„Wenn man Krieg führt, trägt man keine EM aus“. Diesen Satz hat der französische Politologe und Fussballfan, Pascal Boniface, kurz vor Beginn der Euro 2016 geprägt. Es war einerseits eine Breitseite gegen die Kriegsrhetorik von Präsident Hollande und seines Premierministers seit den Terroranschlägen im November vergangenen Jahres – seitdem heisst es fast jede Woche einmal, Frankreich stehe im Krieg gegen die Terrormiliz IS. Zugleich umschreiben diese Worte die Schwierigkeit – auch wenn man sich letztlich nicht im Krieg befindet -, im derzeit schwer gebeutelten, verunsicherten und spannungsgeladenen Frankreich, überhaupt eine EM auszutragen, vor allem aber sie auch in ein weiteres, echtes Sommermärchen zu verwandeln.
So wie Präsident Hollande nun seit Jahren gebetsmühlenhaft erklärt, die Zahl der Arbeitslosen werde gewiss irgendwann zurückgehen, und wie er seit Wochen - entgegen jedes Empfindens der Franzosen – erklärt, es gehe dem Land jetzt wirklich besser, tönte es seit Monaten aus allen offiziellen Kanälen, die EM 2016 in Frankreich werde – trotz aller Widrigkeiten – ein grosses Fussballfest werden.
Randale in Marseille
Die EM ist jetzt eine gute Woche alt und mit dem Fest ist das so eine Sache. Gewiss, die irischen Fans möchten die Franzosen am liebsten noch wochenlang im Land halten, angesichts ihrer Fröhlichkeit, die diesem verbiesterten Land offensichtlich gut tut. Auch die Anhänger der schwedischen Nationalmannschaft haben gut getan und gelbe Lichtblicke hinterlassen.
Und doch: der Anstoss zum Eröffnungsspiel am 10. Juni in Paris war noch nicht gegeben, da hatte es in Marseille bereits heftigst gekracht. Vor dem Spiel Russland – England am 11. Juni verhielten sich die früh angereisten englischen Fans, wie man es von ihnen im Grunde gewohnt ist: betrunken und grölend besetzten sie zentrale Orte der Innenstadt von Marseille, die kriegerisch ausgestattete französische Bereitschaftspolizei, denen ihr Benehmen offensichtlich absolut fremd war, wusste mit ihnen nichts anzufangen, war nicht in der Lage zwischen betrunkenen Fans und echten Hooligans zu unterscheiden und griff, wie sie es von normalen Demonstrationen her kennt, regelmässig zum Tänengas.
Hunderte im Grunde harmlose englische Fans wussten nicht, wie ihnen geschah und klagten hinterher, ein derartiges Verhalten von Ordnungskräften sei ihnen in ihrem ganzen Fanleben noch nie untergekommen. Die EM hatte kaum begonnen und schon gingen Bilder um die Welt, die wahrlich nicht von Feststimmung zeugten. Anwohner des Hafenviertels in Marseille berichteten empört, dass sie sich 48 Stunden lang kaum auf die Strasse trauen konnten.
Keine Ahnung von Hooligans
Frankreichs masslos überlastete Sicherheitsbehörden und Sicherheitskräfte mussten sich sehr schnell auch noch Kritik von Hooligan- Experten aus Nachbarländern gefallen lassen. Bei gemeinsamen Vorbereitungen auf das Ereignis in den letzten zwei Jahren hätte sich die französische Polizei stets uninteressiert und unkooperativ gezeigt, Warnungen und Informationen schlicht ignoriert und konstruktive Kritik oder alternative Vorschläge vom Tisch gewischt, als handle es sich um Majestätsbeleidigung.
Frankreich und der Blick über die Grenzen scheint auch in diesem Kontext ein schwieriges Kapitel. "Die französische Polizei hat die international geltenden Standards der letzten 15 Jahre im Umgang mit gewalttätigen Fussballfans absolut nicht integriert", - so der frühere Sicherheitschef des Deutschen Fussballbundes nach den Ereignissen von Marseille. Der Satz ist nachvollziehbar, wenn man weiss, dass Fan-Forschung oder Fan-Betreuung in Frankreich praktisch Fremdwörter sind.
Vor allem aber hatten die französischen Sicherheitsbehörden die russischen Hooligans absolut nicht auf dem Radar und sind von diesen paramilitärisch organisierten Schlägertrupps mit rund 200 Mann völlig überrumpelt worden. Keinen einzigen von ihnen - schwarz gekleidet, für Kampfsport ausgerüstet, durchtrainiert und absolut nüchtern - hatten sie festnehmen können nach deren überfallartigen Aktionen gegen englische Fans in Marseille. Und als die Polizei dann zwei Tage später einen Bus mit russischen Fans an der Côte d'Azur an der Weiterfahrt zum nächsten Match in Nordfrankreich hinderte und erstmal alle Insassen in Gewahrsam nahm, hatte das prompt ein diplomatisches Nachspiel: der französische Botschafter in Moskau wurde umgehend ins dortige Aussenministerium einbestellt.
Jedoch: die Umtriebe der russischen Hooligans blieben nicht die einzigen bei dieser EM. Gegen ein Viertel der teilnehmenden Fussballverbände hat die UEFA inzwischen ein Disziplinarverfahren eröffnet - Schlägereien ihrer Fans im Stadion, sowie gezündete Leuchtraketen und Böller sind der Grund.
