Es handelt sich um eine ausführliche Analyse der Entwicklungen in der Türkei während der bisher 15 Jahre der Vorherrschaft Erdogans. Dabei kommen nicht nur die Ereignisse dieser gewissermassen aktuellen Epoche zur Sprache, sondern auch deren Hintergründe und Vorbedingungen. Man kann in der Tat von einer „Neuen Türkei“ sprechen, die entstanden ist. Sie unterscheidet sich deutlich von der „alten“, die Atatürk 1923 gegründet hatte und die nach ihm bis zum Anfang dieses Jahrhunderts bestand. Diese „alte“ Türkei ruhte auf Grundvorstellungen Atatürks wie jener: „Es gibt nur eine Zivilisation, jene Europas“, und „der Islam hat als eine rückständige Kraft gewirkt. Er soll aus dem öffentlichen Leben zurückgedrängt werden.“
Diese „alte Türkei“ wurde vom damaligen Europa und später auch aus der Warte Amerikas als ein Staat gesehen, der danach strebte, westlichen Vorbildern nachzuleben. Er wollte sich reformieren, ja, so glaubte man, er hatte sich schon reformiert. Es ging nur noch darum, die neue Ausrichtung zu vertiefen und im Volk zu verbreiten.
Die alte Türkei war in der Tat ein Staatswesen, das sich von oben nach unten „reformierte“. Seine führenden Figuren waren Politiker, Beamte, Intellektuelle, Soldaten, die ihren Ruhm darin sahen, dass sie eine „zivilisierte“ Türkei – die notwendigerweise auch ein europäisch orientierter Türkischer Nationalstaat sein musste – vorantrieben und durchsetzten. Der Kalte Krieg mit der angrenzenden Sowjetunion trug dazu bei, dass die „West-Orientierung“ der neu entstandenen damals „modernen“ (heute „alten“) Türkei nach dem Zweiten Weltkrieg gefestigt als Eckpfeiler „des Westens“ andauerte.
Vorherrschaft der Armeeoffiziere
Die Militärs waren mit der Fortführung des Reformregimes Atatürks testamentarisch betreut, und sie kamen dieser Aufgabe ein halbes Jahrhundert lang nach. Die Politiker des ebenfalls von Atatürk in Bewegung gesetzten parlamentarischen Regimes machten gelegentlich Miene, von dem Vermächtnis Atatürks abweichen zu wollen. Sie wussten, sie würden Zustimmung bei ihrer Bevölkerung finden, wenn sie „mehr Islam“ im öffentlichen Leben zuliessen. Moschee-Bau brachte Wählerstimmen. Doch die Militärs waren da, um solche Abweichungen in die Schranken zu weisen. Im Notfall schritten sie ein, durch die Staatstreiche von 1960, 1971, 1980 und den „Staatsstreich durch Memorandum“ von 1997. Sie setzten die fehlbaren Politiker ab und stellten den Staat wieder auf den Reformkurs Atatürks – oder auf das, was sie als diesen verstanden.
Wobei sich allerdings Nuancen ergaben. Mehr Macht für das Parlament, aber noch mehr für die Offiziere durch die Gründung eines Nationalen Sicherheitsrates, dem die leitenden Offiziere vorstanden nach 1960. Weniger Islam und weniger Linksausrichtung sowie Verstärkung des Sicherheitsrates nach 1971. Jedoch, Linke und Kurden zu Zehntausenden in die Gefängnisse nach 1980. Sowie auch Verbot für alle Parteien auf fünf Jahre; Ordnung gegenüber der chaotischen Linken, so sehr und so dringend, dass dem Islam als Gegenkraft in den Schulen und im Staat Tore geöffnet wurden. Jedoch eine islamische Partei an der Regierung erwies sich als zu viel, und ein Memorandum der Offiziere genügte 1997, um dies zu beenden.
Das Ende der Macht der Armeeoffiziere
Eine neue Türkei konnte erst beginnen, als der Macht der Offiziere Einhalt geboten wurde. Das Buch schildert den langen Weg dorthin, indem es verschiedene Stränge analysiert, die sich ineinander verflochten und einander verstärkten. Der Hauptstrang ist jener der Offiziers- und Armeepolitik. Erdogan, politischer Erbe des 1997 durch Armeeeingriff abgesetzten Erbakan und seiner pro-islamischen Partei, kombinierte Demokratie und Islam zu einer islamischen Demokratie und Betrieb den Anschluss an Europa. Dieser konnte als den Zielen Atatürks angemessen gesehen werden, weil er West-Orientierung bedeutete. Die Annäherung an Europa forderte jedoch auch einen Abbau der politischen Machtposition der Offiziere.
