„Aubrac“ steht für eine geschätzte Rinderrasse, für eine Käsesorte und eine unvergleichliche Steppenlandschaft auf 1200 bis 1400 Metern Meereshöhe im südlichen Teil des französischen Zentralmassivs. (Siehe Karte am Schluss des Artikels)
Den Aubrac auf der französischen Landkarte zu finden, ist wahrlich keine Hexerei. Der rund 1000 Quadratkilometer grosse Landstrich präsentiert sich deutlich als weisser Fleck in der Südhälfte des Landes. Nur wenige, zumeist winzige Dörfer und kaum Strassen kennzeichnen die Region in ihrer Abbildung auf der Karte. Das Departement Lozère, zu dem der Aubrac gehört, hatte 1880 noch 155‘000 Einwohner, heute sind es noch knapp über 70‘000.
30 Kilometer bis zur nächsten Post
Zwei Einwohner pro Quadratkilometer leben heute in dieser weitgehend baumlosen Gegend, südlich der Kleinstadt Saint-Flour und nördlich von Millau. Am Ostrand des Aubrac schleust die Autobahn A 75 Sonnenhungrige von Clermont-Ferrand in Richtung Montpellier und weiter nach Spanien. Zur nächsten Tankstelle, zum nächsten Postamt, zum nächsten Krankenhaus sind es an manchen Orten mehr als 30 Kilometer. Öffentliche Verkehrsmittel: Fehlanzeige.
Kühe und Kälber sind hier König, Raubvögel wachen über die Einsamkeit, mächtige Findlinge zeugen von vulkanischer Vergangenheit, hüfthohe Mauern aus dunklem Stein markieren die Landschaft, in der es keine Weide gibt, die nicht eingezäunt wäre. Der Blick reicht so unendlich weit, dass man glauben könnte, halb Frankreich unter sich zu haben und ganz hinten am Horizont das Meer zu sehen. Weit verstreut stehen einzelne Steinhäuser, mit Meter dicken Mauern und einem Baum daneben – die sogenannten „Burons“, wo früher der Käse gemacht wurde. Knapp 2000 davon gab es einst, seit den 80er Jahren ist kein einziges mehr bewirtschaftet.
Vor der Weiterfahrt noch kurz pinkeln
Laguiole, wo die berühmten, kunstvollen und unzerstörbaren Messer gleichen Namens hergestellt werden, liegt am westlichen Rand des Aubrac und ist das einzige kleine Städtchen.
Wenige Kilometer ausserhalb hat Michel Bras, der Drei-Sterne-Koch, ein UFO aus Beton und Glas in den Hang mit Blick weit nach Süden bauen lassen. Unten an der Landstrasse weist ein äusserst diskretes Schild den Weg, auf dem nur drei Worte stehe: „Bras, Laguiole, France“. Sein Restaurant ist trotz aller Abgeschiedenheit und Menus für 170 Euro zwischen April und November Monate zuvor ausgebucht. Diskreter Luxus in einer extremen, vom Wind zerzausten Landschaft aus Stein unter weitem Himmel. Auf dem Parkplatz steht ein roter Ferrari neben einem klapprigen Renault Clio. Motorradfahrer in Lederkluft haben einen Blick auf die erlesene Speisekarte geworfen und pinkeln vor der Weiterfahrt noch kurz neben den Parkplatz.
Nasbinals ist der zentrale, der wichtigste Ort im Inneren des Aubrac, der nicht mehr als 500 ständige Einwohner zählt. Die Häuser sind aus grauem Granit, manche davon noch mit den schweren Schindeln aus Vulkanschiefer gedeckt, unter denen sich die Dachstühle krümmen. Es ist kein gewöhnlicher französischer 500-Seelenort - es gibt hier kein Postamt und nicht mal mehr die Tankstelle mit dem Hauch der 50er Jahre, keinen Bäcker, keine Charcuterie und keine Lebensmittelläden, ganz zu schweigen von drei Bars und zwei Hotels.
Wanderer mit Heiligenschein
In den Sommermonaten zieht hier halb Europa durch und will untergebracht und gefüttert werden. Ein ganz spezielles Publikum, das zu Fuss, mit dem Rad oder auch - wie einst der Schotte Stevenson in den Cevennen – mit dem Esel kommt. Die meisten, die diesen Ort für eine Nacht bevölkern, geben sich sanft, ja gütig und zuvorkommend, so mancher scheint einen Heiligschein mit sich zu tragen.
Hier ist Jakobsweg und das Dorf Nasbinals ein neuralgischer Punkt auf dem Weg nach Santiago de Compostella. Gegen 17 Uhr wuselt es richtiggehend entlang der einzigen Haupt- und Durchgangstrasse, wo die einheimischen Viehlaster gegen auswärtige Wohnmobile ankämpfen. Die Restaurants sind schon ungewöhnlich früh, ab 18.30 Uhr, quasi im Belagerungszustand durch Menschen mit rotgebrannten Nasen und Blasen an den Füssen.