Die faschistoiden kroatischen Ultras z.B. sind jedem, der seit 20 Jahren den internationalen Fussball verfolgt, hinreichend bekannt - nur den französischen Behörden waren sie es offensichtlich nicht. Ganz nebenbei stellt sich sehr akut auch die Sicherheitsfrage in den Stadien. Wochenlang hat man aus Frankreich der internationalen Öffentlichkeit verkündet, die Stadien und die Fanmeilen seien durch doppelte Sicherheitsschleusen und insgesamt 90`000 Ordnungskräfte - darunter 12`000 private - absolut sicher. In bereits fünf Stadien war es aber bei dieser EM offensichtlich bisher kein Problem, Pyrotechnisches und Böller auf die Zuschauertribünen mitzubringen.
Ein Hauch von Gewalt
Die Gewalt in den Stadien anlässlich dieser EM ist letztlich nur der I-Punkt in einem von Gewalt geprägten Klima, das in Frankreich seit mehreren Wochen nicht nur der Regierung Sorgen bereitet. Es herrscht eine Stimmung, als hätten der politisch extrem geschwächte Präsident und seine Regierung die Dinge nicht mehr in der Hand. Ein Symbol: rund 35 Parteibüros der regierenden Sozialisten sind in den letzten Monaten in ganz Frankreich von Autonomen und linksextremistischen Gruppen verwüstet worden, auf eines wurden sogar ein Dutzend Schüsse abgefeuert.
Diese Gruppen - gut trainiert und vorbereitet - begleiten nun schon seit März jede Gewerkschaftdemonstration gegen die umstrittene Arbeitsreform - hauen ein auf Banken, Versicherungen, aber auch auf Restaurants oder die Auslagen von Kleinhändlern - und das nicht nur in Paris. Auch Städte wie Nantes und Rennes sind schwer getroffen von gewaltbereiten Gruppierungen des anarchistischen und linksextremen Milieus, wie man sie in Frankreich seit Ende der 70-er Jahre nicht mehr in dieser Form hat agieren sehen. Und wenn sie nicht Bankautomaten vernichten oder die Fensterscheiben der Kreditinstitute zerschlagen, dann geht es gegen die Polizeikräfte - mit Wurfgeschossen und Parolen, die da lauteten: "Jedermann verachtet die Polizei" oder "Ein Polizist, eine Kugel". Dies nur wenige Monate, nachdem Frankreich seinen Ordnungskräften nach den Novemberattentaten 2015 regelrecht zu Füssen lag, sich vor ihnen verneigte und Bilder durchs Land gingen, wo Menschen die Polizisten küssten, um ihnen für ihre Arbeit zu danken. Ja selbst Renauld, der wieder genesene, altlinke und höchst populäre Barde hat jüngst auf seiner ersten CD seit über einem Jahrzehnt ein Chanson eingespielt unter dem Titel "J'ai embrassé un flic" - "Ich habe einen Bullen geküsst".
Die Gewalt am Rande der sich wiederholenden Gewerkschaftsdemonstrationen - selbst vor dem Zerschlagen der Glasfassade des berühmten Kinderkrankenhauses Necker waren die Autonomen am 14. Juni nicht zurückgeschreckt - haben Präsident Hollande und Premierminister Valls jetzt sogar dazu gebracht, ein Demonstrationsverbot ins Auge zu fassen - eine Massnahme, die auf Grund des immer noch geltenden Ausnahmezustand relativ leicht umzusetzen wäre und mit der Überforderung der Sicherheitskräfte auf Grund der Fussball-EM und der nach wie vor hohen Terrorbedrohung begründet würde. Doch Derartiges hatte eine französische Regierung das letzte Mal am Ende des Algerienkriegs 1962 in die Tat umgesetzt.
Diesen Schritt heute tatsächlich zu tun, würde heissen: der Regierung von Premier Valls steht das Wasser wirklich bis zum Hals. Die Aufrufe der Regierung an die Gewerkschaften, von sich aus auf die nächsten Demonstrationen am 23. und 28. Juni zu verzichten, sind wie selbstverständlich ungehört verhallt. Einer der Gewerkschaftsbosse schlug vor, man könne ja auch die Fussball-EM verbieten, schliesslich herrsche auch rund um dieses Ereignis ausreichend Gewalt.
Man darf in Frankreich dieser Tage den Eindruck haben, dass sich eine gewisse Wut und Gewalt über das Land entlädt und dass diese von der UEFA auf vier Wochen und 24 Teams aufgeblähte EM 2016 nicht nur den französischen Ordnungskräften, die seit Monaten am Zahnfleisch gehen und Millionen Überstunden angehäuft haben, unendlich lang erscheinen könnte. Es lebe der 10. Juli! Dann dürfen die Sicherheitskräfte, für die über die gesamte EM hinweg absolute Urlaubssperre gilt, vielleicht ein wenig durchschnaufen. Wäre da nicht ab 2. Juli gleichzeitig die Tour de France - 23 000 Ordnungskräfte braucht man angeblich, um das grösste Radrennen der Welt drei Wochen lang zu sichern.
Könnte es sein, dass so mancher französische Polizist angesichts von Überlastung dieser Tage an Winston Churchill und George Orwell denkt? "No sports", war die Devise des Schwergewichtigen mit der Zigarre. "Sport is war minus the shooting" hat George Orwell zu Papier gegeben. Beide lebten in Zeiten, als es diese von Waffen und Sicherheitsarmadas bewachte Welt des Sports noch gar nicht gab. Orwell aber hat das nicht daran gehindert, damals schon die politisch - kriegerische Dimension des Sports zu erkennen.