Ein solch knappes Ergebnis hat der Staatspräsident wohl nicht erwartet. Nur gut 51 Prozent der Stimmenden haben sich für die Reform ausgesprochen. Dies gaben die von Erdoğan kontrollierten Staatsmedien bekannt. Auch die türkische Wahlkommission hat Erdoğan zum Sieger erklärt.
Noch vor Auszählung aller Stimmen sprach Erdoğan von „Sieg“ und einem „historischen Entscheid“. In den Strassen von Istanbul feiern Erdoğan-Anhänger mit Fackeln, Gesängen und hupenden Autos.
Neuauszählung verlangt
Die von der Regierung kontrollierten türkischen Medien sprachen schon von einem klaren Sieg des Ja-Lagers, obwohl erst die Hälfte der Stimmen ausgezählt waren.
Die grösste Oppositionspartei, die CHP, befürchtet Abstimmungsmanipulation. Sie verlangt eine Neuauszählung von 60 Prozent der Stimmen. Wahlbeobachter erklären, sie seien von der Polizei bei ihrer Arbeit behindert worden.
In Istanbul und in der Hauptstadt Ankara überwog der Nein-Stimmen-Anteil knapp. Nach Angaben der Agentur Anadolu gibt es einen hohen Ja-Stimmen-Anteil in Zentralanatolien. In den Küstenregionen der Ägäis und im kurdischen Südosten des Landes überwiegen die Nein-Stimmen.
Kein Triumph
Für Erdoğan stellt das Ergebnis zwar einen Sieg, aber keineswegs einen Triumph dar. Vize-Ministerpräsident Veysi Kaynak gestand, dass er ein besseres Ergebnis erwartet hätte. „Wir sehen, dass wir in manchen Provinzen nicht die erwartete Anzahl Ja-Stimmen bekommen haben“, sagte er.
Was das knappe Ergebnis für Erdoğans Position bedeutet, lässt sich im Moment nicht abschätzen. Unklar ist, ob damit sein Expansionsdrang eingeengt wird, oder ob er sich darüber hinwegsetzen kann. Möglicherweise kümmert ihn das alles nicht. Er ist jetzt mächtiger denn je: Staatspräsident und Regierungschef in einer Person.
Fast totale Machtbefugnisse
55,3 Millionen Türkinnen und Türken waren aufgerufen, darüber zu entscheiden, ob sie die parlamentarische Republik abgeschaffen wollen und ob das Land ein Präsidialsystem erhalten soll. Die Stimmbeteiligung betrug 86 Prozent.
Die Opposition befürchtet, dass die Türkei jetzt in eine Diktatur abdriftet. Erdoğan verfügt jetzt über fast totale Machtbefugnisse. Er kann regieren, ohne vom Parlament nennenswert behindert zu werden. Alle Macht dem Präsidenten.
„Eine Lektion, auch für die Schweiz“
Erdoğan hatte am Vorabend der Abstimmung gesagt, das türkische Volk würde jetzt „jenen europäischen Ländern eine Lektion erteilen, die uns in den vergangenen zwei Monaten mit aller Art von Gesetzlosigkeit einschüchtern wollten“. Explizit nannte er Deutschland, Österreich, Belgien, die Schweiz und Schweden.
Nach einem Sieg an diesem Sonntag stellte Erdoğan auch die Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei in Aussicht.
Der Urnengang fand nach einem sehr ungleichen Abstimmungskampf statt. Die Gegner der Reform bekamen kaum Gelegenheit, sich öffentlich zu äussern. Mit repressiven Mitteln, wüsten rhetorischen Ausfällen und massiven Drohungen verlangte Erdoğan von seinen Bürgern, ein Ja in die Urne zu legen. Am Fernsehen durften die Oppositionspolitiker nicht auftreten, einige von ihnen wurden festgenommen. Den Gegnern der Reform warf die Regierung vor, mit „Terroristen“ zu kooperieren.
Laut der NGO „Transparency International“ sind allein im März 112 Gegner der Reform festgenommen worden. 150 dissidente Journalisten sitzen im Gefängnis. Zehn politischen Parteien wurde verboten, öffentlich gegen die Reform aufzutreten. Exiltürken wurden in ganz Europa ausspioniert und bedroht.
Ende der unabhängigen Justiz?
Nach der Annahme der neuen Verfassung kann der Staatspräsident jetzt per Dekret regieren und nach Belieben den Ausnahmezustand verhängen. Er bestimmt auch seine Minister und ihre Stellvertreter. Auf die Ernennung der Richter hat er grossen Einfluss. Kritiker befürchten nun ein Ende der unabhängigen Justiz.
Erdoğan wird zudem weiterhin die AK-Partei beherrschen; dies bringt ihm fast unbeschränkten Einfluss.
Die neue Verfassung ersetzt jene von 1982, die die damalige Militärregierung geschrieben hatte und die vom Volk mit grosser Mehrheit angenommen worden war, in der Zwischenzeit aber mehrmals leicht abgeändert wurde.
Viele Oppositionelle glaubten, dass Erdoğan ein Nein zur Reform nicht akzeptiert hätte. Er hätte in diesem Fall – so befürchtete die Opposition – von Abstimmungsbetrug gesprochen, eine neue Abstimmung angesetzt und ihr Resultat zu seinen Gunsten zurechtgebogen.
Die Abstimmung vom Sonntag hinterlässt ein tief gespaltenes Land.
(J21)