Die zweite Frage ist einfacher zu beantworten als die erste. Schweizer Gesetze sind streng und schützen auch die Verdächtigten. Die brandneue Schweizerische Strafprozessordnung (StPO) hat die Schranken ab 1. 1. 2011 nochmals erhöht. Art. 73 StPO befiehlt: Strafbehörden wahren Stillschweigen über Tatsachen, die ihnen amtlich zur Kenntnis gelangen. Neuerdings verschärft: Der Staatsanwalt kann Privatkläger und Anwälte sogar unter Strafdrohung verpflichten, ebenfalls Stillschweigen zu bewahren. Es galt nämlich die Lücke zu füllen, dass oft die Anwälte von Opfer oder Kläger beispielsweise dem "Magazin" ganze Geschichten zusteckten, weil sie eben nicht unter dem Geheimnisgebot der Strafbehörden standen (Fall Irma V. , Herzverwechslung am Universitätsspital 2004).
Geheim ist vor allem das Vorverfahren, die Abklärung des Sachverhalts durch Polizei und Staatsanwalt; und wenn wir nach New York hinüberblicken, hat gerade die demütigende Vorführung des verdächtigten Strauss-Kahn im Vorverfahren den "Tagesschau"-Zuschauer konsterniert. Wie kam es, dass Fotografen zugegen waren, als Strauss-Kahn in Handschellen aus dem Sonderflugzeug geholt wurde? Weshalb war die Richterin, die über Kaution oder Haftverlängerung entschied, von Kameraleuten umgeben, die auf das unrasierte Gesicht des ratlosen Franzosen zoomten? Der Mann hat jetzt schon die Reputation verloren – für immer, muss man fast befürchten, vor allem wegen dieser Bilder.
Um noch beim kontinentaleuropäischen Standard zu verweilen: Nicht mehr geheim ist später dann die Hauptverhandlung, an der Publikum und Medien zugelassen sind (ausser der Gerichtspräsident schliesst das Publikum etwa wegen heikler Sexualtatbestände aus, wobei er die Medienvertreter unter Auflagen dennoch zulassen kann, Art. 70 StPO). Und nicht geheim ist die Urteilsverkündung. Auf diese Gerichtsöffentlichkeit besteht ein verfassungsgemässer Anspruch (Art 30 Bundesverfassung BV). Das soll der "Kabinettsjustiz" früherer Jahrhunderte den Riegel schieben.
"Bild- und Tonaufnahmen innerhalb des Gerichtsgebäudes" sind nicht gestattet, dürfen sogar beschlagnahmt werden (Art. 71 StPO). Sie "könnten zu einer Störung des Verfahrens führen und damit die Ermittlung der materiellen Wahrheit gefährden. Auch aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes rechtfertigt sich ein Ausschluss von Radio und Fernsehen" (StPO-Kommentator Franz Riklin). Diese rigide Verbannung ist auf dem europäischen Kontinent nicht unumstritten. In der StPO ist sie auf den Druck der Gerichtspräsidenten zurückzuführen. Deutschlands höchster Richter, Verfassungsgerichtspräsident Andreas Vosskuhle, hat sich demgegenüber am Mittwoch für eine Lockerung ausgesprochen: Man dürfe das Bild der Justizverfahren nicht der Darstellung amerikanischer Krimiserien überlassen.
Doch jetzt zurück zur Eingangsfrage. Was erklärt die Brutalität der amerikanischen Strafprozessprozedur – in einem Land, das meist Wert auf die Wahrung der Menschenrechte legt? Ich fragte Niklaus Schmid, den massgeblichen Entwerfer der neuen schweizerischen Strafprozessordnung, zumal er auch ein Buch über amerikanische Prozesstradition verfasst hatte. Für den Zirkus, der um Strauss-Kahn veranstaltet wurde, "ist in der amerikanischen Rechtstradition grundsätzlich kein Sensorium vorhanden", meint er nachdenklich. "Es kommt auch viel schneller als in Europa zur Verhaftung über Lappalien – wer im Auto einen verbotenen U-Turn macht und keine Kaution laut Verfassung leistet, wird erst mal in Haft gesetzt…".
Fängt ein junger Erwachsener wegen banaler Übertretungen oder Vergehen drei Strafstriche ein, kann er auf Jahre ins Gefängnis wandern – "brutal", meint Schmid. Dann die kaum begrenzbare "Freiheit der Meinungsäusserung", während Europas Jutiz meist sorgfältig zwischen öffentlichem Interesse und Privatsphäre abwägt (Ich rede hier von der Justiz, nicht von der Boulevardpresse). Es ist eine andere Rechtskultur, wobei die "assumption of innocence" (Unschuldsvermutung) durchaus eine grosse Rolle spielt. Aber für den Schuldspruch, nicht für den Umgang mit Verdächtigten. Darunter hat jetzt Strauss-Kahn zu leiden.
1) Peter Studer war Chefredaktor des Tages-Anzeigers und des Schweizer Fernsehens. Der Jurist und Rechtsanwalt präsidierte viele Jahre den Schweizer Presserat und ist Spezialist für Medienfragen.