Mit Hilfe des Generalstabchefs
Der damalige Generalstabschef, Hilmi Özkök (sein Name erscheint in dem Buch in englischer Schreibweise als Helmi Ozkok, weil das Englische kein „ö“ kennt, wohl aber das Türkische und das Deutsche), nahm eine ungewöhnliche Haltung ein. Er hatte innerhalb der Nato seine militärische Laufbahn zurückgelegt, nicht wie viele seiner Kollegen im inneren Krieg gegen die kurdische PKK. Er sah die türkische Bevölkerung als vollmündig geworden an. Er war der Ansicht, dass auch fromme Personen in säkularer Politik mitwirken könnten. Er forderte Respekt für die (damalige) Verfassung, und er unterhielt gute und enge persönliche Beziehungen zu Ministerpräsident Erdogan, den er unter vier Augen zu treffen pflegte. Der Generalstabschef gilt in der Türkei als das Oberhaupt aller Armeeoffiziere.
Umpolung des türkischen Sicherheitsrates
Seine Politik stiess nicht auf Zustimmung bei all seinen Kollegen. Es gab sogar Berichte über einen bevorstehenden Putsch gegen die Regierungspartei. Özkök musste des öfteren lavieren, um einen Aufstand der niedrigeren Offiziere zu vermeiden. In der Amtszeit Özküks wurden Gesetze von der Regierungsmehrheit im Parlament verabschiedet, die den bisher allmächtigen militärischen Sicherheitsrat in ein beratendes Organ verwandelten. Der Sicherheitsrat war ursprünglich 1960 geschaffen worden, um der Armee ein Organ zu geben, das ihr dazu diente, die Regierung zu überwachen und die Regierungsaktion ihrem Ermessen nach auszurichten.
Doch die neuen Gesetze modifizierten diesen Sicherheitsrat, indem sie seine Zusammensetzung, Kompetenzbereiche und Zuständigkeiten, abänderten, aufhoben oder einschränkten, bis er zu einem Organ geworden war, das der Regierung dazu diente, die Wünsche der Sicherheitskräfte zu begutachten und über sie zu befinden. Ministerpräsident Erdogan, nicht mehr der Generalstabschef, übte nun den Vorsitz des Rates aus. Ein ziviler Beamter wurde sein Generalsekretär. Verteidigungs- und Finanzminister nahmen an den Beratungen teil. Die Änderung wurden stets damit gerechtfertigt, dass sie den Forderungen der EU nachkamen. Gesamthaft kamen die Revisionen der Gesetze über den Sicherheitsrat einer stillschweigenden Revolution gleich.
Die Stunde der Konfrontation
Zur direkten Konfrontation zwischen Armee und Regierung kam es erst nach der Pensionierung Özköks vom August 2006. Sein Nachfolger, Yashar Büyükanit, war ein strenger Säkularist, ein Mann der alten Atatürk-Schule. Der damalige Staatspräsident, Necdet Sezer, ein früherer General, galt den Offizieren als die letzte Garantie dafür, dass Erdogan und seine Partei nicht in ein islamisches Regime umkippen würden. Als Sezer sein Mandat beendete, versuchte die AKP Erdogans und seiner Mitkämpfer einen der ihrigen zum Präsidenten zu erheben. Zuerst Erdogan selbst, dann den Mitgründer der Partei und bisherigen Aussenminister, Abdullah Gül. Generalstabschef Büyükanit trat offen dagegen auf. Er erklärte, die Republik brauche einen Präsidenten, der „gegenüber den Grundsätzen der Republik loyal“ sei. Der Justizminister, ein Mann der AKP, entgegnete ihm, es sei unvorstellbar, dass in einer Demokratie ein Offizier den Parlamentariern Vorschriften machen wolle.
Gewaltige Massenproteste wurden organisiert mit Hunderttausenden von Demonstranten für die Aufrechterhaltung der säkularen Grundsätze. Der Generalstab veröffentlichte eine Erklärung, in der es hiess, es gehe bei der Präsidentenwahl um den Grundsatz des Säkularismus, und die bewaffneten Kräfte seien entschlossen, die „unveränderlichen Charakteristiken der Türkischen Republik“ zu verteidigen.
Gerangel um Gül
Die Oppositionsparteien, im Parlament in der Minderheit, boykottierten die Abstimmungen des Parlaments für die Präsidentenwahl und klagten vor dem Verfassungsgericht, dass die dortigen Abstimmungen ohne Quorum stattgefunden hätten. Das Gericht gab ihnen recht. Erdogan sah sich gezwungen, verfrühte Parlamentswahlen auszurufen, und er gewann sie im August 2007 mit einer grösseren Stimmenmehrheit, als er zuvor innehatte. Schliesslich wurde Abdullah Gül vom Parlament im dritten Wahlgang am 28.August 2007 zum Präsidenten der Türkei gewählt.
Es folgte jedoch ein Versuch des säkular gesonnenen Generalstaatsanwalts, das Verfassungsgericht dazu zu veranlassen, die Partei Erdogans wegen anti-säkularer Aktivitäten zu schliessen und ihren wichtigsten Politikern fünf Jahre Politverbot aufzuerlegen. Das Gericht entschied sich mit der Mehrheit von einer Stimme dagegen. Damit hatte die AKP im Jahre 2007 das Ringen mit den Militärs gewonnen. Sie ging sofort zur Gegenoffensive über, um ihren Sieg zu festigen.