Frauengruppe aus Oberbayern
Drei Rentner mit heraushängenden Zungen fahren mit ihren High-Tec-Fahrrädern auf den kleinen Platz, aus den Satteltaschen ragt eine deutsche, eine französische und eine italienische Fahne. Sie haben reserviert, organisieren sich den Schlüssel zu einem kleinen Haus und schieben die bepackten Räder mit letzten Kräften direkt in den Wohn-, Ess- und Kochraum im Erdgeschoss. Am nächsten Tag wird dort die Frauengruppe einer oberbayrischen Kirchengemeinde ihr Abendessen veranstalten.
Nach zwei Tagen in Nasbinals dämmert es einem langsam, dass fast das ganze Dorf in Herbergen verschiedenster Kategorien verwandelt ist - selbst ein ehemaliges Ladengeschäft dient als solche oder ein stattliches Herrenhaus direkt neben dem Rathaus.
Pilger und Fleischvieh
Die Jakobspilger, so viel ist klar, sind neben dem Fleischvieh auf den Weiden, der neue Wirtschaftsfaktor in diesem kahlen Landstrich.
Die Gebrüder Bastide haben das offensichtlich schon seit langem verstanden. Entsprechend floriert ihr Geschäft. Das kleine Bistrot und Restaurant ihrer Mutter haben sie zum Hotel/Restaurant erweitert, am Dorfrand ein weiteres Hotel dazu gesetzt, in zwei Häusern des Dorfs kleine Ferienwohnungen eingebaut und natürlich auch eine der alten Käsereien ausserhalb des Ortes in ein gut gehendes Restaurant verwandelt - ihre Theke im Haupthaus, „Les Deux Bastides“, gleich neben der Kirche, ist die zentrale Schaltstelle ihres Business.
Geplagte Pilger beruhigen
Die beiden Bastide-Brüder könnten unterschiedlicher kaum sein, ergänzen sich offensichtlich aber bestens. Der eine mit dem Aussehen eines Playboys, mit schwarzer Hose und weissem Hemd zieht offensichtlich im Hintergrund die Fäden. Er hat, wenn es kompliziert wird, das allerletzte Wort. Wie sich zufällig herausstellt, ist er auch Bürgermeister des Ortes und Vorsitzender des Gemeindeverbandes im Hochland des Aubrac.
Der andere ist der Bodenständig-Schnauzbärtige, der mit blauer Schürze über dem gewaltigen Bauch wie ein Fels hinter der Theke steht und souverän über das wichtigste wacht: die Kasse. Und wie kein anderer versteht er es, geplagte, genervte und erschöpfte Pilger zu beruhigen. „Les Deux Bastides“ hat am Abend etwas von einem abgelegenen Bergrestaurant, wo man - so voll es auch sein mag – niemals jemanden wegschickt, ohne ihn versorgt zu haben. Irgendeine Lösung findet sich immer. An manchen Abenden werden hier bis zu 300 Gäste verpflegt - und sei es am Ende auch nur noch mit dem „Aligot“ - dem zähen, würzigen Purée aus Kartoffeln, Butter und Weichkäse, sollte das berühmte Fleisch vom Aubrac-Rind tatsächlich ausgegangen sein.
Die Demonstranten gegen die Homo-Ehe
Bereits um 7 Uhr am nächsten Morgen ist die Hauptstrasse von Nasbinals erneut bevölkert. Kleine Gruppen, jung oder alt, Familien oder Einzelgänger, mit den noch feuchten, gewaschenen Socken und den Sandalen, die am Rucksack pendeln, ziehen weiter. Dieses Jahr hat man den Eindruck, dass unter ihnen viele sind, die nach den anstrengenden, Monate dauernden Demonstrationen gegen die Homo-Ehe in diesem Landstrich, wo für sie die Welt noch in Ordnung ist, unter Gleichgesinnten neue Kräfte sammeln.
Hier und dort taucht in diesem menschenleeren, wilden Hochland nach einer Wegbiegung doch tatsächlich eine dieser rosaroten Fahnen von den Demonstrationen der letzten Monate auf, manchmal festgezurrt an einem Esel, mit dem Slogan: „Ein Vater – eine Mutter“.
Lichtjahre entfernt von den Querelen in Paris
Der Aubrac und seine Wege mit unzähligen Kreuzen und so mancher geschmacklosen Madonna am Rand diente diesen Sommer ganz offensichtlich als Rückzugsgebiet des konservativen Frankreichs, Lichtjahre entfernt von den politischen Querelen der französischen Hauptstadt, wo der Präsident sich keinen Urlaub genehmigen wollte und sich trotzdem in Sachen Syrien in eine Sackgasse manövriert hat.
Spätestens im Oktober wird es im Aubrac wieder schneien, der Wind für Schneewehen sorgen und das Land in eine Winterwüste verwandeln. Nur die beiden geschäftstüchtigen Gebrüder Bastide werden auch dann noch Geschäfte machen, indem sie Grosstadtgeschädigten ein Wellnes- oder Überlebensprogramm anbieten.