Premier Netanjahu wiederholt es fast jeden Tag: Israel wird den Krieg im Gazastreifen erst beenden, wenn die Terror-Organisation Hamas zerstört ist. Und weil man die Hamas-Befehlszentrale im Norden des Mini-Territoriums (etwa so gross oder klein wie unser Kanton Schaffhausen) nicht finden konnte, weiten die israelischen Truppen jetzt die Angriffe auf den Süden aus.
Anfang Dezember sind dort schätzungsweise 1,7 Millionen Menschen, mehrheitlich Flüchtlinge aus dem Norden, zusammengepfercht, viele nur in Zelten untergebracht. Sie alle versuchen, wenigstens den jeweils nächsten Tag zu überleben.
Vielleicht gelingt es jetzt, nach sieben Wochen Krieg und über 15’000 palästinensischen Todesopfern, die Hamas-Kommandanten zu finden – doch was dann? Von Tag zu Tag wird deutlicher, dass Hamas nicht das einzige Problem ist: Der Sicherheitsexperte der BBC, Frank Gardner, weist darauf hin, dass im Küstenstreifen verschiedene bewaffnete Gruppen aktiv sind, neben Hamas zehn oder elf mittelgrosse und kleine Banden. Er schreibt: «Als Hamas am 7. Oktober den Süden Israels angriff, schlossen sich ihr Kämpfer anderer Gruppen an, sogar Personen, die mit keiner dieser Banden irgendetwas zu tun hatten.» Auch sie entführten Menschen aus Israel. Sie alle sind äusserlich nicht erkennbar – gewiss hat sich kein Hamas-Sympathisant ein entsprechendes Zeichen eintätowieren lassen, ebenso gewiss bleiben die Mitglieder anderer Gruppierungen anonym und unerkennbar. Das heisst: Dass israelische Soldaten sie identifizieren können, ist praktisch aussichtslos. Was die Suche nach Geiseln massiv erschweren dürfte.
Banden-Chaos
Welche Gruppe jetzt wie viele Geiseln in ihrer Gewalt hat, ist nicht klar. Dieses Banden-Chaos aber ist eine Erklärung, weshalb Hamas bis Ende November keine weitere Liste mit Namen von Freizulassenden liefern konnte – die Verantwortlichen bei der Terror-Organisation scheinen schlicht nicht zu wissen, wer von den Entführten sich wo und in wessen Gewalt befindet. Die israelische Regierung anderseits weiss nur, dass noch immer etwa 140 Geiseln irgendwo in Kellern, Tunneln oder Bunkern täglich leiden, hungern, dursten und mit dem Tod bedroht sind – einem Tod, der sowohl durch die Geiselnehmer, als auch durch israelische Bomben droht. Und Bomben werden jetzt, nach dem Ende der siebentägigen Kampfpause, wieder massenweise abgeworfen. Hamas anderseits, allen israelischen Voraussagen zum Trotz, beschiesst weiterhin fast täglich mit Raketen israelisches Gebiet. Das heisst: die Ressourcen der Terror-Organisation sind offensichtlich noch nicht erschöpft.
Wie lange wird das noch so weitergehen? Die israelische Regierung sagt: «So lange wie nötig.» Doch, wie erwähnt, «nötig» würde bedeuten, nicht nur Hamas auszuschalten, auch nicht nur alle weiteren zehn oder elf anderen extremistischen Gruppen, sondern es würde beinhalten, die grundlegende Gesinnung der Palästinenserinnen und Palästinenser im Gaza-Streifen und im Westjordanland zu ändern.
Unrealistische Zwei-Staaten-Lösung
Das «Arab World for Research and Development» (AWRAD) in Ramallah organisierte Ende November, also nach bereits sieben Wochen Krieg, eine Befragung. Sie zeigte: 82 Prozent im Westjordanland und 63 Prozent im Gaza-Streifen unterstützen nicht nur Hamas generell, sondern auch das Hamas-Massaker vom 7. Oktober. 77 Prozent im Westjordanland und 70 Prozent im Gaza-Streifen sagten, für sie sei nur ein Palästina «min an-nahr ilaa al-bahr», also «vom Fluss bis zum Meer» (Jordan bis Mittelmeer) akzeptabel, also: Nein zu einer Zwei-Staaten-Lösung.
