Nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober, bei dem 1400 Israeli getötet und über 240 entführt wurden, hat sich Israel geschworen, die Terror-Organisation zu zerschlagen. Doch es gibt Zweifel, dass dies gelingen kann.
Dass das überrumpelte, tief verletzte Israel mit voller Wucht gegen die Hamas-Terroristen vorgehen will, ist verständlich und legitim. Israel, das sich wieder einmal im Überlebenskampf befindet, hat das Recht, sich zu verteidigen. Das Land befindet sich in einer verzweifelten Lage: Einerseits muss es verhindern, dass Gräuel wie am 7. Oktober erneut möglich sind. Anderseits weiss Israel, dass der Gegenschlag, der jetzt verübt wird, kontraproduktiv sein kann.
Die Bomben gegen die Hamas sind – zwangsläufig – eben auch Bomben gegen die Zivilbevölkerung. Und Gaza ist eines der am dichtest besiedelten Gebiete der Welt. Schreckliche Bilder gehen jetzt um die Welt: Ein Bombenkrater in der Flüchtlingsstadt Jabalia, Leichensäcke, umherirrende Frauen und Männer, weinende Kinder, trauernde Väter und Mütter. Überall Tote, ausgebombte Wohnhäuser, ein angegriffenes Ambulanzfahrzeug, Schutt und Asche.
Wo beginnen Kriegsverbrechen?
Wie kann man gegen Terroristen vorgehen, die ihre eigene Bevölkerung als Schutzschild nehmen? Israel muss gegen eine mörderische Organisation vorgehen, die bereit ist, Tausende ihres eigenen Volkes zu opfern.
Natürlich kommt sofort die Frage auf, ob die israelische Vergeltung «verhältnismässig» ist. Was wird vom Völkerrecht gedeckt, und wo beginnen Kriegsverbrechen? Nach Angaben des israelischen Armeesprechers sind «Hunderte Tonnen Bomben» auf Gaza abgeworfen worden. Laut dem palästinensischen Gesundheitsministerium starben bisher 9’000 Palästinenser und Palästinenserinnen. Die österreichische Völkerrechtlerin Birgit Haslinger sagte jetzt im «Spiegel»: «Fakt ist jedenfalls, dass die Verletzung des humanitären Völkerrechts aufseiten der Hamas keine Verletzung dieses Rechts durch Israel rechtfertigt.» Ähnliche Töne schlug schon Präsident Joe Biden an.
«Die Tragik des Krieges»
Doch angesichts der Tatsache, dass die Hamas-Terroristen ihre eigene Bevölkerung in eine Art Geiselhaft nehmen, sieht Israel keine andere Möglichkeit der Kriegsführung. Man spricht – welch schreckliches Wort – von «Kollateralschäden». Der israelische Armeesprecher sagte es lapidar: «Dies ist die Tragik des Krieges.» Mit anderen Worten: Wer als Unschuldiger getötet wird – dumm gelaufen.
Israel weiss, dass der Krieg mit seinen Schreckens- und Elendsbildern den Hass und die Wut vieler Palästinenser und Palästinenserinnen auf Israel nur noch steigert. Und das spielt Hamas wieder in die Hände, denn der Zorn auf Israel schafft neue Terroristen.
«Israel produziert mehr Terroristen als es tötet»
Man vermutet, dass sich im Gaza-Streifen 20’000 bis 30’000 aktive Hamas-Kämpfer befinden. Die israelische Armee kann Dutzende palästinensischer Terroristen töten, Dutzende Hamas-Führer erledigen, doch die Vermutung besteht, dass sie schnell ersetzt werden. Vermutlich Hunderte, wenn nicht Tausende junger Palästinenser, die ohnehin keine Arbeit und keine Zukunftsaussicht haben, stehen wohl bereit, in die Fussstapfen der getöteten Terroristen zu treten.
«In der Tat produziert Israel wahrscheinlich bereits mehr Terroristen, als es tötet», erklärte Robert A. Pape letzte Woche in einem CNN-Interview. Pape ist Professor für Politikwissenschaft und lehrt an der University of Chicago.
«Neue, noch grössere Generation von Terroristen»
Schon länger zirkuliert im Nahen Osten das Diktum: «Wird ein Terrorist getötet, stehen sogleich zwei weitere bereit.» Laut Pape haben viele Militäroperationen, die die USA und Israel durchgeführt haben, dazu geführt, dass zwar viele Terroristen getötet wurden, dass sie aber innerhalb von wenigen Monaten von einer «neuen, noch grösseren Generation von Terroristen» ersetzt wurden.
