An einem Samstagmorgen um halb zehn ist in der Zürcher Kehricht-Verbrennungsanlage Hagenholz ziemlich Betriebslärm. Das kracht und splittert, wenn die Leute ihre alten Pfannen, WC-Deckel und Bürosessel in die Mulden werfen. Man muss schon ein wenig laut werden, um sich mit den Einweisern zu verständigen, die einem sagen, wo denn die Spanplatten hinkommen. Und wo die kaputten Lautsprecherboxen, die Kabel und zerbrochenen Kaffeetassen. Die Autos fahren vollbeladen rein in die Halle und erleichtert wieder hinaus. Erleichtert wäre vielleicht auch das Adjektiv, um die Gesichter der Wegfahrenden zu beschreiben, schliesslich befindet man sich an einem Ort, der als «Entsorgung» bezeichnet ist: Recycling und Entsorgung Zürich.
Ich weiss nicht, wann die moderne Industriegesellschaft das Wort «Entsorgung» erfunden hat, um einen Vorgang zu beschreiben, bei dem Müll von einem Ort an einen anderen geschafft wird. Es muss gegen Ende des 20. Jahrhunderts gewesen sein. Die Sorge, deren man sich dabei entledigt, ist vermutlich die Sorge, dass der Mensch im grossen Haufen der Gegenstände ersticken könnte, die er sich zugelegt hat.
Die Verbrennungsanlage ist ein faszinierender Ort. Eine merkwürdige Stimmung kennzeichnet die Geschäftigkeit des Wegwerfens. Die meisten Leute sind ruhig und entschlossen. Sie sind auch nicht unhöflich miteinander, aber alle machen schnell vorwärts, man merkt ihre Hast, hier wegzukommen von diesem Friedhof der überflüssigen Dinge. Da ist in manchen Blicken eine Mischung aus Nonchalance und mildem Erschrecken, denn wenn es ein Symbol gibt für die kapitalistische Wegwerfindustrie, dann ist es hier. Unser Wirtschaften ist ein System, das die Leute zwingen muss, Gegenstände zu kaufen, die sie bald wegwerfen müssen, damit sie neue Gegenstände kaufen können. Es ist im Grunde eine unaufhörliche Produktion von Sorgen für die Entsorgung. Nirgendwo wird dies so ohrenbetäubend und augenbetäubend sichtbar wie in der Müllverbrennungsanlage samstagmorgens um halb zehn. Doch das Entsetzen der meisten Leute hält sich in Grenzen.
Die Vergänglichkeit der Waren
Der Ökonom Marc Chesney von der Uni Zürich machte 2017 in einem Interview auf den fatalen Zirkelschluss unserer Wirtschaft aufmerksam: Schulden seien nötig, um Wachstum zu fördern, andererseits sei Wachstum nötig, um die Schulden zurückzuzahlen. Wachstum erfordere aber nicht nur einen Anstieg der Schulden, sondern stütze sich auf einen zweiten Faktor, nämlich die Vergänglichkeit der Waren: «Viele sind so konzipiert, dass sie nur eine gewisse Zeit halten, was den Konsum anheizen soll (…) Statt Konsumenten, die von aggressivem Marketing infantilisiert sind, weshalb sie Ramschware konsumieren, braucht die Gesellschaft aktive Bürgerinnen und Bürger, die fähig sind, Antworten auf die aktuellen Herausforderungen zu finden (…) Dieses ‘immer mehr’ welches das gegenwärtige Krebsgeschwür nährt, sollte ersetzt werden durch das ‘Genügende’ und ‘Notwendige’, das man braucht, um ein anständiges und menschenwürdiges Leben zu führen.»
Der Tiroler Fotograf Lois Hechenblaikner zeigte im Alpinen Museum in Bern einmal eine Ausstellung über die Auswirkungen von Massentourismus und Unterhaltungsindustrie in den Alpen. Die Bilder waren nicht lustig. Am Eingang zu der Ausstellung lag ein enormer Haufen Abfall: geschredderte Skier zwei Meter hoch aufgetürmt. Ein Symbol für hunderttausende von Skiern, die Jahr für Jahr verschrottet werden, damit neue gekauft werden können. Auf einem der Fotos sah man die leeren Alu-Bierfässer hinter dem Berggasthaus, so hoch wie das Hausdach türmten sich diese Restbestände von Alkoholgemütlichkeit. In seinem Vortrag in Bern sprach Hechenblaikner davon, dass man hier und da hinter den Kulissen von Heidiland die «hässliche Fratze der Ökonomie» zu Gesicht bekäme.
Ende der siebziger Jahre lebte und arbeitete ich in Peru. Wenn man in Lima am Ufer des Río Rímac entlangfuhr, sah man in etwa zwei Kilometern vom Zentrum den berüchtigten «Montón». Das ist ein spanisches Wort für Haufen oder Berg, aber es war eher eine ganze Hügellandschaft aus Abfall. Man sah von Ferne, dass sich da oben etwas bewegte. Die Leute sagten mir, es seien Kinder und Schweine. Die Kinder suchten nach Verwertbarem im Abfall, und es gab eine florierende Schweinezucht auf jenem «botadero».
Solche Bilder sind bekannt aus vielen Millionenstädten der Dritten Welt. Filmteams aus aller Welt sind nach Lima, nach Kairo und an andere Schaufenster des Entsetzens gekommen, um die Verelendung zu filmen. Den Geruch können sie zwar nicht filmen, aber manche Dok-Filmer behaupteten, sie zeigten «nichts anderes als die Realität». Wo die Realität zu filmen doch bedeuten würde, das Räderwerk der ökonomischen Ursachen zu erklären, nicht aber die Symptome.
