Manche Namen der Organisationen sind originell: „Jeudi Noir/Schwarzer Donnerstag" heisst die eine, „Sauvons les riches/Retten wir die Reichen" die andere. Da ist aber auch RESF „Reseau d'Education sans Frontières/Netzwerk für Erziehung ohne Grenzen“, welches in Frankreich eingeschulte Kinder von Ausländern ohne gültige Papiere unterstützt oder „Les Enfants de Don Quichotte/Kinder von Don Quichotte", die sich für das verbriefte Recht auf Wohnung einsetzen und sich um Obdachlose kümmern.
Ihnen und noch einer Reihe anderer Gruppen ist gemein, dass ihre Mitglieder sich eines Tages gesagt haben, wir haben genug davon, dass Frankreich sich ständig als Mutterland der Menschenrechte bezeichnet, diese Menschenrechte aber immer häufiger mit Füssen tritt. Genug davon auch, dass Solidarität zunehmend ein Fremdwort wird und der Individualismus fröhliche Urstände feiert, dass der Markt alles bestimmt und öffentliche Dienstleistungen nach und nach abgebaut werden, dass die Regierung Gesetze, die sie selbst erlassen hat, mit einem Achselzucken umgeht oder nicht einhält.
Und noch eines haben diese Organisationen gemeinsam: Sie sind Profis, was den Umgang mit Internet und den Medien angeht. Sie wissen, wie man mit möglichst geringen Mitteln grösstmögliche Wirkung erzielt, auch indem sie ihre Aktionen vielfach mit einem guten Schuss Humor würzen.
Mit Humor gegen Wohnungsnot
„Jeudi Noir/Der Schwarze Donnerstag" - in Anspielung auf den New Yorker Börsenkrach und eine französische Zeitschrift mit Wohnungsinseraten, die jeden Donnerstag erscheint, beherrscht all das bestens. Überwiegend junge Menschen hatten sich vor vier Jahren gesagt, die Wohnungssituation, besonders in der französischen Hauptstadt, ist eine Schande. Kein junger Mensch, der nicht von betuchten Eltern unterstützt wird, kann in Paris eine Bleibe finden, denn 500 Euros für eine bessere Besenkammer sind keine Seltenheit. Nicht mal ein junger Lehrer, eine Krankenschwester oder ein Postbeamter kann auch nur daran denken, in der Seine-Metropole eine Wohnung zu mieten – und für die Sozialwohnungen stehen über 100'000 Familien auf den Wartelisten.
Die Aktionen von „Jeudi Noir“ gegen diese Zustände haben Happening-Charakter. In der Regel erscheint eine Gruppe von 10 bis 15 Personen mit Megaphonen, Konfettis und einigen Flaschen Wein ausgerüstet, zu einer Wohnungsbesichtigung. Kaum dass sich die Wohnungstür geöffnet hat, organisiert die Gruppe im Handumdrehen einen Aperitif und eine kleine Fête. Man versucht den Makler, den Eigentümer und andere anwesende Wohnungssuchenden in ein Gespräch zu verwickeln - und zieht, in der Regel, nach einer Stunde wieder ab. "Jeudi Noir" lädt sich auch schon mal ins zuständige Wohnungsbauministerium ein oder zu Kongressen der Immobilenbranche und sorgt dort für Stimmung bzw. betretene Minen.
"Ministerium für Wohnungsnot
Ab und an besetzen sie in Paris, sehr gezielt und gut vorbereitet, ein Haus, dessen oft jahrelanger Leerstand angesichts der angespannten Wohnungssituation zum Himmel schreit: Über mehrere Monate hinweg hatten sie in einem Gebäude nahe der Pariser Börse das „ Ministerium für Wohnungsnot“ eingerichtet und es am Ende, als sie das Haus wieder verlassen mussten, immerhin geschafft, dass die Stadt Paris dort Sozialwohnungen einrichtet.
Und am wunderschönen „ Place des Vosges“ , mit seinen Stadtpalästen aus dem 17. Jahrhundert, hatten sie ein Palais ausfindig gemacht, das seit über 30 Jahren nicht bewohnt war – 20 Personen nisteten sich dort über ein Jahr lang ein, brachten das Haus auf Vordermann, versuchten, Mietverträge auszuhandeln , machten das Stadtpalais zu einem Zentrum der Diskussion über die Krise auf dem Wohnungsmarkt.
Kampf den Palästen
Ähnlich, nur etwas provozierender, verhalten sich die von "Sauvons les Riches/Rettet die Reichen" - ein Verein, der für eine höhere Besteuerung der gut Verdienenden, für ein Maximaleinkommen der Superreichen und gegen die Allmacht der Banken mobil macht.
Die Aktivisten erscheinen in der Regel, verkleidet mit Perücken und Masken, mit Zigarren im Mundwinkel und mit Musik, etwa bei einer Gemeinderatssitzung der Stadt Paris oder einem Diner des Lions Club in der Pariser Nobelstadt Neuilly, wenn Jean Sarkozy, der Sohn des Präsidenten, gerade anwesend ist, um ihm das Diplom des besten Vatersöhnchens zu überreichen. Letzthin tauchten sie im noblen Hotel Bristol, der Kantine des Staatspräsidenten gegenüber dem Elyseepalast auf und improvisieren auf den Damasttischdecken des Speisesaals ein Picknick – Mikrophone und Kameras der Presse immer im Schlepptau. „Sauvons les riches“, wie auch „Jeudi Noir“, verfügen über hunderte Mailadressen Pariser Journalisten, die sie dann, meist am Vorabend, über eine bevorstehende Aktion informieren.
