Die Macht muss offensichtlich etwas Höllisches sein, an dem man sich fast zwangsläufig verbrennt. Ein ganzes Jahrzehnt waren Frankreichs Sozialisten, zumindest auf höchster, nationaler Ebene, vor dieser Verbrennungsgefahr gefeit. Sie waren in der Nationalversammlung seit 2002 in der Opposition und 17 Jahre lang bekleidete keiner aus ihren Reihen das Präsidentenamt.
François Hollande und die Sozialisten haben die letzten Wahlen gewonnen, weil sie unter anderem glaubhaft machen konnten, dass sie im Umgang mit der Macht beispielhaft, respektvoll und bescheiden sein wollten: bereit wären zu dienen und sich nicht zu bedienen. Normal und integer, fern von Interessenskonflikten und Finanzaffären wollte man sein und in den sich abzeichnenden schweren Jahren mit schmerzhaften Einschnitten zumindest versuchen, für ein wenig mehr Gerechtigkeit zu sorgen, als dies besonders in den letzten 5 Jahren der Fall gewesen war.
Schluss mit der Ämterhäufung
Und eine Reform, die keinen Euro kostet, dafür aber in Frankreich politisch ungemein viel bringen kann, hatten die Sozialisten während des Wahlkampfs immer wieder in den Vordergrund gerückt. Es war die Versprechung, dass mit der so typisch französischen Plage der Ämterhäufung nun endgültig Schluss gemacht werde, sofern die Linke an die Macht kommt.
Seit über 2 Jahrzehnten bereits wird in diesem Land, auch über die Parteigrenzen hinweg, der Unfug angeprangert, der in Gewohnheit besteht, dass ein französischer Abgeordneter in der Nationalversammlung oder im Senat in der Regel gleichzeitig mindestens noch Bürgermeister einer kleinen, mittleren oder gar grossen Stadt ist – manchmal auch zusätzlich noch Abgeordneter oder gar Präsident des Departementrates, ja dass es sogar Fälle gab, wie Alain Juppé, der Minister wurde und gleichzeitig doch tatsächlich Bürgermeister der Grosstadt Bordeaux blieb.
Alles war zu diesem Thema gesagt worden, schon seit Jahren. Dass es schlicht nicht glaubhaft und realistisch ist, wenn einer behauptet, er könne zwei oder drei Mandate gleichzeitig wahrnehmen und dabei seine Arbeit korrekt machen. Dass diese Ämterhäufung vor allem eine wahre Katastrophe für den politischen Nachwuchs im Land ist. Das sind jungen Menschen, die in Politik wollen. Ihnen wird jede Perspektive verbaut, wenn ein altgedienter Kollege auf drei Posten gleichzeitig sitzt.
Und dass diese Gewohnheit letztlich für das Image der Politiker, die den Eindruck der Machtbessenheit vermitteln, ja für die Politik an sich nicht das Beste sein kann. Doch geschehen ist in diesen 20 Jahren, ausser dem ständigen Lamentieren so gut wie nichts. In der neuen Nationalversammlung haben 329 der 577 Abgeordneten irgendwo im Land noch ein anderes Mandat.
Das grosse Zögern
Nun sind die Sozialisten also wieder an der Macht und was passiert? Alle Minister haben brav eine Ethik-Charta unterschrieben, in der sie sich verpflichten, 100-ig Minister zu sein und jedes andere Amt aufzugeben. Und sie haben sich auch tatsächlich daran gehalten.
Ganz anders klingen aber plötzlich die Töne bei den sozialistischen Parlamentariern, vor allem bei den wiedergewählten. Kaum war die neu gewählte Nationalversammlung zusammengetreten, kamen aus den Reihen der sozialistischen Abgeordneten doch tatsächlich schon wieder die alten Töne. Ein Abgeordneter brauche eine lokale Verwurzelung und im Übrigen habe das ja keine Eile und ausserdem würde man sich mit Blick auf die Kommunalwahlen in zwei Jahren in Gefahr begeben.
Ausgeleierte Argumente, die seit 20 Jahren hergebetet werden. Selbst ein alter Vertrauter von François Hollande, der sozialistische Senator François Rebsamen sagt plötzlich ganz offen, er gedenke weiter Bürgermeister von Dijon zu bleiben und der Bürgermeister des 18. Pariser Arrondissements, die sozialistische Version eines Patriarchen in diesem Teil der Stadt, der immerhin 200 000 Einwohner zählt, weigert sich beständig zu sagen, ob er denn nun auf sein Abgeordneten- oder sein Bürgermeisteramt verzichten werde – auf beiden sitzt er seit über 15 Jahren. Wie lautete nochmal der Wahlkampfslogan von François Hollande? „Le changement – maintenant“. Es fängt schlecht an damit. Der Wandel in den Köpfen braucht offensichtlich ganz besonders viel Zeit.
