleidigungen jener Schweizerinnen und Schweizer, die anders denken als die SVP, wurden immer vulgärer und hinterhältiger.
Bundesrätin Keller-Sutter als Retterin der Schweiz?
Der Freisinn vergass leider seine Tradition und bekämpfte nicht, gemeinsam mit anderen Parteien, die vielen Entgleisungen von Anhängern der Partei Blochers sowie den Zerfall des politischen Stils. Auch widersetzten sie sich kaum den Denkverboten der wählerstärksten Partei im Hinblick auf ein Abkommen mit der EU, mit Bezug auf die Klimakrise und die Migration. Liberale alter Schule wie alt Regierungsrat und alt Ständerat Dick Marty wurden zur Seite geschoben: Die Partei schlidderte immer mehr nach rechts.
Die Liberalen nehmen die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich in der Schweiz gleichgültig hin. Ihr Ehrgeiz, die Gesellschaft zu verbessern und die in der Verfassung aufgeführten Rechte aller in der Schweiz lebenden Menschen durchzusetzen, ist erlahmt. Ihr Präsident, der angesichts der Übernahme der Credit Suisse durch die UBS verlangt hatte, das schweizerische Geschäft der CS sei selbständig weiterzuführen, protestierte kaum, als der UBS-Chef bekanntgab, die CS werde in seine Bank eingegliedert und als Marke verschwinden. Hingegen sagte er kürzlich vor den versammelten Freisinnigen: «Karin Sutter-Keller hat absolut richtig gehandelt und die Schweiz gerettet.» Ja, sie hat die CS für sehr wenig Geld der UBS überlassen, die schon lange über eine Übernahme nachgedacht hatte.
Ist den Liberalen die viersprachige Schweiz egal?
Möglicherweise erreicht die FDP einen kaum vorstellbaren Tiefpunkt. Die Halbierungsinitiative für die SRG-Gebühren von Exponenten der SVP und von Jungfreisinnigen geniesst gemäss Tages-Anzeiger bei der FDP viele Sympathien. Ihr Präsident Thierry Burkart wird mit den Worten zitiert, er würde sie «eher befürworten». Was würde das bedeuten? Die ehemals staatstragende Partei würde sich praktisch von der Schweiz der vier nationalen Sprachen und Kulturen verabschieden, wenn sie die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG) demontieren hilft. Die SRG mit ihren Sendern in den vier Sprachen hat eine wichtige Scharnierfunktion zwischen den Landesteilen; sie ist eines der wenigen Instrumente des nationalen Zusammenhalts.
Die Halbierungsinitiative würde die Arbeit von zahlreichen Journalistinnen und Journalisten stark behindern, die relativ unabhängig über das Geschehen und das Verborgene in der Schweiz und im Ausland in beachtlicher Qualität berichten. Kann das das Ziel einer liberalen Partei sein? Ob sich in den Kantonen auch aus liberalen Kreisen Widerstand gegen ein solches Ansinnen regen wird, werden wir erfahren, sobald die Anti-SRG-Volksinitiative im Parlament diskutiert wird.