Die Schauprozesse von Ergenekon und Bayoz
Ende des Jahres 2007 kam ein Waffenfund in einem Privathaus in Istanbul zutage, er wurde von der Polizei in Verbindung zu pensionierten Offizieren gebracht. Daraus ergab sich ein gewaltiger Prozess gegen Armeeangehörige und Sympathisanten der Säkularisten, der sich über das Jahr 2008 hin entwickelte und immer grössere Kreise einbezog. Den Angeklagten, in erster Linie, jedoch nicht ausschliesslich, Armeeoffizieren, wurde vorgeworfen, sie hätten nach den Ansätzen zu Putschversuchen des Jahrs 2003, die Hilmi Özkök hatte abwenden können, durch Mordanschläge – teilweise schon begangen, teilweise geplant – Unruhe im Land verursachen und dann einen Putsch auslösen wollen. Ein angebliches Netz von Verschwörern wurde aufgedeckt und immer neue vermutete Verzweigungen kamen zu Tage. Die Verschwörung habe den Namen „Ergenekon“ getragen. Das Wort bezeichnet das mythische Ursprungsland der Türken in Zentralasien.
Die türkischen Zeitungen und Fernsehstationen wurden nicht müde über die Sache zu berichten. Der eigentliche Prozess begann am 28.Juli 2008. Doch über die folgenden Jahre wurden immer weitere Anklagen im Zusammenhang mit „Ergenekon“ erhoben und mit dem ersten Prozess verschmolzen. Bis 2014 gab es 531 Angeklagte, und die Anklageschrift war von über 2000 Seiten auf gute 8000 angewachsen. Erste Urteile wurden 2013 in erster Instanz ausgesprochen. Durch sie wurden hochstehende Generäle und bekannte Intellektuelle und Journalisten zu lebenslänglichen Gefängnis- und Zuchthausstrafen verurteilt. Sie legten alle Berufung ein. Doch die meisten wurden gezwungen, in Untersuchungshaft zu verbleiben.
„Vorschlaghammer“
Mit „Ergenekon“ war es nicht genug, „Vorschlaghammer“ (türkisch „Bayoz“) kam 2013 dazu. Dabei ging es um angebliche Pläne der 1. Armee unter General Dogan vom Jahr 2012, die der Anklage nach darauf abgezielt hätten, einen Staatstreich zu provozieren, durch den Erdogan abgesetzt werden sollte. Um das dafür notwenige Klima zu schaffen, hätten die angeschuldigten Generäle Mordaktionen und möglicherwiese sogar Kriegshandlungen gegen Griechenland geplant. Als angebliche Beweise für die Anklage dienten „Dokumente“, die in einem ersten Schritt von einer Tageszeitung veröffentlicht worden waren. Sie enthielten Pläne im Sinn der Anklage mit möglicherweise echten, vielleicht auch gefälschten Unterschriften der Generäle. Einige dieser Pläne waren offensichtlich manipuliert und gefälscht worden, worauf die Verteidigung hinwies. Die Generäle erklärten, es habe sich ursprünglich um schriftliche Szenarios für eine militärische Übung gehandelt, die entwendet und entstellt worden seien. Dennoch wurden neben 250 anderen Angeklagten auch drei noch aktive Generäle zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt, ebenfalls erstinstanzlich.
Streit mit Gülen bringt ein Ende der Armeeprozesse
Doch in den Jahren 2015 und 2016 entschieden höhere Gerichte, die beiden Prozesse seien ungültig wegen Formfehlern und fragwürdigen Beweisen. Über diese beiden Jahre hinweg wurden alle Angeklagten entlassen. Erdogan unternahm Schritte, um sich soweit wie möglich mit den Armeeoffizieren auszusöhnen. Doch er sorgte auch dafür, dass die Streitkräfte von nun an den zivilen Behörden untergeordnet blieben. Das Umschwenken der Gerichtsbarkeit war zweifellos dadurch zu erklären, dass sich Ende des Jahres 2013 das parlamentarische Machtgefüge in der Türkei verändert hatte.
Im Januar 2013 war eine Fehde zwischen zwei Partnern ausgebrochen, die bis daher politische Verbündete in der Türkei gewesen waren. Die AK-Partei und die Gülen-Bewegung hatten bis dahin gemeinsam gehandelt, insbesondere in der Konfrontation mit der Armee. Sie hatten gemeinsame Interessen, weil die Gülen-Bewegung ebenfalls einen gemässigten und mit Demokratie und Moderne vereinbaren Islam anstrebte und in ihren Schulen wertvolle Erziehungsarbeit leistete, gerade auch in Richtung eines modern ausgerichteten und demokratischen Islams – gegensätzlich zu jenem der Islamisten. Es gehörte zu den Besonderheiten der „Bewegung“ (ob man sie „Sekte“ nennen soll ist umstritten), dass sie ihre islamisch gesonnenen Anhänger dazu ermutigte und, falls notwendig, auch dabei unterstützte, führende Positionen in der Gesellschaft anzustreben, zuerst durch akademische Bildung, sodann durch Karrieren in Berufen von gesellschaftlicher und auch politischer Relevanz, etwa Jurisprudenz, Lehramt, aber auch Polizei – besonders in höheren Positionen, die eine juristische Ausbildung voraussetzen und im Gerichtswesen.
