Kambodscha gehört damals zum französischen Kolonialreich. 1906 findet in Paris die „Exposition coloniale“ statt. Da zeigen sich die französischen Kolonien von ihrer besten Seite. Zu den offiziellen Gästen gehört der kambodschanische König Sisowath.
Seine Tänzerinnen lassen Auguste Rodin, schon damals ein Star unter den Künstlern, nicht mehr schlafen. Mehrmals besucht er ihre Vorstellungen. Das Grazile ihrer Bewegungen, die religiöse und exotische Seite ihres Tanzes – all das wirft ihn um.
Doch Rodin begnügt sich nicht damit, sie zu bewundern: Er zeichnet sie und ihren Tanz - rund 150 Mal. Er konzentriert sich auf ihre Bewegungen, die Füsse, die Sprache der Hände während des Tanzes. Einige dieser Werke sind jetzt im Pariser Musée Rodin ausgestellt. Sie gehören zu den Anziehungspunkten der Ausstellung, die bis zum 1. April 2012 dauert.
"Ihr Schamgefühl könnte verletzt werden"
Die Khmer-Tänzerinnen faszinieren Rodin auch durch die Schönheit ihrer Kleider und die Leichtigkeit der Seide. Doch die Kambodschanerinnen gehören zu den wenigen, die Rodin bekleidet zeichnet. Fast alle andern der gezeichneten Frauen, die hier ausgestellt sind, sind nackt, in manchmal kühner Pose. So warnt denn auch am Eingang der Ausstellung ein Schild: „Einige der ausgestellten Werke könnten das Schamgefühl der Betrachter verletzten.“
Dass Rodin, der geniale Bildhauer, auch ein genialer Zeichner ist, ist wenig bekannt. Das will diese Ausstellung ändern. Er, der das „Höllentor“, den „Penseur“ oder die „Bürger von Calais“ modellierte, schuf auch etwa 6'000 Zeichnungen. 4'300 befinden sich im Pariser Musée Rodin. 300 von ihnen werden jetzt ausgestellt.
Rodin begann intensiv, wenn auch schüchtern, in den 1880-Jahren zu zeichnen. Damals war er, der 40-Jährige, mit der wunderbaren jungen Bildhauerin Camille Claudel liiert, die er so schäbig behandelte und die im Irrenhaus endete. Sie hatte Rodins Arbeit mit dem Zeichenstift bewundert und gefördert.
Zum ersten Mal stellte der Meister sieben Zeichnungen im Cercle des arts libéraux aus. Aber das nahmen nur wenige zur Kenntnis. Auch im Genfer Musée Rath waren einige seiner Zeichnungen zu sehen. Doch wirklich zu zeichnen - und anders zu zeichnen als bisher - begann Rodin 1890. Die jetzt in Paris ausgestellten Zeichnungen wurden zwischen 1890 und seinem Tod, 1917, angefertigt.
Rodin verkriecht sich
1898 erleidet der Bildhauer Rodin einen schweren Rückschlag. Seine Balzac-Statue wird nicht verstanden und provoziert einen Skandal. Sieben Jahre lang hatte er daran gearbeitet. Er bezeichnet sein „Monument à Balzac“ als sein Testament. Und jetzt dies. Rodin verkriecht sich - und beginnt intensiv zu zeichnen. Bis zum Beginn des 1. Weltkrieges folgen Ausstellungen in Brüssel, Rotterdam, Amsterdam, Den Haag, London, Rom, Prag und Wien. Neben seinen Zeichnungen werden immer wieder auch seine Skulpturen gezeigt.
Im Jahr 1900, an der Weltausstellung in Paris, stellt Rodin im Palais de l’Alma aus. Er erntet einen riesigen Erfolg.
1907 stellt er in der Pariser Galerie Bernheim-jeune seine kambodschanischen Tänzerinnen aus. Rainer Maria Rilke war zu jener Zeit eine Art Privatsekretär Rodins und war begeistert von diesen „petites danceuses graciles“. Rodins Zeichnungen sind selten datiert. Oft sind sie auf Zetteln skizziert, die nicht mehr als 10 oder 15 Zentimeter messen. Gezeichnet sind sie mit Bleistift, schwarzer oder brauner Tinte, mit Kreide oder Farbstiften lavis gris. Einige sind dann mit Wasserfarben ausgemalt.
Fast täglich empfing er Models in seinem Atelier. Die letzten 27 Jahre seines Lebens war Rodin nicht nur der weltberühmt gewordene Bildhauer: Es gab auch den weniger bekannten, aber ebenso begabten „Rodin le dessinateur“ – Rodin, den Zeichner.
Bei vielen Malern müssen die Models auf einem Stuhl sitzen - fast unbeweglich. Bei Rodin ist alles anders. Er will, dass sich die Frauen bewegen, dass sie vor ihm tanzen, natürlich sind, dass sie das tun, wozu sie gerade Lust haben.
So will er ihre Bewegungen einfangen. Die Frauen ziehen sich aus, verrichten eine Art Striptease. Alles verwandelt sich, verrückt sich, alles ist dynamisch. Rodins Zeichnungen sind nie statisch. Die gezeichneten Frauen sitzen nicht einfach da, sie leben, sie sind in Schwung.
“Entblätterung der Frauen“
Es sind Schnappschüsse, die Rodin zeichnet, Momentaufnahmen. Alles geht schnell, alles dreht sich. Meist schaut er nicht auf das Blatt Papier, auf das er zeichnet. Er betrachtet nur die Models und zeichnet sie blind mit wenigen Linien. Später überarbeitet er die Zeichnungen manchmal, doch nicht immer, fügt Farbe bei, korrigiert da und dort. Alles scheint im Fluss, scheint sich zu verwandeln. Da wird der Augenblick einer Bewegung fixiert: "Instantanés du mouvement".
Die Kunsthistorikerin und Rodin-Kennerin Nadine Lehni spricht von einer «Entblätterung der Frauen»: „Les modèles procèdent à une sorte d’effeuillage, se dévêtant, ouvrant les pans de longues chemises flottantes, faisant glisser une jupe le long de leurs jambes…"
Paul Klee entdeckt einige dieser Zeichnungen Auguste Rodins 1902 in Rom und ist begeistert. „Hier gab es das Schönste, was ich je gesehen habe“. Er nannte die Werke „nackte Karikaturen, etwas, das es vor Rodin nicht gab“.
Nach ihrem Auftritt in Paris reisen die jungen Khmer-Tänzerinnen ab und treten in Marseille auf. Rodin, fasziniert vom fernöstlichen Exotismus, folgt ihnen. „Ich wäre bis nach Kairo gereist, um sie nochmals zu sehen“, sagt er. Dann fahren sie nach Kambodscha zurück. „Welche Leere sie mir hinterlassen haben“, schreibt er. „Als sie gegangen waren, war ich von Schatten und Kälte umhüllt. Ich glaubte, sie würden die Schönheit der Welt mit sich nehmen“. Die meisten Zeichnungen mit den Khmer-Frauen wollte er nicht verkaufen. Sie gefielen ihm so sehr, dass er sie für sich behalten wollte.
„La saisie du modèle Rodin, 300 dessins 1890 – 1917" - Ausstellung bis 1. April 2012, geöffnet von Dienstag bis Sonntag, 10.00 Uhr bis 17.45 Uhr. Eintritt: 10 Euro. www.musee-rodin.fr