Zitat: «The only way to tell this story is to try to tell it truthfully and to know that you will fail». (David Remnick, Chefredaktor des «New Yorker» in seiner Reportage aus Israel)
Die ARD schreibt ihren Mitarbeitern vor, wie man die Hamas zu bezeichnen hat – als «radikalislamistische Terrororganisation». Ein «Aber«, ein Fragen nach der Vergangenheit, ist verpönt. Aber nicht jede sprachliche Differenzierung relativiert die jüngst begangenen Verbrechen der Hamas und ihre Schrecken.
Vor ein paar Tagen wurde Albrecht Müller, dem Herausgeber und Chefredakteur des deutschen Internetportals «Nachdenkseiten«, ein Papier zugespielt, in welchem allen betroffenen Mitarbeitern der ARD auferlegt wird, wie die Hamas zu bezeichnen sei. Zitat:
«Wie bereits von der Chefredaktion festgelegt, sollten wir nicht euphemistisch von ‚Hamas-‚Kämpfern‘, sondern von Terroristen schreiben und sprechen. Als Synonyme bieten sich ‚militante Islamisten‘, ‚militante Palästinenser‘, ‚Terrormiliz‘ oder Ähnliches an.
Die antisemitische Hamas wird international weitgehend als terroristische Organisation eingestuft.
Auch unterscheidet die Hamas – im Gegensatz zur israelischen Armee – in ihren Aktionen nicht zwischen militärischen Zielen und Zivilisten. Erklärtes Ziel der Hamas ist vielmehr die ‚Vernichtung Israels‘. Dazu bedient sie sich terroristischer Mittel, etwa durch das Verüben von Anschlägen, wahllosen Raketenbeschuss und Ähnliches.»
Soweit die ARD.
Dagegen verwendet die immer noch bedeutende BBC in ihren reinen Nachrichtentexten stets – sehr zum Missvergnügen mancher Politiker – schlicht das Wort «Hamas». In Kommentaren und Diskussionen ist es dann den Beteiligten freigestellt, welche Wortwahl sie verwenden wollen.
Ein Wort zur Hamas
Die «Islamische Widerstandsorganisation», wie sie sich selber nennt, ist keineswegs als «Terrororganisation» gegründet worden. Sie entstand aus der palästinensischen Muslimbruderschaft. Ein Grund: Nachdem die laizistische PLO Jassir Arafats vergeblich nach einer Zweistaatenlösung gesucht hatte, entschied sich die Hamas für den Weg (den Arafat gar nicht mehr verfolgte), nämlich ganz Palästina zu «befreien». Dass dieses Ziel in die grausamen, unmenschlichen, absolut inakzeptablen Massaker vom 7. Oktober 2023 ausartete, hat Israel verständlicherweise in einen Schockzustand versetzt und entsprechende Reaktionen hervorgerufen. Sogar der Friedensaktivist Josse Beilin, der die Verträge von Oslo 1993 mit verhandelt hat, spricht sich laut der Süddeutschen Zeitung jetzt für eine Bodenoffensive aus.
Jedoch: UN-Generalsekretär António Guterres hat recht, wenn er sagt, der Überfall der Hamas sei nicht «out of the blue» gekommen. Klickt man zum Beispiel die UN-Seite «Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA)» an, so findet man folgende Statistik: Im Jahr 2022 wurden von den Israelis im Westjordanland 203 palästinensische Häuser zerstört, 1302 Palästinenser wurden obdachlos. Und weiter: In den Jahren 2008 bis 2023 starben bei israelischen Raids im Westjordanland 6407 Palästinenser, 152’550 wurden verletzt. Im selben Zeitraum wurden 308 Israelis von Palästinensern getötet, 6307 Israelis wurden verletzt. Interpretation: Viele Palästinenser wehrten sich zum Beispiel gegen Übergriffe israelischer Siedler, die wiederum von der Armee beschützt wurden. Laut Beobachtern der Vereinten Nationen wurden seit Anfang 2020 mehr als 4000 Olivenbäume und andere Bäume von israelischen Siedlern und Soldaten gefällt. Oliven sind eine der Lebensgrundlagen der Palästinenser.