Auch ins türkische Militär „filterten“ sich die Anhänger der Bewegung ein, dem Vernehmen nach von Aussteigern aus der Bewegung, durchaus auf Weisung und mit Hilfe der Bewegungsleiter. Solche gab es. Soweit man weiss, bestand eine streng hierarchische Ordnung. Jedes Mitglied erhielt einen „älteren Bruder“ oder eine „ältere Schwester“, deren Weisungen sie und er sich zu fügen hatten. Alle Mitgliedschaften wurden geheim gehalten. Über den Leitern der Zellen gab es übergeordnete Chefs pro Provinz und pro Land. Die Bewegung soll in 140 Ländern präsent gewesen sein, in erster Linie jedoch in der Türkei. Das Ganze folgte den Ratschlägen und Weisungen des obersten geistlichen Vaters, Fethullah Gülens. Gülen hatte 1997 vor der Macht der Offiziere aus der Türkei fliehen müssen und hatte sich im Exil in den USA niedergelassen. Offenbar wurden und werden wohl weiterhin die Mitglieder der Bewegung von oben gesteuert mit dem Ziel, gesellschaftliche und mit ihr politische und auch wirtschaftliche Relevanz zu gewinnen.
Machtvolle Medienpräsenz
Das Informationswesen war wichtig für die Bewegung, sie entwickelte über die Jahre, ausgehend von einer kleinen eigenen Zeitung, „Fezan“, ein gewaltiges Netzwerk von Medien der gedruckten und der elektronischen Branchen. Die meistgelesene Zeitung der Türkei, mit türkischer und englischer Ausgabe, „Zaman“, war ihr Flaggschiff. Diese Medien unterstützten die Regierungspolitik, besonders in Hinblick auf den erhofften Eintritt in die EU, Liberalisierung und Internationalisierung der türkischen Wirtschaft, Islam und Demokratie als zwei mögliche Partner.
In Bezug auf die grossen Militärprozesse ist nachträglich ziemlich deutlich geworden, dass sie weitgehend von Polizei- und Justizbeamten, Staatsanwälten und Richtern in Bewegung gesetzt und gefördert wurden, die der Bewegung nahe standen oder zu ihr gehörten. Die Prozesse, sensationell ohnehin, fanden ein starkes Echo in den der Bewegung angehörigen Medien, deren Spanne von Boulevard-Blättern und privaten Fernsehsendern bis zu intellektuell anspruchsvollen, weitgehend liberal ausgerichteten Tageszeitungen reichte.
Bruch einer zehnjährigen Kollaboration
Doch 2013 kam es zum Bruch zwischen den beiden bisherigen Partnern. Erdogan verordnete im Februar über das von seiner Partei beherrschte Parlament, dass die Vorbereitungsschulen der Bewegung geschlossen würden. Dies waren Privatschulen der Bewegung, in denen Kandidaten auf die Zulassung zu den Universitäten vorbereitet wurden. Sie waren sehr erfolgreich dabei, ihre Schüler auf die gefürchteten Aufnahmeexamina in die Universitäten vorzubereiten. Die Gegner der Bewegung behaupteten, „auch mit unlauteren Mitteln, wie der heimlichen Beschaffung der Examensfragen“. Diese Schulen waren eines der Hauptwerke der Bewegung. Sie dienten dem Aufbau der eigenen Anhängerschaft und ihrer Einschleusung in die führenden Schichten von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft.
Einen Monat nach diesem ersten Schlag der AKP gegen die Gülen-Bewegung erschienen Tonaufnahmen von Telefonkonversationen im Internet und in den Medien, die Hinweise auf Korruption in hohen, der Regierung nahe stehenden Regierungszirkeln und innerhalb der Familie Erdogans selbst enthielten. Einige der AKP-Minister sahen sich gezwungen, zurückzutreten. Es gab sogar angebliche Telefongespräche zwischen Erdogan und seinem Sohn, bei denen es um das Verstecken von angeblich vor Untersuchungsbeamten zu verbergende Geldbeträge zu gehen schien. Untersuchungen durch die Polizei begannen. Doch sie wurden nie zu Ende geführt. Erdogan erklärte die Anschuldigungen als Intrigen eines „Parallelstaates“, der den türkischen Staat zu Fall bringen wolle. Er begann mit einer Reinigung der türkischen Polizei, Staatsanwälte und Richter, denen er vorwarf, an der Verschwörung des geheimen Staates gegen den türkischen Staat beteiligt zu sein. Viele von ihnen wurden entlassen, andere strafversetzt oder vorübergehend ihres Amtes enthoben.
