Aus der Biologie kommen neue Töne, nachdem in letzter Zeit aus den Wissenschaften, z.B. Medizin, Psychiatrie, Verhaltensphysiologie, Neurologie, Linguistik und Physik neue Erkenntnisse über den Menschen und sein „Funktionieren“ ebenfalls für Aufsehen sorgen.
Alte Fragen, neue Antworten
Die Evolution des Menschen ist eine spannende Sache. Immer wieder führen neue Forschungs- und Lehransätze dazu, dass sich unsere alten Vorstellungen als unvollständig erweisen. „Woher kommen wir? Was sind wir? Wohin gehen wir?“, diesen drei Fragen geht einer der berühmten Biologen unserer Zeit nach: Edward Osborne Wilson, emeritierter Professor (Harvard), der sich vor allem mit seiner Evolutionstheorie einen Namen schaffte.
Einfache Fragestellungen beantwortet der Autor mit einer Synthese aus Biologie und Geisteswissenschaften. Etwa: Was liegt in der Natur der Menschen - Egoismus oder Nächstenliebe, Eigennutz oder Kooperation? Diesem menschlichen Dauerkonflikt geht Wilson auf den Grund und er befindet, dass die soziale Gruppe letztlich die treibende Kraft der menschlichen Evolution ist. Doch bevor er zu diesem Befund kommt, räumt er auf mit vielen Klischees. Dabei nimmt er kein Blatt vor den Mund.
Woher kommen wir?
Ausgangspunkt bei der Suche, was den Homo sapiens in den letzten 100‘000 Jahren und seine Verbreitung rund um die Erde innerhalb von nur 60‘000 Jahren (davon die letzten 10‘000 Jahre seit der Erfindung der Landwirtschaft) prägte, beschreibt der Autor in seiner Multilevel-Selektionstheorie. Adaptionen zeichnen diesen Weg, etwa: der Gebrauch von Feuer, Arbeitsteilung, Heranwachsen der Körpergrösse, Entwicklung greiffähiger Hände, Ernährung mit hohem Fleischanteil, Bildung von in hohem Masse organisierten Gruppen. Dass sich schon vorher das Gehirn im Laufe von Jahrmillionen von 500 auf 1700 Kubikzentimeter vergrössert hatte, war Voraussetzung.
Die evolutionäre Kraft, die unserer Abstammungslinie half, den Weg durch das Labyrinth der Evolution zu finden, wurde bisher – fast ein halbes Jahrhundert lang – mit der Theorie der Verwandtenselektion erklärt. Diese wird nun erweitert durch die erwähnte Multilevel-Selektionstheorie: „eine Wechselwirkung zwischen Selektionskräften von denen die einen an Merkmale individueller Gruppenmitglieder angreifen und die andern der Gruppe als Ganzem“ (E.O. Wilson: „Die soziale Eroberung der Erde“, Verlag Beck, 2013).
Die genetische Fitness des Menschen und ein grosser Teil unserer Kultur dürften demnach eine Folge sowohl der individuellen, als auch der Gruppenselektion sein. Diese kreativen Kräfte entstanden aus
- intensiver Konkurrenz zwischen Gruppen
- instabiler Gruppenzusammensetzung (wie Einwanderung, Missionierung, Eroberung), die zur Entstehung immer neuer Gruppen führte
- unvermeidlicher, ständiger Auseinandersetzung zwischen einerseits Ehre, Tugend, Pflicht (Gruppenselektion) und andererseits Egoismus, Feigheit, Heuchelei (individueller Selektion)
- der Perfektionierung der Fähigkeit, schnell und zutreffend die Absichten der anderen zu erkennen.
Wer oder was sind wir?
Die Formulierung der menschlichen Natur ist ausserordentlich schwierig. Vielleicht möchten viele von uns die Natur des Menschen zumindest teilweise im Dunkeln halten, spekuliert der Autor: „Die Ökonomen haben sie im Grossen und Ganzen umfahren, während die Philosophen, die so kühn waren, sie erkunden zu wollen, sich unterwegs immer verrannt haben. Theologen neigen zur Kapitulation und weisen sie in unterschiedlichen Anteilen Gott und dem Teufel zu. Politische Ideologien von Anarchismus bis Faschismus definieren sie zu ihrem egoistischen Vorteil.“ Darüber lässt sich bekanntlich trefflich streiten.