Elektrizitätsarbeiter und Lehrer
Seit fünf Jahren haben sich eine Reihe von Angestellten der staatlichen Elektrizitätsbetriebe EDF unter dem Namen „Robin des Bois/Robin Hood“ zusammengeschlossen und verstossen bewusst und offensiv gegen ihre beruflichen Pflichten.
Sie nehmen, sollten sie erwischt werden, Strafen, ja Entlassung in Kauf, wenn sie zum Beispiel arme Familien, denen man den Strom abgestellt hat, wieder ans Stromnetz anschliessen oder dafür sorgen, dass diese Menschen vom günstigeren Nachttarif profitieren können.
Auch unter Frankreichs Lehrern rumort es. Landesweit weigern sich seit zwei Jahren mehrere hundert Pädagogen, einen neuen Lehrplan umzusetzen, weil sie ihn für schädlich halten. Sie weigern sich auch, bestimmte Aufgaben zu übernehmen, die bislang von zusätzlichem Personal ausgeführt wurden, dessen Stellen das Ministerium ersatzlos gestrichen hat, etwa wenn es um Sonderbetreuung von schwächeren Schülern ging. Auch diese Lehrer nehmen Gehaltskürzungen, Abmahnungen und negative Folgen für den Verlauf ihrer Karriere in Kauf.
Gegen die Herzlosigkeit
Die vielleicht beeindruckendste Organisation aus dieser neuen Generation von Ungehorsamen in Frankreich ist das "Netzwerk für Erziehung ohne Grenzen". Dort haben sich, über das ganze Land verstreut, Arbeiter und Akademiker, Kommunisten und Konservative, Christen und Agnostiker vereint, einfach weil ihnen allen eines Tages etwas widerfahren ist, das sie als Mensch nicht akzeptieren konnten.
Dass nämlich ihr Kind von der Schule nach Hause kam und erzählte, dass ein kleiner Junge aus dem Kongo, ein kleines Mädchen aus Kirgisien, eine 16-Jährige aus Marokko oder ein Abiturient aus dem Senegal, über Nacht abgeschoben worden sind oder abgeschoben werden sollen.
Es sind Kinder von Ausländern ohne gültige Aufenthaltsgenehmigungen, die aber zum Teil schon seit Jahren französische Schulen besuchten. Plötzlich waren französische Eltern reihenweise damit konfrontiert, dass ein Klassenkamerad ihrer eigenen Kinder über Nacht verschwunden war. Zu tausenden und besonders in der tiefen Provinz Frankreichs sind sie aufgestanden und haben gesagt: so nicht!
Zusätzlich für Empörung hat gesorgt, dass viele von ihnen miterleben mussten, wie Polizisten vor den Schulen den Eltern ohne Aufenthaltsgenehmigung auflauerten, wenn diese ihre Kinder abholten, um sie zu verhaften und in Schubhaft zu bringen.
Abertausende Franzosen aller sozialen Schichten sind jetzt seit Jahren mobilisiert und bereit, bei den Präfekturen, vor Gerichten, Gefängnissen oder Abschiebelagern zu protestieren und zu intervenieren. Hundertfach haben sie sogar - wie in Zeiten der deutschen Besatzung Frankreichs - Kinder und deren Eltern bei sich zu Hause versteckt, um sie dem Zugriff der Polizei zu entziehen, Alarmsysteme und Telefonketten organisiert.
Unterstützt wird diese Bewegung jetzt auch durch das so genannte „Manifest der 144“. In Anlehnung an das „Manifest der 121“, in dem Sartre, Maguerite Duras oder Claude Lanzmann 1960 während des Algerienkriegs für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung eingetreten waren, oder an das „Manifest der 343 Schlampen“, die 1971 das Recht auf Abtreibung forderten, haben jetzt 144 Intellektuelle und Künstler einen Appell unterzeichnet, der die Abschaffung des Artikels 622-1 des Asylgesetzes verlangt. Der Artikel sieht bis zu fünf Jahre Gefängnis und 30 000 Euros Geldstrafe vor für jeden, der direkt oder indirekt einem Ausländer die illegale Einreise oder den illegalen Aufenthalt erleichtert oder versucht hat zu erleichtern. Dazu kann die einfache, menschliche Geste gehören, einem Ausländer ohne gültige Papiere die Möglichkeit zu geben, die Batterien seines Mobiltelefons aufzuladen.
Die Unterzeichner des Appells und tausende Eltern französischer Schüler signalisieren durch konkrete Taten und das Eingehen eines gewissen persönlichen Risikos: Dieses Frankreich von Präsident Sarkozy, welches festlegt, dass jährlich mindestens 30 000 Ausländer ohne Papiere abzuschieben sind, ist nicht mein Frankreich! Nicht alles, was legal ist, ist auch legitim!
Empört Euch
Nichts anderes sagt der heute 93jährige Stephane Hessel, ein alter, zorniger Mann, der unglaublich jung geblieben ist: Widerstandkämpfer, überlebender von Buchenwald, 1948 Mitautor der "Universellen Erklärung der Menchnrechte der UNO", bis heute im Rang eines Botschafters der französischen Republik. Dieser integre, weitsichtige, polyglotte und liebenswerte alte Herr hat im Oktober ein 24 Seiten schmales Buch zum Preis von 3 Euros herausgebracht, in dem er, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, den Abbau der öffentlichen Dienstleistungen, des Sozial- und Rentensystems, den Umgang mit illegalen Ausländern oder Romas in diesem Land, sowie die Diktatur der Finanzmärkte denunziert. Ein Widerstandskämpfer von damals ruft heute erneut zum Widerstand auf. Der Titel seines kleinen Bändchens: "Indignez- vous!" - "Empört Euch!"
Von diesem Buch sind innerhalb von nur zehn Wochen sage und schreibe 500'000 Exemplare verkauft worden!