Säuberung nach dem misslungenen Staatststreich
Als dann am 15. Juli 2016 Teile der türkischen Streitkräfte versuchten, einen Staatstreich auszulösen und 240 Personen dabei ihr Leben verloren – der Staatsstreich aber nach kurzem Anfangserfolg niedergeschlagen werden konnte –, erklärten Erdogan und seine Regierung die Gülen-Bewegung und den in Amerika in freiwilliger Verbannung lebenden Prediger und Bewegungschef selbst als für den Putsch verantwortlich. Die Türkei forderte die Auslieferung Gülens aus Amerika, bisher ohne Resultat, und die Beseitigung von angeblichen und tatsächlichen Mitgliedern der Bewegung nahm ein zuvor unvorstellbares Mass an. Zehntausende von Militärs und Beamten wurden entweder entlassen oder provisorisch ihrer Ämter enthoben. Gegen 40’000 wurden gefangen genommen und unter Anklage gestellt.
Die Säuberung griff über die Beamten und Militärs hinaus auf wirtschaftliche Kreise und besonders auf die Medienbranche hinüber. Geschäftliche Holdings und Konglomerate, die mit der Gülen-Bewegung zusammenhingen, wurden enteignet oder unter staatliche Verwalter gestellt. Zahlreiche Zeitungen, Radio- und Fernsehstationen wurden geschlossen, Journalisten gefangengenommen. Zaman kam unter einen vom Staat bestellten Verwalter und Chefredaktor, welche die bisherige Ausrichtung des Blattes umkehrten. Die bisherigen Leiter der Qualitätszeitung wurden verhaftet und angeklagt, der „terroristischen Gülen-Verschwörung“ anzugehören. Die AKP-Regierung und Präsident Erdogan benutzten die Lage, um auch gegen andere Feinde und Kritiker ihres Regimes vorzugehen und sie der Mitwirkung an dem Putschversuch anzuklagen.
Der Notstand wurde ausgerufen und mehrmals verlängert. Er erlaubt es dem Präsidenten Erdogan und seiner Regierung, durch Dekrete zu regieren, die sofort wirksam sind, wenn sie auch nachträglich vom Parlament abgesegnet werden müssen, wo ohnehin eine AKP-Mehrheit besteht. Der verlängerte Ausnahmezustand wird wirksam bleiben bis über das auf den 16. April vorgesehene Plebiszit hinaus, und er dient auch dazu, dieses Plebiszit so vorzubereiten, dass der Staat eine einseitige und laute Propaganda für das „Ja“ betreibt, während die Befürworter eines „Nein“ kaum Gelegenheit erhalten, für ihre Parole zu werben oder auch nur, sie öffentlich zu begründen.
Türkisches Wirtschaftswunder
Die Entwicklungen innerhalb der Armee und innerhalb der Regierungspartei AKP sind nur zwei der Stränge, die – ineinander gewunden – den Übergang von der „alten“ Türkei Atatürks zu der „neuen“ Erdogans zu bewirken halfen. Allerdings sind sie zentral. Ebenso bedeutungssvoll war die wirtschaftliche Expansion unter Erdogan, welche die türkische Volkswirtschaft bedeutend förderte. Sie war im wesentlichen auf eine Wirtschaftspolitik zurückzuführen, die sich weitgehend an die Vorgaben des IMF hielt und auch auf die Hinweise und Weisungen einging, die mit dem geplanten Eintritt in die EU zusammenhingen. Die türkische Lira konnte so um viele Nullen erleichtert werden zu einer Neuen TL, die anfänglich dem Euro gleichkam, dann aber von dessen Wert auf rund die Hälfte absank. Das Nationalprodukt stieg von 2002 bis 2008 fast um das Siebenfache von 1’492 $ pro Kopf auf 10’444. Allerdings war die türkische Volkswirtschaft in den Jahren zuvor, 2000 und 2001, in schwere Krisen geraten, und das Nationalprodukt war dementsprechend niedrig gewesen. Im Jahr 2008 sank es ab auf 8’600. Seither ist es wieder angestiegen und knapp über 10’000 verblieben. Eine neue Bourgeoisie entstand in der Türkei, nicht nur in den Grossstädten, sondern auch in den Provinzhauptstädten im Inneren Anatoliens. Doch nach dem Urteil des IMF werden weitere Wirtschaftsreformen notwendig sein, wenn das Wachstum in den kommenden Jahren weiter fortschreiten soll.
Das türkische Wirtschaftswunder unter Erdogan scheint an seine Grenzen gestossen zu sein. Hohe Auslandsverschuldung in Dollar und Euro bilden eine der Belastungen, von denen das Land sich befreien müsste, wenn die Prosperitätswelle der ersten sechs Jahre der Erdogan-Zeit zurückkehren soll. Doch ein grosser Teil der türkischen Bevölkerung, der einen derartigen Wirtschaftsanstieg bisher noch nie erfahren hatte, ist verständlicherweise Erdogan dankbar und glaubt, er – und nur er – könnte in der Lage sein, ihn zurückzubringen.
