Die Rettung von Touristen in Seenot gehört nirgendwo auf der Welt zu den verfassungsmässigen Aufgaben des Staatsoberhauptes. In Portugal tut sich der als leidenschaftlicher Schwimmer bekannte Präsident Marcelo Rebelo de Sousa aber auch damit hervor. Er war im August zufällig an einem Strand in der Südregion Algarve, als vor der Küste zwei junge Frauen mit einem Kajak kenterten und es ihnen nicht gelang, gegen den Strom an Land zu gelangen. Zur Verstärkung der Rettungsschwimmer hechtete der populäre Präsident ins Meer, kraulte hinaus – und fand wieder einmal bewundernde Erwähnung der Medien im In- und Ausland.
Der Selfie-Präsident
Im Januar 2016 gelang dem jetzt 71 Jahre alten Rechtsprofessor zum ersten Mal und gleich mit absoluter Mehrheit die Wahl ins höchste Staatsamt. Er hatte vorher jeden Sonntagabend im Fernsehen das aktuelle Geschehen kommentiert. Schon damals nannte man ihn schlicht „Marcelo“ oder, mit etwas Etikette, „Professor Marcelo“. Seitdem er im Präsidentenpalast von Belém in Lissabon waltet, ist er auch als „Marselfie“ bekannt. Allzu gern und oft verlässt er nämlich diesen Palast und reist durch das Land, wo er mit einfachen Leuten für Selfies posiert. Er hatte stets nicht nur ein Ohr für das Volk, sondern auch tröstende Worte für Angehörige jener gut 100 Landsleute, die bei den Waldbränden von 2017 das Leben verloren. Auch Medienleute mögen den hyperaktiven „Marcelo“, der sich bei jedem Besuch irgendwo im Land die Zeit nimmt, um sich zu aktuellen Fragen zu äussern.
Im nächsten Januar steht die nächste direkte Präsidentenwahl an. Das Präsidentenamt hat keine exekutiven Vollmachten. Noch hat Marcelo nicht verraten, ob er wieder antritt, obwohl dies als sicher gilt. Ein Verzicht auf eine erneute Kandidatur wäre für das politische Establishment nicht nur eine Überraschung, sondern auch ein Schock. Wenigstens für die zwei grössten Parteien – die dereinst von Marcelo selbst angeführte bürgerliche Partido Social Democrata (PSD) und der jetzt regierende Partido Socialista (PS) – würde dies die bisherigen strategischen Überlegungen über den Haufen werfen.
An Marcelo führt kein Weg vorbei
Alle haben sich darauf eingestellt, dass Marcelo weitere fünf Jahre bleibt. Er hätte wohl auch gute Chancen, schon im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit der Stimmen zu erhalten, so dass keine Stichwahl erforderlich wäre. Spannend ist vor allem, wer von seinen voraussichtlich sieben oder acht Herausforderern den zweiten Platz belegt.
Auf diesen Platz hofft rechtsaussen der 37-jährige André Ventura von der populistisch-xenophoben und ultraliberalen Partei Chega („Es reicht“), die er selbst seit Oktober als deren bisher einziger Abgeordneter im Parlament vertritt. Ventura steht auch mit Rechtspopulisten in anderen EU-Ländern in Kontakt. Im Vorwahlkampf erwartet er laut Medienberichten aus Italien den Besuch von Lega-Chef Salvini, mit dem er in Lissabon auftreten und in den Wallfahrtsort Fátima reisen will. Ventura hofft natürlich auf Stimmen von Protestwählern, die seinem Saubermann-Diskurs auf den Leim gehen.
Aus dem Lager des regierenden Partido Socialista gab vor einigen Tagen die 66-jährige ehemalige sozialistische EU-Parlamentarierin Ana Gomes ihre Kandidatur bekannt. Sie tat dies auf eigene Rechnung, wenigstens bisher ohne offiziellen Rückhalt ihrer Partei, die mit António Costa den Regierungschef stellt. Letzterer liess aber schon vor Monaten durchblicken, dass er den Verbleib von Marcelo im höchsten Staatsamt erwarte, obwohl – oder gerade weil – der aus einem anderen Lager stammt.
Gegen Marcelos Rat wäre es für den bürgerliche PSD nämlich nicht unproblematisch, ohne triftigen Grund eine ernste politische Krise vom Zaun zu brechen. Auch Ana Gomes zieht von Marcelos erster Amtszeit eine positive Bilanz, meint aber, dass das Staatsoberhaupt von Interessen unabhängig sein sollte. Wie viele andere PS-Leute auch versteht sie ebenfalls nicht, dass ihre Partei niemanden ins Rennen für dieses Amt schicken will.
