Alles begann am 6. Dezember 1992 mit der Ablehnung des EWR-Abkommens durch 50,3 Prozent der Abstimmenden. Damit begann auch die helvetische Konfusion, die bis heute andauert. Doch 30 Jahre sind genug. Nach dem 24. Februar waren wir plötzlich Teil einer unfassbaren Bedrohung. Die Ukraine, das gewaltige Land mit 40 Millionen Menschen, war Opfer der russischen Aggression geworden.
Nach 30 Jahren: Das Ende der Illusion
Dieser Überfall wirkte schockartig auf Schweizerinnen und Schweizer. Eine grosse Mehrheit von ihnen wurde sich stärker denn je bewusst, dass die Illusion des nationalen Alleingangs geplatzt war. Die seit Jahrzehnten schwelenden politischen Debatten über unser Verhältnis zu Europa, der Welt und unsere Neutralität wurden über Nacht als unzulängliche parteipolitische Scheingefechte entlarvt.
Populismus und Nationalismus in der Schweiz
Damit wir alle vom Gleichen reden, scheint es ratsam, vorab zur Kenntnis zu nehmen, wie der Duden Populismus respektive Nationalismus definiert: Populismus: «Von Opportunismus geprägte, oft demagogische Politik, die das Ziel hat, durch Dramatisierung der politischen Lage die Gunst der Massen (im Hinblick auf Wahlen) zu gewinnen», Gebrauch: «Politik». Nationalismus: «Übersteigertes Nationalbewusstsein», Gebrauch: «meist abwertend».
Die Schweizerische Volkspartei (SVP)
Reden wir von Populismus, reden wir von der SVP. Die Schweizerische Volkspartei wird auch im Ausland als Repräsentant des Populismus in der Schweiz begriffen. Mehr im Hintergrund funktioniert auch die AUNS («Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz») als strammer Verfechter einer rechtskonservativen Gruppierung. Die «Lega dei Ticinesi» im Tessin und das «Mouvement Citoyens Genevois» in der Französisch sprechenden Schweiz vervollständigen das Bild.
Der Populismus in der Schweiz entwickelte sich graduell. Eigentlich wäre unser Land mit seinen dezentralen Strukturen wenig anfällig für die abstrusen Botschaften der Populisten. Wenn diese behaupten: «Wir – und nur wir – repräsentieren das Volk», müsste doch landauf, landab ein grosses Gelächter ausbrechen. Das Volk, der Souverän, sind ja alle, da können Einzelne nicht mehr Volk sein als andere.
Warum wurde nicht gelacht, sondern von einem Drittel des Volkes applaudiert, als sich in den 80er-/90er-Jahren ein einzelner Mensch berufen fühlte, Schweizerinnen und Schweizern zu erklären, wer das Volk sei und wen es zu bekämpfen galt? Schritt für Schritt wurde damals «der Bundesrat» zur Zielscheibe populistischer Vorwürfe.
Beeinflussung der Massen
Propaganda und Massenveranstaltungen (zum Beispiel Albisgüetli-Tagung der SVP des Kantons Zürich) sind die Basis der Beeinflussung der Massen. Die lärmige Öffentlichkeitsarbeit und die Verbreitung eines zündenden Mythos (zum Beispiel des Schweizer Bauern-Mythos) stehen am Anfang.
Der frühe Aufbau einer Verschwörungstheorie gehört auch zum SVP-Propaganda-Ritual. Die Parole «Gegen den schleichenden Beitritt der Schweiz zur EU» war in jenem Fall schlicht perfekt. Natürlich war 1992, ebenso wie heute, weder die Mehrheit der politischen Parteien noch des Volkes für einen Beitritt. Doch der Mythos funktionierte perfekt.
Aufmärsche und Rituale im öffentlichen Raum garantieren anschliessend Breitenwirkung. Fahnenschwinger, Bauern mit ihren Kühen oder «Geislechlöpfer» sorgen für bodenständige Umrahmung. Die Krönung der publikumswirksamen Botschaft ist die Beschwörung von Katastrophen als nationale Schmach. An dieser Stelle betreten die «fremden Richter» die Szene. Sie symbolisieren wie seinerzeit Gessler eine Gefahr von aussen.
So lasen wir im dritten «Extrablatt» (Mai 2013) der Schweizerischen Volkspartei: «Asylchaos, ungebremste Zuwanderung, zunehmende Kriminalität, schleichender EU-Beitritt, Angriffe aus dem Ausland». Droht Gefahr, fragten sich damals besorgte Schweizerinnen und Schweizer. Stehen fremde Truppen vor unserer Grenze?