Die Kurdenfrage und die Kurdenpolitik
Ein weiterer Entwicklungsstrang, der zu dem Gesamtbild beitrug, war und bleibt weiterhin die Kurdenfrage. Der Bürgerkrieg zwischen den Streitkräften und den Kurden der PKK in der Ost-Türkei hatte 1984 begonnen und in den 90er Jahren einen Höhepunkt erreicht. Die Armee hatte damals gegen 3’000 kurdische Dörfer zerstört, um den Aufständischen der PKK ihren Rückhalt bei der kurdischen Bevölkerung zu nehmen. Flüchtige und vertriebene Kurdenfamilien wurden in die Elendsviertel der Grossstädte, besonders Istanbul und Ankara, vertrieben. Es gab Verbindungen zwischen den türkischen Geheimdiensten und Verbrecherbanden, die von den Geheimdienstleuten dazu benutzt wurden, um unliebsame Kurden zu ermorden. Die PKK war gezwungen worden, jenseits der irakischen Grenze in den Berggebieten der Qandil-Gebirges ein Zufluchtsgebiet aufzubauen. Dieses wurde regelmässig von der türkischen Luftwaffe bombardiert.
Nach der 1999 erfolgten Gefangennahme des PKK-Chefs und Gründers, Abdullah Öcalan, in Nairobi durch die türkischen Geheimdienste, die von den Amerikanern Unterstützung erhielten, nahm die Intensität der Kämpfe allmählich ab. Öcalan wurde zum Tode verurteilt, aber nicht hingerichtet. Er sitzt bis heute in Einzelhaft in einem Sondergefängnis auf der Marmara-Insel, Imrali. Nach früheren Waffenstillständen und Wiederaufflammen der Guerilla versuchte Erdogan 2011 über seine Geheimdienste mit dem gefangenen Öcalan, nach wie vor von vielen Kurden als ihr Führer verehrt, ins Gespräch zu kommen. Mit seiner Beihilfe wurde ein „Friedensprozess“ organisiert, der in seiner ersten Phase vorsah, dass die kurdischen Bewaffneten alle türkischen Gebiete, in denen sie sich gehalten hatten, räumen und sich über die Grenze in die irakischen Berge zurückziehen sollten. Im Gegenzug sagte die türkische Seite dem Vernehmen nach Schritte zu mehr Autonomie für die türkischen Kurden zu. Einige Konzessionen wurden gemacht. Sie betrafen vor allem den Gebrauch der kurdischen Sprache in den Medien und Schulen. Es wurde auch zugelassen, dass die Kurden in den Lokalwahlen ihre eigenen Bürgermeisterkandidaten aufstellten und wählten.
Der gefangene Öcalan hatte seine Ideologie revidiert. Er verzichtete auf seine bisherigen maoistischen Ideen und forderte nun in theoretischen Schriften, die aus dem Gefängnis im Internet publiziert wurden, offensichtlich mit türkischer Zustimmung, möglichst weitgehende lokale Autonomie für die Kurden innerhalb der bestehenden Staaten: Türkei, Iran, Irak und Syrien, als das neue Ziel der kurdischen Politik.
Neueinwirkung durch die syrischen Kurden
Die tentative Öffnung der AKP-Regierung gegenüber den Kurden entsprach ersten Schritten zur Erfüllung der dies bezüglichen Forderungen der EU für den künftigen Eintritt der Türkei in die Union. Doch die Wirren des syrischen Bürgerkrieges bewirkten, dass die syrischen Kurden an der türkisch-syrischen Grenze in die Lage gelangten, mit Hilfe der türkischen PKK, ihre eigenen politischen und militärischen Organe aufzubauen und sich eigene Machtgebiete in den von Kurden besiedelten syrischen Grenzprovinzen zu schaffen. Die syrischen Kurden kämpften dabei gegen den IS („Islamischen Staat“) von Raqqa und Mosul, dem sie die weitgehend von Kurden bewohnten syrischen Grenzgebiete entrissen. Sie erhielten dabei amerikanische Hilfe aus der Luft, beginnend mit dem Kampf um die Grenzstadt Kobane, deren Umfeld der IS im September 2014 erobert hatte und die er zu beherrschen versuchte. In verlustreichen Kämpfen und mit Hilfe von zahlreichen Luftschlägen der amerikanischen Koalition gegen den IS wurde dieser schliesslich im Januar 2015 aus Kobane zurückgeschlagen. Während der Kämpfe hatte die türkische Regierung den türkischen Kurden verboten, ihren syrischen Landsleuten in der umkämpften Grenzstadt zu Hilfe zu kommen. Dies hatte zu heftigen Protestbewegungen in den kurdischen Landesteilen der Türkei geführt. Schliesslich liess Ankara zu, wahrscheinlich auf amerikanisches Drängen, dass Peschmerga-Einheiten kurdischer Kämpfer aus dem Irak der belagerten und umkämpften Stadt zu Hilfe kamen, indem sie durch türkisches Territorium transportiert wurden.