Natürlich gab es auch Bombenanschläge von Palästinensern gegen Israelis. Aber die grosse Diskrepanz zwischen palästinensischen und israelischen Opferzahlen zeigt, wer hier die Hauptleidenden sind. In den westlichen Medien ist von diesen Zahlen selten die Rede. Sie zeigen aber: Besatzung ist Gewalt, Gewalt erzeugt Gegengewalt.
Verpöntes «Aber»
Zurück zur «radikalislamischen Terrororganisation Hamas»: Kein Zweifel, die Hamas hat zu ganz und gar inakzeptablen Terrormitteln gegriffen. Aber – dieses «Aber» ist in deutschen Talkshows verpönt – hätte Israel also in den vergangenen Jahrzehnten ernsthaft eine Zweistaatenlösung verfolgt und auf diesem Weg auch den Palästinensern ihr Recht gegeben, dann würde nach Einschätzung mancher Kenner eine Hamas in dieser schrecklichen Form wohl nicht existieren.
Das Abschlachten friedlicher Besucher eines Musikfestivals ist nichts als Terror. Insofern ist die Hamas von einer «Befreiungsorganisation», wie sie sich selber einst genannt hat, zu einer Terrororganisation degeneriert, die zu Mitteln des «Islamischen Staates (IS)» gegriffen hat.
Dennoch verschleiert die ständige Wiederholung des Mantras «Terrororganisation» bewusst die historischen Zusammenhänge. Von dieser geschichtlichen Tiefe ist im deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehen leider kaum die Rede. In einer der ARD-Talkshows, «Maischberger», war es ausdrücklich unerwünscht, mit dem Wort «Aber» eine Diskussion zu den historischen Hintergründen zu eröffnen.
Was kommt danach?
Die grosse Frage lautet: Was kommt danach? Bis jetzt sind die Palästinenser abermals auf der Verliererseite. Kaum jemand spricht darüber, welches politische Ziel Israel anstrebt – ausser der Vernichtung der Hamas. In der ARD-Sendung «Hart aber Fair» vom 30. Oktober 2023 erklärte der ehemalige israelische Botschafter in Deutschland, Shimon Stein, Israel müsse sich vollkommen von den Palästinensern «trennen». Wie das geschehen soll, blieb offen.
Offenbar wird insgeheim über einen Gefangenenaustausch gesprochen. Nach palästinensischen Angaben befinden sich 9500 Palästinenser in israelischer Haft. 278 sitzen länger als 15 Jahre in Gefangenschaft, 14 über 25 Jahre und zwei über 30 Jahre. Anmerkung: In Deutschland kommt jeder rechtmässig verurteilte Mörder im Allgemeinen nach 15 Jahren Haft frei.
Zu denen, die mehr als 15 Jahre im Gefängnis sitzen, zählt Marwan Barghouti. Dieser prominente Vertreter der PLO-Untergruppe Fatah war einer der Organisatoren der zweiten Intifada. Barghouti wurde am 6. Juni 2004 zu einer fünffachen lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt, weil er, nach israelischen Angaben, bei Bombenanschlägen mehrere Israelis getötet habe. Barghouti galt als möglicher Nachfolger Arafats. Im Gefängnis hat er sich für die Versöhnung mit der Hamas ausgesprochen. Im Allgemeinen gilt er als ein Mann, der – als Befürworter der Zweistaatenlösung – mit Israel verhandeln könnte. Auch bei der Hamas wäre er möglicherweise als Gesprächspartner akzeptiert – sofern diese dann noch in irgendeiner, eher zivilisierteren Form existieren würde.