Selbst wenn es Israel gelingt, die Köpfe der Hamas zu eliminieren – schnell wachsen neue Köpfe nach. Erschwert wird der Kampf gegen die Terroristen dadurch, weil sich diese ja nicht als solche zu erkennen geben. Sie wirken im Stillen, im Verborgenen.
Indoktriniert, radikalisiert
Immer wieder heisst es: Die meisten Palästinenser wollen nichts mit der Hamas zu tun haben. Doch stimmt das eigentlich? Die Hamas hatte 2006 mit 40 Prozent der Stimmen die Wahlen im Gazastreifen gewonnen. Seither, also seit 17 Jahren, wurde sie nicht mehr demokratisch legitimiert. Trotzdem ist sie seither die einzige «Ordnungskraft», die einzige Partei im Gazastreifen, die alles kontrolliert.
Die Organisation hat in den letzten Jahren die Bevölkerung mehr und mehr indoktriniert und radikalisiert und ein quasi-diktatorisches Regime aufgezogen. Es empfiehlt sich nicht, sich gegen die Hamas aufzulehnen. Amnesty International spricht sogar von Todesurteilen, die am Galgen vollstreckt wurden.
Hamas, «mit jedem Tag stärker»?
Natürlich will wohl der grösste Teil der Bevölkerung in Frieden leben, lehnt Terror und Krieg ab und spricht sich nicht explizit für die Hamas aus. Doch die äusseren Umstände führen dazu, dass ein grosser Teil der Bevölkerung – nolens volens – sich mit der Hamas arrangiert hat.
«Im Moment erleben wir nicht die Trennung zwischen der Hamas und der lokalen Bevölkerung», erklärt Professor Pape, «sondern die zunehmende Integration der beiden, was wahrscheinlich zu einer wachsenden Rekrutierung für die Hamas führt.» Und: «Wir sollten davon ausgehen, dass die Hamas mit jedem Tag stärker und nicht schwächer wird.»
Aus dem Teufelskreis der Gewalt ausbrechen
Beweise für diese These legt Pape allerdings keine vor. Andere Beobachter sind gegenteiliger Ansicht. Sie glauben, dass ein grosser Teil der Gaza-Bevölkerung ein Verschwinden der Hamas herbeisehnt. Viele Palästinenser und Palästinenserinnen, heisst es, würden sich zwar nicht offen gegen die Hamas auflehnen, die Terrororganisation aber sofort fallen lassen, wenn sich die Gelegenheit dazu böte. Viele Bewohnerinnen und Bewohner wollen endlich aus dem Teufelskreis der Gewalt ausbrechen.
Um zu erfahren, wie stark die Hamas ist, müssten im Gazastreifen wohl freie, international überwachte Wahlen stattfinden. Doch wer würde sich bei einem Urnengang als Gegenpol zur Hamas anbieten? Also: Wie viel Unterstützung die Hamas in der Bevölkerung hat, ist umstritten. Sicher scheint jedoch, dass viele radikalisierte Junge darauf warten, das Erbe der Organisation weiterzutragen.
Der israelische Kampf gegen die Hamas wird auch dadurch erschwert, dass mehrere arabische Staaten die Organisation unterstützen. Vor allem Katar hat Hunderte Millionen nach Gaza überwiesen. Wer solche Summen investiert hat, wird die Terrorgruppe wohl nicht fallen lassen. Die Hamas ist ein Stachel im Fleisch Israels, und diesen Stachel wollen manche arabische Führer hegen und pflegen und nicht preisgeben.
Israel, ohne Plan
Und was würde geschehen, wenn es Israel doch gelänge, die Hamas zu zerschlagen, zu vertreiben? Hat Israel einen Plan, eine politische Strategie? Eine solche ist bisher nicht zu erkennen.
Wilde Vorschläge zirkulieren in Israel, geboren wohl aus dem Trauma des Massakers vom 7. Oktober. Radikale Kräfte in Israel fordern, dass Gaza dem Erdboden gleichgemacht wird, «wie Dresden im Zweiten Weltkrieg». «Kein Stein soll auf dem anderen stehen bleiben», heisst es. Andere fordern, dass der Gazastreifen in israelisches Gebiet integriert wird. Die Gaza-Palästinenser sollen dann auf der ägyptischen Sinai-Halbinsel angesiedelt werden. So würde man Ägypten das Problem zuschieben.
Doch das offizielle Israel betont immer wieder, es wolle den Gazastreifen nicht regieren. Wer soll es dann tun? Ein Machtvakuum ist im Interesse von niemandem und würde schnell zum Chaos führen.