Zusammenbruch des kurdischen Friedensprozesses
Doch die Ressentiments der türkischen Kurden gegenüber ihrer Regierung wegen Kobane dauerten an. Im folgenden Sommer kam es zu einem Selbstmordanschlag gegen kurdische Aktivisten in der türkischen Schwesterstadt von Kobane, Suruc. 32 Menschen starben. Die Aktivisten hatten sich dort versammelt, um beim Wiederaufbau von Kobane zu helfen. Es gab keine Verantwortlichkeitserklärung, doch der IS galt als der Urheber. Manche der Kurden klagten jedoch die AKP-Regierung an, sie habe entweder den Anschlag geduldet oder ihn heimlich mitorganisiert. Die PKK schritt zur Ermordung von zwei türkischen Gendarmen, wie sie behauptete, aus Rache für die angebliche Mitwirkung der türkischen Polizei bei dem Anschlag.
Die Erdogan-Regierung benützte diese Gelegenheit, um den Waffenstillstand und den Friedensprozess mit der PKK zu beenden. Sie schritt zu erneuten Bombardierungen der kurdischen Zufluchtsgebiete jenseits der irakischen Grenze. Erdogan hatte innenpolitische Gründe, um den Friedensprozess mit den Kurden zu Ende zu bringen. Seine Partei hatte in den Wahlen von Juni 2015 nur eine relative, keine absolute Mehrheit gewonnen und damit nicht genügend Stimmen im Parlament, um die türkische Verfassung zu verändern. Eine Revision der Verfassung, die es erlauben würde, die Regierungsform der türkischen Republik aus einem parlamentarischen in ein präsidiales System überzuführen, war seit Jahren Erdogans politisches Ziel gewesen. Er strebte danach, auf viele künftige Jahre hinaus exekutiver und allmächtiger Präsident seines Landes zu werden. Da das Wahlresultat vom Juni 2015 dies verunmöglichte, sorgte Erdogan dafür, dass keine Koalitionsregierung zustande kam und verkündete Neuwahlen auf November 2015.
Der Kurdenkrieg als Wahlkampfzweck
Er rechnete, wenn er die Stimmen der türkischen Nationalisten für seine Partei mobilisieren könne, werde er die notwendige Mehrheit erreichen, um ein Plebiszit für eine Verfassungsänderung durchzuführen. Die MHP („Türkische Nationalistische Bewegung“) ist eine scharfe Gegnerin der Kurden und kritisierte alle Versuche der Regierungspartei, sich mit der PKK auszusöhnen. In den Juni-Wahlen hatten viele türkische Nationalisten dieser Partei, an Stelle der AKP, ihre Stimmen gewährt, weil sie den Friedensprozess mit den Kurden missbilligten. Die Wiederaufnahme der Kurdenkämpfe entsprach ihren Wünschen.
Die Rechnung Erdogans sollte aufgehen. In den Wahlen von November 2015 gewann seine AKP die Stimmen zahlreicher Nationalisten zurück und erlangte die notwendige Mehrheit für eine Verfassungsrevision. Der Parteichef der MHP, Devlet Bahceli, entschloss sich zur politischen Zusammenarbeit mit AKP und stimmte deren Verfassungsplänen zu. Allerdings verursachte seine Politik eine Spaltung in seiner Partei, weil es eine innere Oppositionsströmung gegen diese Zusammenarbeit mit der Regierungspartei gab.
Der Preis der neuen Kurdenpolitik der türkischen Regierung wurde ein Neubeginn des türkischen Kurdenkrieges, diesmal mit einer neuen zusätzlichen Nuance. Wahrscheinlich auf Weisung der PKK bildeten sich in den kurdischen Städten, allen voran in der Grossstadt Diarbekir, Jugendgruppen, die darauf ausgingen einen städtischen Volksaufstand auszulösen. Sie nahmen ganze Stadtquartiere vorübergehend in Besitz, mit der Folge, dass die türkischen Sicherheitskräfte diese Quartiere belagerten und beschossen. Manche der Belagerungen dauerten Wochen. Die kurdische Zivilbevölkerung hatte darunter zu leiden.
