Deutsch hat sich wie jede Sprache im Lauf der Zeit verändert. Doch die bisherige Entwicklung ging langsam vonstatten. Lesen wir Gottfried Kellers vor 150 Jahren entstandene Novellen in der originalen Fassung, so wundern wir uns zwar über manche Schreibweisen und Wendungen, stossen aber auf keine sprachlichen Hürden. Sogar Walther von der Vogelweides vor acht Jahrhunderten in Mittelhochdeutsch geschriebene Gedichte können wir heute auch als Nicht-Germanisten ohne grössere Schwierigkeiten lesen.
In neuester Zeit konstatiert die linguistische Forschung einen viel schnelleren Wandel, und wahrscheinlich wird das Tempo der Sprachentwicklung weiter ansteigen. Gut möglich, dass dem Deutschen in den nächsten Jahrzehnten stärkere Veränderungen bevorstehen als es vorher in Jahrhunderten durchlaufen hat.
Weshalb diese Akzeleration? Die Gesellschaften sind kulturell und sprachlich durchmischter als früher. Migration, Mobilität und Globalisierung führen zu mehr Berührungen zwischen unterschiedlichen Sprachwelten. Diese Kontaktzonen sorgen für gegenseitige Beeinflussung der Idiome und bringen linguistische Amalgame und Hybride hervor. Die Akzeptanz gegenüber Gruppen- und Szenesprachen wächst. Neologismen werden leichter in den offiziellen Sprachkorpus übernommen.
Sprachentwicklung hat stets eine Tendenz zur Vereinfachung. Komplizierte Konjugationen und Deklinationen bilden sich zurück oder verschwinden ganz. Anders als zu Goethes Zeiten deklinieren wir Personennamen nicht mehr. Die Syntax ist so viel einfacher geworden, dass die meisten Leserinnen und Leser sich mit Schillers oder Kleists Satzgebilden inzwischen schwertun.
Wohin die Reise der Sprachentwicklung vermutlich gehen wird, kann man an Indizien ablesen. Die Deklination ist auf dem Rückzug. Die vielen Akkusativfehler werden irgendwann nicht mehr auffallen und schliesslich – dank nachvollziehender Duden-Revision – keine Fehler mehr sein. Auch der Dativ wackelt. Noch schlechter geht es dem Genitiv. Ganz verschwinden werden die Kasusformen wohl nicht, aber dass es weitgehend ohne sie geht, zeigt das Beispiel des Englischen.
In der Konjugation haben Futur und Konjunktiv schon länger einen schweren Stand, ebenso die differenzierten Abstufungen der Vergangenheitsformen. Da es durchaus möglich ist, verständlich zu sprechen und zu schreiben ohne diese Finessen, werden sie wahrscheinlich verschwinden.
Neben solchem Vereinfachungsdruck besteht eine gegenläufige Tendenz zur sprachlichen Ausdifferenzierung. In Deutschland soll es gegen 10’000 unterschiedliche Ausbildungsgänge auf Hochschulniveau geben. Jeder davon generiert laufend neue fachsprachliche Begriffe und Ausdrucksweisen. Der Wortschatz des Deutschen zur Zeit des Ersten Weltkriegs wird auf 3,7 Millionen Wörter geschätzt; heute sind es 5,3 Millionen.
Expansion innerhalb der Sprachen korreliert mit Reduktion der Sprachenvielfalt. Heute werden auf der Erde 7’000 Sprachen aktiv gesprochen, 5’000 weniger als ums Jahr 1500. Nach Schätzungen von Anthropologen sind in den letzten 12’000 Jahren etwa 12’500 Sprachen ausgestorben; für das Jahr 2200 prognostizieren sie gerade noch hundert lebende Sprachen auf der Erde.
Schwer einzuschätzen sind die Wirkungen von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz (Mensch-Maschine-Kommunikation, automatische Übersetzung) auf die weitere Sprachentwicklung. Wird sich neben Mündlichkeit und Schriftlichkeit eine zusätzliche, von Maschinen bestimmte Sphäre der Kommunikation etablieren? Und wird diese den Druck zum Anschluss an dominante Sprachen verstärken oder verringern?
Die nächsten fünfzig Jahre könnten der deutschen Sprache Veränderungen bescheren, die wir uns nicht annähernd vorzustellen vermögen.