Die EU kämpft mit grossen Problemen, eigentliche Zerreissproben stehen bevor. Während krasse Fehlentwicklungen medial breitgeschlagen werden, fristet die Berichterstattung über die öffentliche Meinung ein klägliches Schattendasein. Chatham House (chathamhouse.org/publications), führender britischer Think-Tank mit Sitz in London, hat über 10’000 Menschen in zehn Mitgliedländern zu ihrer Meinung der gegenwärtigen und zukünftigen Entwicklung der EU befragt. Dabei ging es vorab darum, zu ergründen, ob neben den allgegenwärtigen „Pro“ und „Kontra“- Lagern differenziertere, grenz- und Parteigrenzen überschreitende Meinungsgruppen auszumachen sind. Zum Beispiel, ob mehr oder weniger EU gewünscht wird.
Sechs Themen-Gruppen
Die Erhebungen folgten einem auch anderswo verwendeten Muster der „latenten Klassen Analyse“ (latent class analysis), einer statistischen Methode, um aus grossen Datenmengen die relevanten Meinungs-Clusters herauszufiltern. Dabei wurden Problemkreise wie Flüchtlingskrise, Immigration, europäische Solidarität usw. thematisiert. Sechs solcher Gruppen konnten definiert werden:
A Zögernde Europäer (Hesitant Europeans) Anteil 36%
B Zufriedene Europäer (Contented Europeans) 24%
C Austeritätsrebellen (Austerity Rebels 9%
D Frustrierte Pro-Europäer (Frustrated Pro-Europeans) 9%
E EU Föderalisten (EU Federalists) 8%
F EU Verweigerer (EU Rejectors) 14%
A (Zögernde, 36%)
Die grösste Einzelgruppe besteht aus Menschen, die wenig Affinität zu Politik und EU haben, also sich eher gleichgültig verhalten, jedoch in der Tendenz mehr nationale Souveränität anstelle noch tieferer europäischer Integration befürworten.
B (Zufriedene, 24%)
In der zweitgrössten Gruppe finden wir vornehmlich jüngere, liberal denkende Leute, auch Studenten, die stolz sind, Europäer zu sein, die mit dem Status quo zufrieden und für die Entwicklung der EU zuversichtlich sind. Jedoch finden sie die Idee der Vereinigten Staaten von Europa keine gute Idee.
F (Verweigerer, 14%)
Menschen der drittgrössten Gruppe sind wütend über Politik und EU. Sie empfinden die EU als undemokratisch, zu machtvoll und glauben nicht, dass sie persönlich von der EU profitiert haben. Sie sind gegen Einwanderung und gleichgeschlechtliche Ehen.
D (Frustrierte, 9%)
Die vierte Gruppe sind jene, die pro ein von progressiven Werten angetriebenes Europa votieren und der EU mehr Befugnisse zugestehen möchten. Sie unterstützen eine solidarische, gemeinsame Flüchtlingspolitik.
C (Austeritätsrebellen, 9%)
Hier treffen wir Unzufriedene und gegenüber der EU pessimistisch eingestellte Menschen, viele von ihnen arbeitslos oder von sozialer Notlage geprägt, vornehmlich aus Ländern, die die schlimmen Auswirkungen der Wirtschaftskrise zu spüren bekamen.
E (Föderalisten, 8%)
Die letzte Gruppe setzt sich aus eher älteren oder pensionierten Menschen zusammen, die zufrieden mit ihrem Leben sind und glauben, von der EU profitiert zu haben. Sie befürworten mehr EU, selbst die Idee der Vereinigten Staaten von Europa.
Drei Hauptlager
Es kann also gefolgert werden, dass 41% (B, D, E) der befragten Menschen eine positive Haltung gegenüber der EU einnehmen. 36% (A) sind unpolitische Menschen, die eine eher indifferente, aber wohlwollende Meinung gegenüber der EU vertreten, jedoch noch besser von deren Vorteilen überzeugt werden müssen. 23% (F, C) nehmen eine dezidierte Anti-EU-Haltung ein.
Die Resultate können wie folgt kommentiert werden: Entgegen der vorherrschend dominanten Publikumsdebatten und medialer Aufmerksamkeit sind es weniger als ein Viertel der Befragten, die überhaupt den beiden relevanten Gruppen (F +C) der EU-Gegner zuzuordnen sind, wie etwa Nigel Farage, der die EU am liebsten demontieren möchte. Die am lautesten rufen (pöbeln), finden also das grösste Medienecho. Die grösste einzelne Gruppe (A), sind moderate, nicht sehr politisch denkende Menschen, die jedoch klar für weniger als mehr EU stehen. Das hingegen scheint bei Jean-Claude Juncker noch nicht angekommen zu sein. Bleiben jene 41% (B,D,E) der Befragten, die per Saldo EU-freundlich gestimmt sind.