Promiskuität von Politik und Fussball
Offiziell steht kein Parteiapparat hinter Marcelo, der sich selbst einmal am linken Rand des rechten Lagers ortete. Er wurde im Jahr 2016 vor allem von Anhängern der damaligen bürgerlichen Oppositionsparteien gewählt, also des PSD und des konservativen CDS-PP. Wirklich glücklich waren diese Parteien mit Präsident Marcelo nicht. Sie hätten es gern gesehen, wenn er etwas öfter sein Veto gegen Entscheidungen des Parlaments eingelegt und auch der sozialistischen Minderheitsregierung, die auf den Rückhalt von Linksblock und Kommunisten angewiesen war, die Leviten gelesen hätte. Er verstand und versteht sich aus rechter Sicht allzu gut mit dem 59-jährigen António Costa, der seit November 2015 mit relativer Mehrheit regiert. Er hatte kurioserweise als Jurastudent einst bei Professor Marcelo studiert und wird jetzt oft kleinlaut, wenn dieser seine Stimme erhebt.
In der portugiesischen Politik geht es, wie in der Gesellschaft allgemein, eben sehr familiär zu – zu familiär, finden Kritiker, die Costa dieser Tage wegen einer ganz anderen Präsidentenwahl ins Visier nahmen. Es geht um seine Kontakte zur Welt des Fussballs, im konkreten Fall zum nationalen Rekordmeister Benfica Lissabon. Costa ist Mitglied der Ehrenkommission für die Wiederwahl von Vereinspräsident von Luís Filipe Vieira, dem aber einige Ermittlungsverfahren der Justiz zu schaffen machen. Am Samstag von Journalisten hierauf angesprochen, antwortete Costa harsch, dass dies eine private Angelegenheit sei. Marcelo liess unterdessen wissen, dass er seinen einstigen Studenten hierauf ansprechen wolle.
An der Seite des Hackers und gegen die Korruption
Costa habe ein Beispiel für Promiskuität geliefert – für jene Promiskuität, die seine Genossin Ana Gomes verurteile, merkte eine Kommentatorin am Sonntag ironisch an. Ana Gomes ist vom beruflichen Werdegang her Diplomatin. Sie vertrat ihr Land unter anderem in Indonesien, mit dem Portugal wegen der Osttimor-Frage lange im Clinch lag. Sie leitete in den Jahren 1999/2000 bei der niederländischen Botschaft in Jakarta die Sektion für portugiesische Interessen und war in Indonesien 2000/3 Portugals erste Botschafterin nach Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen, ehe sie in die Politik wechselte. Sie gehörte von 2004 bis 2019 dem EU-Parlament an.
Selbst Regierungsmitgliedern der eigenen Partei war Ana Gomes in jenen Jahren manchmal unbequem, etwa weil sie sich für die allfällige Nutzung von Portugals Luftraum oder gar Flughäfen durch das US-Militär für den Transport von Gefangenen nach Guantánamo interessierte. Sie erhob immer wieder ihre Stimme gegen die Korruption. Zuletzt stand sie an der Seite des „Hackers“ Rui Pinto, der sich in Lissabon gerade vor Gericht verantworten muss. Er hatte über die Plattform „Football Leaks“ nicht nur zahlreiche Interna aus der Welt des internationalen Fussballs ans Licht gebracht. Auch die zu Jahresbeginn bekannt gewordenen „Luanda Leaks“ über Machenschaften der angolanischen „Prinzessin“ Isabel dos Santos gehen nach seinen Angaben auf ihn zurück. Ana Gomes hat den Makel, dass sie mitunter sehr emotional reagiert und, wenig diplomatisch, schon mal aus der Hüfte schiesst.
Linke Dreifaltigkeit
Bei der Präsidentenwahl erscheint Ana Gomes als die Favoritin im linken Lager. Sie hat dieses Lager aber nicht für sich allein. Für den Linksblock kandidiert die 44-jährige EU-Parlamentarierin Maria Matias, die schon bei der Präsidentenwahl von 2016 angetreten war und immerhin rund 10 Prozent der Stimmen erhalten hatte. Auch für die Kommunisten geht ein EU-Abgeordneter ins Rennen, nämlich der 41-jährige João Ferreira, der sich kurioserweise schon die Unterstützung einer sozialistischen Abgeordneten des nationalen Parlaments sicherte.
Für die drei Linken in diesem Kampf wäre es offensichtlich ein Fehler, sich auf den ultrarechten Ventura zu konzentrieren und ihn damit noch stärker ins Blickfeld zu rücken. Es wäre indes beunruhigend, wenn just Ventura hinter Marcelo den zweiten Platz belegen und vielleicht gar eine Stichwahl erzwingen würde. Spätestens dann könnte kaum jemand mehr behaupten, dass Portugal gegen den Rechtspopulismus immun sei.