Schon droht der Grössenwahn
Dann hat auch noch ein anderer unter den alten Fahrensleuten der sozialistischen Partei gleich in den ersten Wochen jede Bescheidenheit über Bord geworfen. Claude Bartelone, der neue Parlamentspräsident, seit drei Jahrzehnten ein im Räderwerk der Partei höchst bewanderter Apparatschik, hatte bei der ersten Sitzung der neu gewählten Nationalversammlung zunächst einmal die Herzen der Parlamentarier und Zuhörer auf seiner Seite gehabt, als er – protokollarisch jetzt der 4. Mann im Staat - in einer berührenden Rede auf seine proletarische Herkunft verwies und sich als reines Produkt der französischen Republik bezeichnet. Als in Tunis geborener Sohn eines sizilianischen Arbeiters und einer Maltesin habe ihm die öffentliche Schule alle Türen geöffnet und seinen sozialen Aufstieg ermöglicht. Selbst die Opposition spendete Beifall.
Schade nur, dass heute kein einziger der 577 Abgeordneten der französischen Nationalversammlung mehr zur Katgeorie „Arbeiter“ zu zählen ist. 1981 waren es immerhin noch 4% gewesen.
Warum musste derselbe Claude Bartelone am selben Tag bei einer anderen Gelegenheit dann aber ausgerechnet auch noch den folgenden Satz sprechen: „Mit François Hollande sind wir für 10 Jahre an der Macht.“
Wo nimmt er das her? Was soll diese anmassende Selbstsicherheit, kaum dass man wieder an der Macht ist. Schon hat man offensichtlich vergessen, dass bei der Präsidentschaftswahl am Ende nur knapp eine Million Wähler mehr für Hollande als für Sarkozy gestimmt haben.
Vor allem aber, dass im 1. Durchgang der Parlamentswahl die sozialistischen Kandidaten, angesichts der katastrophal niedrigen Wahlbeteiligung von 57%, gerade mal 16% der Wahlberechtigten hinter sich gebracht haben, was eigentlich zu einer gewissen Bescheidenheit beitragen sollte. Von wegen! Wir sind für die nächsten zehn Jahre da, tönt der neue Parlamentspräsident, dem offensichtlich auch entgangen ist, dass Präsident Hollande auf der Popularitätskurve in den letzten 2 Wochen schon satte 7% eingebüsst hat, noch bevor die Regierung überhaupt irgendeine der unvermeidlichen und schmerzvollen Sparmassnahmen angekündigt hat.
Rückkehr der „ENArchen“
Ganz nebenbei und fast unbemerkt geriet die Wahl François Hollandes zum Staatspräsidenten auch zu einer Revanche einer seit Jahrzehnten wegen Realitätsferne und Überheblichkeit kritisierten, von vielen verabscheuten Kaste . Die Rede ist von den Abgängern der legendären Verwaltungs-Elitehochschule ENA, die unter Nicolas Sarkozy ein wenig an Einfluss verloren hatten. Mit François Hollande, selbst ein ehemaliger ENA-Schüler, sind sie innerhalb weniger Wochen wie selbstverständlich an zahlreiche wichtige Schalthebel der Macht zurückgekehrt.
Der „normale Präsident“ hält es nicht anders, wie viele seiner Vorgänger und hat die engsten Vertrauten aus seinem ENA-Jahrgang, der berühmten „Promotion Voltaire“ aus dem Jahr 1980, der auch ein Dominique de Villepin angehörte, gleich reihenweise auf Toppositionen gehievt. Das seit Jahrzehnten gehegte und gepflegte Netzwerk der französischen Elite atmet hörbar auf. Bleibt zu hoffen, dass ihr Hang, sich für allwissend und allein kompetent zu halten, in den bevorstehenden schweren Jahren, nicht zu einem Klotz am Bein von Hollande & Co wird. Denn als besonders feinfühlige politische Köpfe haben sich die Superhirne aus Frankreichs erster Kaderschmiede im Räderwerk der Macht in der Vergangenheit nicht gerade verdient gemacht.