Ist die Schweiz bedroht?
Die Sicherheitskampagne der SVP («Wir kämpfen für Sicherheit und Freiheit!») hat über 30 Jahre erfolgreich das Bild im Kopf vieler Schweizerinnen und Schweizer geprägt, dass ihre Sicherheit gefährdet und ihre Freiheit bedroht sei. An der Albisgüetli-Tagung 2022 «feierte» die SVP 30 Jahre EWR-Nein: «Fraue und Manne, auf eine sichere Zukunft in Freiheit – das ist ewig gültig!»
Zehn Jahre zuvor waren 20 Jahre EWR-Nein gefeiert worden: «Sie sind hier, um unser Land bedingungslos zu verteidigen in einer Zeit, in welcher die Schweiz von überall bedroht wird, sowohl von aussen als auch von innen», verkündete damals einer der Festredner.
1992 – dem Jahr des Volks-Neins zum EWR-Beitritt – hatten Christoph Blocher und seine SVP sozusagen im Alleingang für eine happige Überraschung gesorgt: Die vielbeschworenen Argumente für einen Alleingang in Europa hatten zu einer denkbar knappen Nein-Mehrheit von 0,3% der Stimmberechtigen gesorgt. Allerdings hatte der Bundesrat unglücklich argumentiert und Christoph Blocher mit unbedachten Äusserungen («EWR ist Trainingslager für die EU») einen veritablen Steilpass präsentiert.
Die Zeitenwende 2022
Damals begann die helvetische Konfusion, die bis heute andauert. Doch 30 Jahre sind genug. Die seither die Bevölkerung spaltenden politischen Debatten über unser Verhältnis zu Europa, der Welt und unserer Neutralität müssen ein Ende haben. «Die Aufarbeitung der Gründe dieser Entwicklung von 1992 bis 2022 und deren Überwindung sind Voraussetzung dafür, dass unser Land optimal auf die neue geopolitische Lage reagieren kann.»*
Politische Versöhnung
Die politische Stimmung in der Schweiz verändert sich. Geschieht dies unter dem Druck der internationalen Ukraine-Katastrophe? Oder wachen Schweizerinnen und Schweizer auf, nach Jahren einer gewissen Gleichgültigkeit? Realisieren immer mehr Menschen in unserem Land das zerstörerische Konfliktpotenzial ausgehend von egoistischen Ideologen? Spüren Frauen und Männer immer deutlicher die polarisierenden Spaltungstendenzen des Volkes als Folge demagogischer Männer-Auftritte? Die jahrelange Blockierung der nationalen Politik – wie könnte sie endlich überwunden werden? Und wie überführen wir die lähmende Reformunfähigkeit unseres Landes in eine elektrisierende, innovative Zukunftsgestaltung?
Antwort: Durch unser persönliches Engagement im einzigartigen schweizerischen Milizsystem. Indem wir alle Ansätze zur Renaissance unserer Konkordanzdemokratie tatkräftig unterstützen. Mit unserer unverrückbaren Überzeugung, dass Kooperationen unter politisch unterschiedlichen Strömungen unendlich viel weiter führen als permanenter, ideologischer Kampf. Und aus geopolitischer Einsicht, dass Friedensbemühungen harte Arbeit voraussetzen und dass Krieg nie zu Frieden führen kann. Lokalpolitisch heisst das: Lösungssuche und Kooperationswille hochzuhalten, zu pflegen und zu propagieren – und jene, die immer noch Unruhe und Konfusion anzetteln, indem sie an permanenten Kampf als Selbstbestätigung ihrer Propagandafeldzüge glauben, in mutiger, geduldiger Kleinarbeit zur Zusammenarbeit willkommen zu heissen.
Kooperation statt Kampf
Knapp 80 Jahre hat das einzigartige Experiment gedauert: Westeuropa ohne Krieg. Das hat es in früheren Jahrhunderten noch gar nie gegeben. Jetzt ist das europäische Konzept der Überbrückung national unterschiedlicher Mentalitäten und Usanzen durch gemeinsame Normen und Werte – die Problemlösungen durch Kooperation statt Kampf – herausgefordert. Die Menschen in unseren Demokratien haben über die Jahrhunderte daran gearbeitet, sich mehr und mehr zu offenen Gesellschaften zu entwickeln. Sie entwickelten zukunftsfähige Konzepte, auch solche, die hoffentlich geeignet sind, grossen Bedrohungen zu widerstehen.
*Christoph Zollinger: «Schweiz, öffne dich!», 2022