Die Autoren selbst kommentieren diese Befunde so: „Der Teppich der öffentlichen Meinung unterscheidet sich ganz klar von jenem in den öffentlichen Debatten präsentierten. Angesichts dieser Vielfalt besteht die Gefahr, dass die am lautesten Ausrufenden jene besonnenen Kräfte aus dem mittleren Spektrum übertönen. Wird die grösste Gruppe der Zögernden weiterhin übersehen, könnte dies dazu führen, dass sich deren Exponenten in Zukunft Richtung Verweigerer bewegen könnten.“
Keine „Vereinigten Staaten von Europa“
60% (A+B) der Befragten äussern sich mehr oder weniger dezidiert gegen „mehr EU“, resp. die Idee der „Vereinigten Staaten von Europa“. Dieses Verdikt, das man seit Jahren hört, kontrastiert mit der Idee eines Jean-Claude Juncker und der Befürworter einer vertieften EU. Diese würde weitere Kompetenzen von den Nationen übernehmen und damit – siehe die Befragungsresultate des Volkes – die Skepsis gegenüber Brüssel zusätzlich schüren.
In der Theorie mag es ja verständlich sein, wenn zum Beispiel Juncker, Robert Menasse oder Jakob Tanner, drei Europäer aus Leidenschaft, für mehr EU und weniger Nation eintreten. In der Praxis der Akzeptanz an der Basis sieht es offensichtlich anders aus. Dieses Ansinnen würde die Gräben zwischen Brüssel und den Nationen weiter vertiefen. Die Nationen sind ganz und gar nicht überflüssig, eher schon die besonders lautstark auftretenden Nationalisten da und dort. Die ist nur ein scheinbarer Widerspruch.
Wie weiter?
Weltweit ist festzustellen, dass in Demokratien Spitzenpolitiker mit ihren oft abgehobenen Ideen und/oder einem zweifelhaften Machtgehabe die Bevölkerung tendenziell eher spalten als zusammenführen. Im konkreten Fall der EU folgen ihre Lösungsvisionen zur Deblockierung des EU-Stillstands verständlicherweise der Idee, dass gleichgeschaltete, einheitliche demokratische Kommandozentralen rascher und zielführender eine als dringend notwendig erachtete EU-Reform erlauben würden. Doch Zweifel an dieser Vision sind angebracht.
Weder ein Europa der Regionen, noch eines der Vereinigten Staaten, dürften die anstehenden Probleme aus dem Weg schaffen. Wenn schon klar herausgearbeitet werden kann, wo sich eine europäische Lösung aufdrängt (tatsächlich sind ja die grössten weltweiten Herausforderungen wie die Klimaerwärmung auf nationaler Ebene schwer lösbar, wenn überhaupt), so müsste ganz oben ein strategisches Umkehrdenken stattfinden. Warum sind die Nationen unzufrieden? Sie empfinden das Diktat aus Brüssel als ungehörig. Warum also nicht in einem ersten Schritt den Wulst an überflüssigen Verordnungen und Gesetzgebungen streichen? Dem Volk signalisieren: Wir haben euch gehört, wir nehmen euch ernst?
Das Volk an Bord holen
Solche kleinen Avancen Richtung Formierung einer solidarischen europäischen Bevölkerung, die Gelegenheit bekäme, sich unnötiger Fesseln zu entledigen, dürften ein positives Echo auslösen. Damit würde sich die Stimmungslage ändern und empfänglicher machen für subtile Lösungsvorschläge, dort wo der grösste Handlungsbedarf besteht. Zuerst wäre also die Identifikation mit dem grossen föderalen Netzwerkprojekt zu stärken, damit es anschliessend effizienter gestaltet werden könnte. „Führungsmacht nach aussen und Friedensmacht nach innen – Imperium und Heimat zugleich“ (Zukunftsreport 2018, www.zukunftsinstitut.de).
An dieser Stelle sind auch die Medien gefordert, wie die Chatham-House-Befragung folgert. Die lautesten Töne sollten nicht die breiteste Publizität generieren. Einen Beitrag zu leisten zur Versöhnung des Volkes mit „Denen, da oben“ wäre ein spannendes Projekt. Der ignorierten Stimme des Volkes Gehör zu verschaffen? Echte Herausforderung!
Siehe auch: Antiquierte Parteipolitik:
https://www.journal21.ch/searchsearch_api_views_fulltext=Christoph+Zollinger&=Apply