Kriegszug gegen die syrischen Kurden
Eine weitere wichtige Entwicklung in der Kurdenfrage ergab sich daraus, dass die Türkei Erdogans die Bildung kurdischer autonomer Gebiete an ihrer syrischen Südgrenze fürchtete. Die Regierung sah die erfolgreichen Aktivitäten der syrischen Kurden und ihrer Milizen, der YPG („Kurdische Verteidigungskräfte“), als mit der PKK identisch an, und sie fürchtete den Einfluss künftiger Kurdengebiete südlich der Grenze auf die eigenen Kurden. Sie erklärte, die von ihr als terroristisch eingestufte und bekämpfte PKK sei nicht von der syrischen YPG zu unterscheiden. Sie schritt deshalb im August 2016 zu einem Übergriff türkischer Truppen mit ihren syrischen Hilfskräften aus der FSA (Freien Syrischen Armee) auf syrisches Territorium in einem Gebiet westlich des Euphrats mit der Grenzstadt Jarablus, das zwischen zwei von den syrischen Kurden beherrschten Kantonen liegt. Sie wollte damit verhindern, dass die Kurden ihre Gebiete entlang der türkischen Grenze zu einer einzigen autonomen Zone zusammenschlössen.
Die türkische Armee mit ihren Hilfskräften vermochte mit einiger Mühe, die weiter südlich gelegene syrische Stadt, al-Bab, einzunehmen, die sie dem IS entriss, der sie bisher beherrscht hatte. Doch Russen und Amerikaner zwangen die Türken, von der Eroberung einer weiteren Stadt, nordwestlich von al-Bab, Membidsch, abzusehen. Sie konnten daher ihr zuerst angepeiltes Ziel weiter im Osten, den Euphrat nördlich von Raqqa, nicht erreichen und sich nicht, wie sie es angestrebt hatten, an der Offensive zur Rückeroberung der Stadt Raqqa beteiligen. Die Offensive gegen Raqqa wird von einer Kombination arabischer und kurdischer Kämpfer geführt, die amerikanische Unterstützung erhält. Die Versuche der Türkei, die Amerikaner dazu zu bewegen, ihre Unterstützung der syrischen Kurden aufzugeben und sich stattdessen auf türkische Truppen zu stützen, hatten bisher keinen Erfolg. Diese neuesten Episoden an der syrischen Grenze spielten sich nach dem Abschluss des hier besprochenen Buches ab.
Weitere Aspekte der Bildung einer „Neuen Türkei“
Die Gesamtdarstellung der türkischen Entwicklung in dem Werk von Simon A. Waldman und Emre Caliskan verfolgt noch weitere Einzelstränge der türkischen Gesamtentwicklung zur „Neuen Türkei“, wie jenen der ideologischen Ursprünge der AK-Partei. Weiter den der städtischen Planung und Entwicklung unter Erdogan, was auch die Proteste gegen diese Unterfangen, wie jenen -epochalen – über den Gezi-Park von Istanbul vom Jahr 2013 zur Sprache bringt. Sowie die Genese der neuen Aussenpolitik der Türkei, die der Professor und vorübergehende Aussenminister und dann Regierungschef von Erdogans Gnaden, Ahmet Davutoglu, entwarf. Dies war der Versuch, die Türkei international als ein Zentrum zu sehen, das ringsum ausstrahlen sollte, auf Russland und Zentralasien nach Osten, in die arabische und islamische Welt nach dem Süden, auf das Mittelmeer und den Balkan im Westen und Norden. Die türkische Aussenpolitik der Freundschaft und Anteilnahme rundum, an Stelle der bisherigen Selbstsicht des Landes unter dem Einfluss Atatürks als östlicher Eckpfeiler des europäischen Westens, sollte allerdings auf die Dauer nicht aufgehen. Besonders im benachbarten Syrien führte der türkische Aktivismus zu schweren Belastungen statt zur Bildung eines erweiterten politischen Umfelds. Auch in Ägypten brachte er Rückschläge, weil die Türkei sich für die islamische Demokratie unter Präsident Mursi starkmachte und deshalb auf Ressentiments und Misstrauen der Kräfte stiess, die Mursi nach einem Jahr seiner Präsidentschaft absetzen sollten. Mit Russland mussten die Beziehungen wieder eingerenkt werden, nachdem sie durch den Abschuss eines russischen Kampfflugzeugs an der syrisch-türkischen Grenze im November 2015 schwer gelitten hatten. Mit Europa nahmen die Spannungen zu, als der türkische Eintritt in die EU sich immer länger hinauszog und schliesslich unglaubwürdig wurde. Erdogan selbst brachte das Verhältnis zum Kochen durch seine Polemik im Vorfeld des Plebiszits über behinderte Regierungspropaganda für Ja-Stimmen unter den türkischen Minoritäten in Deutschland und in den Niederlanden.
Kommt die „allerneuste Türkei“?
Die „neue Türkei“, deren Geburtswehen das besprochene Werk in all ihren Wendungen schildert, steht nun mit dem am Sonntag bevorstehenden Plebiszit vor einer Epoche, die sie möglicherweise – ja, wahrscheinlicherweise in eine „allerneuste Türkei“ führen wird, über welche Erdogan einzig und alleine, ohne Gewaltentrennung, auf vorgesehene lange Jahre hinaus, mindestens bis 2024, die Herrschaft auszuüben gedenkt.
*) Simon A. Waldman and Erdem Cesken: „The New Turkey and it's Discontents“. Oxford University Press 2017