Wilson klärt vorerst ab, was die Natur des Menschen nicht ist: „Die Natur des Menschen sind nicht die Gene, die sie bedingen; diese legen nur die Regeln fest, nach denen sich Gehirn, Sinnesorgane und Verhalten entwickeln. Dabei spielen die epigenetischen Regeln eine wichtige Rolle.“ (Der Mediziner Joachim Bauer spricht da vom Gedächtnis der Gene, die die Möglichkeit haben, Erfahrungen des Organismus in seiner Umwelt in Form eines biochemischen Skripts abzuspeichern).
Vor 30‘000 Jahren entstanden erste Innovationen: elegante, darstellende Höhlenmalerei, Bildhauerei, Instrumentenbau. „Was katapultierte den Homo sapiens auf dieses Niveau? Das verbesserte Langzeitgedächtnis, insbesondere im Arbeitsgedächtnis, führte zur Fähigkeit, Szenarien zu entwerfen und Strategien zu planen. Dabei half die Gruppenselektion. Eine Gruppe, deren Mitglieder Absichten verstehen und miteinander kooperieren konnten.“
Moral und Ehre
Der Mensch und seine sozialen Ordnungen sind wohl von Grund aus unvollkommen und widersprüchlich. Dieses Dilemma zwischen Böse und Gut bildet die Basis der Multilevel-Selektion. Hier der Überlebens- und Fortpflanzungswettkampf zwischen Menschen (egoistische Individualselektion, „Sünde“), dort die Altruismus fördernde Gruppenselektion (selbstlos, „Tugend“). Als eiserne Regel dieser Sozialevolution bezeichnet Wilson den Befund, „…demnach sind egoistische Individuen altruistischen Individuen überlegen, während Gruppen von Altruisten andern Gruppen von egoistischen Individuen überlegen sind, das Gleichgewicht der Selektionsdrücke kann sich nie an eines der Extreme verlagern.“
Wilson ist also der Meinung, dass echter Altruismus auf einem biologischen Instinkt für das Allgemeinwohl des Stammes beruht und dass unsere Art kein Homo oeconomicus ist, sondern eben ein Homo sapiens, ein unvollkommenes Wesen, das sich durch eine unvorhersagbare, unerbittlich bedrohliche Welt zu kämpfen hat. Jenseits dieser Instinkte ortet Wilson eine ausserordentlich prägende Erfahrung: „Ich meine Ehre, ein Gefühl, das aus angeborener Empathie und Kooperationsbereitschaft entstanden ist.“
Religionen
Dezidiert äussert sich der Biologe auch zu diesem heiklen Thema. Das Herzstück der traditionellen organisierten Religionen sind ihre Schöpfungsmythen; ihre Macht beruht darauf, dass sie soziale Ordnung und persönliche Sicherheit zu festigen helfen, nicht aber darauf, ihren Beitrag zur Wahrheitssuche zu leisten.
Als entscheidenden Schritt zur Befreiung der Menschheit von den oppressiven Formen des Tribalismus schlägt Wilson vor, „mit dem gegebenen Respekt die Anmassung derjenigen Machthaber zurückzuweisen, die von sich behaupten, im Namen Gottes zu sprechen. Das Gleiche rät er gegenüber Verbreitern von dogmatisch-politischen Ideologien. Versöhnlich fügt er bei: „Womöglich haben ihre Anführer die besten Absichten. Aber die Menschheit hat genug gelitten unter der grob verfälschten Geschichte, wie falsche Propheten sie erzählt haben.“
Wohin gehen wir?
Wie andere Wissenschaftler vor ihm, fordert deshalb Wilson „eine neue Aufklärung“. Wenn wir verstehen wollen, wenn wir uns erst besser selbst verstehen, wenn wir uns den einfachen Anstand gegenüber den Anderen zum ethischen Grundsatz machen, dann – ja dann, liesse sich „die Erde in ein dauerhaftes Paradies verwandeln – oder zumindest in einen vielversprechenden Anfang davon.“ Sagt der Biologe, der die Naturwissenschaft als Ursprung unseres Wissens über die reale Welt bezeichnet.
Persönliche Erkenntnis
Was hier auf einigen Zeilen (statt 350 Seiten) zusammengefasst ist, ruft natürlich nach persönlicher Reflektion und Interpretation. Andere besser verstehen zu wollen, bedarf aber eigentlich keiner neuen Aufklärung. Es hilft dabei, nicht dem eigenen Weltbild verhaftet zu bleiben, sondern neugierig zu forschen und suchen, wo dieses vielleicht Retuschen bräuchte. Denn natürlich bleibt die alte Erkenntnis, dass jeder Mensch sein eigenes Weltbild konstruiert, nach seinen Prägungen, Präferenzen und Neigungen.