Ausgerechnet Mahmud Abbas
Der amerikanische Aussenminister Antony Blinken hat am Wochenende das Westjordanland besucht. In Ramallah ist er mit Mahmud Abbas, dem Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland, zusammengetroffen. Soll er künftig Gaza regieren?
Dass man ausgerechnet Mahmud Abbas aktivieren will, zeigt, wie hilflos man der Frage gegenübersteht, was nach Hamas geschehen soll. Der 87-jährige Abbas, ein Antisemit und Holocaust-Leugner, geniesst in weiten palästinensischen Kreisen keine Unterstützung. Er gilt nicht nur als farblos und unfähig, sondern auch als korrupt.
Israel steht vor einer schweren Aufgabe. Es ist anzunehmen, dass der Krieg noch lange dauert. Die israelischen Sicherheitskräfte werden versuchen, Schritt für Schritt die Hamas-Führung zu liquidieren und die Hamas-Tunnel und Munitionslager zu zerstören. Ob und zu welchem Preis das gelingt, weiss niemand.
Chancenlose Zwei-Staaten-Lösung
Wie auch immer: Eine politische Lösung des Gaza-Problems (und des ganzen Nahost-Problems) ist in weite Ferne gerückt. Nach den jüngsten Ereignissen und der aufgeheizten Stimmung schlagen die Wellen auf beiden Seiten hoch. Konzessionen sind weder von der einen noch der anderen Seite zu erwarten.
Wieder spricht man von der Zwei-Staaten-Lösung. Eine solche allerdings wollen die israelischen Hardliner, auch Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, unter allen Umständen verhindern. Doch auch die Hamas, deren Hauptziel noch immer die totale Zerstörung Israels ist, will keine Zwei-Staaten-Lösung. Die Terror-Vereinigung will, dass Israel vollständig von der Landkarte verschwindet.
Netanjahu, «der schlechteste Premierminister in der Geschichte Israels»
Von den radikalen Palästinensern und den arabischen Führern sind in diesem vergifteten Klima kaum konstruktive Vorschläge für eine Lösung des Problems zu erwarten. Von der gegenwärtigen israelischen Regierung allerdings auch nicht. Da sitzen Hardliner im Kabinett, die blind alles Palästinensische zerschlagen wollen. Amihai Eliyahu, der israelische Minister für Kulturerbe, bezeichnete es am Wochenende als «eine Möglichkeit», eine Atombombe auf Gaza abzuwerfen. Solche Leute sitzen in der israelischen Regierung. Immerhin hat Netanjahu Eliyahu zurückgepfiffen. Doch auch von Leuten wie dem rechtsextremen, rassistischen Hetzer Itamar Ben-Gvier, dem Minister für nationale Sicherheit, ist kaum Brauchbares für eine Lösung der Probleme zu erwarten.
Was er von der Regierung Netanjahu halte, wurde letzte Woche der (jüdische) britische Historiker Simon Sebag Montefiore in einem NZZ-Interview gefragt: «Es sind die schlechteste Regierung und der schlechteste Premierminister in der Geschichte Israels. Sie müssen gehen – und zwar bald!» Und weiter: «Dazu kommen die entsetzlichen jüdischen Siedler im Westjordanland, die palästinensische Zivilisten angreifen und einschüchtern – ihre Siedlungen müssen unbedingt aufgelöst werden, damit dort ein palästinensischer Staat entstehen kann.»
Und der 7. Oktober ...?
Die Hamas hat, vorläufig, ihr Hauptziel erreicht. Weltweit demonstrieren Hunderttausende von Tokio bis Mexiko, von Oslo bis Palermo gegen Israel. Die Terroristen waren wohl selbst überrascht, welch weltweite Demonstrationen sie auslösten. Den radikalen Palästinensern und vielen arabischen Spitzenpolitikern ist es gelungen, Israel an den Pranger zu stellen und damit auch wieder antisemitische Wogen auszulösen.
In den Hintergrund rückt die Tatsache, dass es die Hamas war, die mit ihrer bestialischen Aktion am 7. Oktober den Krieg, das Blutvergiessen und die israelischen Bombardements auslöste. Mit beispielloser Brutalität haben die Hamas-Schergen israelische Säuglinge geköpft, über 240 Geiseln genommen und 1400 Israeli buchstäblich hingerichtet.
Es wäre nichts als angebracht und fair, wenn die Demonstrantinnen und Demonstranten, die jetzt rund um die Welt ziehen, auch daran erinnern würden.