Das Publikum ist von derartigen Dokumentationen so abgestossen wie fasziniert. Den Europäern dienen die Bilder von den Ressorts der Rückständigkeit als Abwechslung und Zerstreuung in ihrem Alltagsleben. Die Bilder der im Dreck wühlenden Kinder, Geier und Schweine sind schrecklich und stimulierend zugleich. Sie lassen sich in Europa als Sensation verkaufen. Eine ähnliche Funktion hat die Darstellung von Mord, Totschlag und extremer Gewalttätigkeit in Ländern der sogenannten Dritten Welt. Man kann sich auf den Standpunkt stellen, es sei Psychohygiene im Spiel, das heisst Probehandlungen der Bewältigung unserer eigenen verleugneten Grausamkeit. Es handele sich darum, unsere eigenen Verdrängungen sichtbar zu machen. Ich würde es eher Voyeurismus nennen.
Die Müllhalde unter freiem Himmel war früher auch bei uns das Normale. Eine Untersuchung von 1937 ergab, dass von 380 Schweizer Gemeinden nur gerade zwei (Zürich und Davos) eine Verbrennungsanlage für Müll betrieben. Alle anderen haben ihren Abfall zum Teil kompostiert, zum grossen Teil aber in Gruben, hinter Flussdämmen oder an Seeufern aufgeschüttet. Fast die Hälfte dieser Ablagerungen gefährdete oberirdisches Gewässer oder Grundwasser. Das änderte sich erst 1957 mit Inkraftsetzung des Gewässerschutzgesetzes.
Mit Sockenstopfen die Weltwirtschaft sanieren?
Die meisten der Leute, die am Samstagvormittag in der Kehricht-Verbrennungsanlage in Zürich ihre alten Kaffeemaschinen auf den Müll werfen, wollen in diesem Moment lieber nicht wissen, was sie nur allzu gut wissen: dass man dieses Gerät reparieren und nochmals verwenden könnte. «In Afrika», wie man metaphorisch sagt.
Es gibt eine Menge Initiativen, die das Ziel verfolgen, den Wahnsinn der Wegwerfproduktion zu stoppen. In Bern-Liebefeld hat der Verein Velafrica seinen Sitz. Ausrangierte Velos werden repariert und nach Süden verfrachtet. Da wären ein paar tausend Organisationen weltweit aufzuführen, die ähnlich operieren. Vom WWF bis hin zu kleinsten Initiativen auf Gemeinde-Ebene.
Der ehemalige Weltbank-Ökonom Herman Daly erhielt 1996 den Right Livelihood Award, auch Alternativer Nobelpreis genannt. Daly vertritt die Auffassung, dass die herrschende Form der Wachstums-Ökonomie nicht funktionieren könne. Er forderte, menschliches Wirtschaften müsse auf ein Mass begrenzt werden, das innerhalb der Tragfähigkeit der Erde liege und somit nachhaltig sei.
Ein anderer Träger des Alternativen Nobelpreises ist der chilenische Ökonom Manfred Max-Neef, (Berkeley University, ex-Mitglied des Club of Rome) der in den neunziger Jahren die Kipp-Punkt-These formulierte, dass ab einem bestimmten Punkt der wirtschaftlichen Entwicklung die Lebensqualität der Menschen abnehme.
In einem Dokumentarfilm über Extrem-Snowboarder sieht man den jungen Reto Kestenholz daheim in Boltigen im Simmental an seiner Nähmaschine hocken und einen Handschuh reparieren: „Obwohl ich von meinen Sponsoren die Ausrüstung bekomme, flicke ich gern mal meine Sachen selbst oder bringe ein Brett mal wieder in Ordnung, statt einfach etwas in die Ecke zu stellen und etwas Neues zu nehmen.“
Sicher wird die Welt nicht vor der Vermüllung gerettet, wenn einer Hemdenknöpfe annäht oder seine Socken selber flickt. Es ist eine Haltung, ein Prinzip des Respektes und der Verantwortlichkeit. Jens Ole von Uexküll, Geschäftsführer der Right-Livelihood-Stiftung, sagte 2015 in einem Interview mit dem Zürcher Tagesanzeiger, über Jahrtausende hinweg hätte der Mensch die Natur als feindliche Macht gesehen, der es zu entrinnen galt. Dass es nun umgekehrt sein könnte, dass also wir die Erde bewahren müssten, das müssten wir erst lernen:
«Deswegen klingt es nach einer fast unmöglichen Aufgabe: Die Beschränkung wünschenswert zu machen. Darin ist auch die Umweltbewegung bisher gescheitert. Bis heute ist alles, was mit Beschränkung zu tun hat, negativ belegt.»
Letzten Winter suchte ich eine kleine Werkstatt in Samstagern auf, von der ich gehört hatte, sie repariere Skischuhe. Der Schuhmacher betrachtete meinen Skischuh und sagte: «Raichle, achtziger Jahre, den Schuh bringt niemand so schnell entzwei. Die haben damals noch nicht soviel Weichmacher in das Plastik getan, deshalb wird der Schuh nicht so schnell rissig.» Er erneuerte mir eine Schnalle, die abgerissen war. In seinem Ersatzteillager hatte er etwas Passendes gefunden. Es dauerte zehn Minuten und kostete neun Franken.