Diese wird zwar jetzt von vielen Regierungen (wieder) als einzige Alternative zu einem permanent drohenden Folgekrieg aufs Tapet gebracht (von US-Präsident Biden, der EU, auch von mehreren arabischen Politikern), aber realistisch ist das wohl kaum. Benjamin Netanjahu war schon immer dagegen, bei den Palästinensern war die Stimmung geteilt (Fatah mit Mahmud Abbas dafür, radikalere Kräfte dagegen). Und täglich werden durch die Expansion von israelischen Siedlungen im Westjordanland so viele neue Fakten geschaffen, dass die Bildung eines eigenständigen Palästinenserstaats illusorisch geworden ist. Also: Wer hat eine den Realitäten besser entsprechende Idee?
Al-Sissis Plan
Abdul-Fattah Al-Sissi, der Präsident Ägyptens, skizzierte eine Idee, die wenigstens für eine Übergangszeit die Lage etwas beruhigen könnte: Der Gazastreifen müsse demilitarisiert werden, und das müssten Truppen aus arabischen Ländern, aus den USA und aus anderen Nato-Staaten überwachen. Eine Zivilverwaltung sollte mit Uno-Unterstützung die Regierungsverantwortung übernehmen. Bestehen müsse sie aus lokalen Notabeln, Vertretern von Grossfamilien und Unternehmen, alle ohne Verbindungen zur Hamas.
Das ist eine Kurz-Zeit-Vision, die einen noch nicht erkennbaren, aber dennoch drohenden Exodus von Gaza-Palästinensern über die Grenze, nach Ägypten, abwenden soll. Offen bleibt bei Al-Sissis Skizze, wer den Wiederaufbau finanzieren könnte. Bis Anfang Dezember wurden im Gaza-Streifen 280’000 Wohnungen und Häuser beschädigt, 45’000 zerstört, 26 von 35 Spitälern wurden so in Mitleidenschaft gezogen, dass sie den Betrieb einstellen mussten.
Wieder eine Sicherheitszone?
Als diese Statistiken veröffentlicht wurden, stand die Bodenoffensive Israels gegen den Süden des nur 40 Kilometer langen Gaza-Streifens erst an ihrem Anfang – sie wird die Schadens-Bilanz und die Zahl der Todesopfer in wenigen Tagen noch zusätzlich in die Höhe treiben. Die Regierung des israelischen Premiers aber bleibt, was die Zukunft betrifft, zerstritten nur schon über der Frage, ob man den Gazastreifen wieder militärisch besetzen solle (wie vor dem Jahr 2005) oder ob es sogar möglich und in Israels Interesse wäre, dort wieder israelische Siedlungen zu errichten (das befürworten die am weitesten rechts gerichteten Mitglieder der Regierung).
Als aktuellste Idee veröffentlichte Israels Regierung Pläne für die Errichtung einer so genannten Sicherheitszone an den Demarkationslinien zwischen Israel und dem Gazastreifen – eine erweiterte Neuauflage also etwa des bis zum 7. Oktober für unüberwindbar gehaltenen, mit allen denkbaren elektronischen Geräten ausgestatteten Grenzzauns. Der erwies sich allerdings als nutzlos, weil die israelischen Geheimdienste alle Signale, die auf einen Hamas-Grossangriff hinwiesen, ignorierten.
Amerikanische Warnung an Israel
Was die aktuelle Lage im Gazastreifen und Israels Bombardemente auf dicht bevölkerte Städte betrifft, übermittelte am Wochenende US-Verteidigungsminister Lloyd Austen eine Warnung: «Im Krieg in Städten kann man nur gewinnen, wenn man die Zivilbevölkerung schützt. Wenn man sie in die Arme des Feindes treibt, ersetzt man einen taktischen Sieg durch eine strategische Niederlage.»
Das sollten Israels Regierung und die militärische Führung ernst nehmen – konkret heisst das ja wohl im Fall des Gazastreifens, dass jeder weitere Kriegstag mit zivilen Opfern noch mehr Palästinenserinnen und Palästinenser in die Arme einer militanten Organisation treibt. Sie hat eines Tages vielleicht nicht mehr den Namen Hamas, aber schon jetzt gibt es ja, wie erwähnt, neben Hamas noch eine ganze Anzahl weiterer Terrorgruppen. Und bleiben die Menschen im Gazastreifen ohne Zukunftsperspektive, droht die Gefahr, dass sich ein 7. Oktober in vielleicht zwei oder drei Jahren wieder ereignet.