Das Scheitern Netanjahus
Klar ist eines: Die Politik von Benjamin Natanjahu ist gescheitert. Mehrfach hat der israelische Historiker Moshe Zimmermann in deutschen Fernseh- und Hörfunkbeiträgen erklärt, Netanjahu habe heimlich mit der Hamas kooperiert. Der Grund: In einem Punkt seien die Interessen Netanjahus und der Hamas identisch gewesen, weil sich beide Seiten gegen eine Zweistaatenlösung ausgesprochen hätten. Mehrfach hat Moshe Zimmermann die gegenwärtige Regierung seines Landes als rechtsradikal bezeichnet. Als solche habe sie die Interessen des Landes verraten und den Schutz der Bürger des Landes vernachlässigt. Die Konsequenz, laut Professor Zimmerman: Unter Netanjahus Führung habe der Zionismus versagt, weil dieser Zionismus den von ihm versprochenen Schutz aller Bürger Israels nicht habe garantieren können.
In vielen Kommentaren ist zu hören, dass Benjamin Netanjahu diese Krise politisch nicht überleben werde. Daher wird sich eine neue israelische Führung mit den Palästinensern zusammensetzen müssen. Weitere Kriege darf es nicht geben.
In diesem Sinne haben sich schon vor Jahren einige frühere Chefs des Inlandsgeheimdienstes Shin Bet geäussert. In dem Film «Töte zuerst» des israelischen Dokumentarfilmers Dvor Moreh von 2012 gaben sie zu, dass nach all den Jahren der Kriegführung gegen die Palästinenser Gewalt zu keiner friedlichen Lösung geführt habe. Mehr noch: Der Mord an Jitzhak Rabin am 4. November 1995 durch den radikalen Siedlerfreund Yigal Amir habe allmählich zu immer grösserer Unnachgiebigkeit gegenüber den Palästinensern geführt.
Die Skepsis der Experten von Shin-Bet
Ami Ayalon, Schin-Bet-Chef von 1996 bis 2000, gibt zu Protokoll: «Im Nachhinein hat das meine ganze Welt verändert. Plötzlich sah ich Israel mit anderen Augen. Mir war das ganze Ausmass von Hetze und Hass gar nicht bewusst gewesen.»
Avi Dichter, Schin-Bet-Direktor von 2000 bis 2005, räumt ein, dass die israelische Politik, palästinensischen gewaltsamen Widerstand mit der Ermordung der Anführer zu beantworten, nichts als weitere Aufstände provoziere. Er sagt: «Es lief klar auf eine neue Intifada hinaus, auf den Aufstand eines Volkes, das glaubt, es habe nichts mehr zu verlieren.» Und er fügt hinzu: «Wir wollen Sicherheit und bekommen Terror, sie wollen einen Staat und sehen immer mehr Siedlungen.»
Yuval Diskin, Schin-Bet-Direktor von 2005 bis 2011, sieht die Aussichtslosigkeit der israelischen Kriegführung: «So bekommen wir keinen Frieden. Frieden müssen wir uns aufbauen, auf einer Vertrauensbasis, mit oder ohne militärische Schritte.»
Carmi Gillon, Schin-Bet-Direktor von 1994 bis 1996, fordert ernsthafte Verhandlungen mit den Palästinensern: «Israel kann sich den Luxus nicht leisten, nicht mit dem Feind zu reden.»
Avraham Shalom, Schin-Bet-Direktor von 1981 bis 1986, stimmt zu: «Ich würde mit allen reden, ausnahmslos, auch mit der Hamas und auch mit dem Islamischen Jihad. Das schliesst auch Ahmadineschad ein.» – Mahmud Ahmadineschad war zum Zeitpunkt dieser Aussage iranischer Präsident.
Auch mit den Feinden sprechen
Diese bedeutenden israelischen Stimmen wurden von den Politikern des Landes nie gehört. Man hätte aber aus der eigenen Geschichte lernen können. Scheich Ahmed Yassin, Mitbegründer der Hamas, wurde am 22. März 2004 von den Israelis getötet, Abdel-Asis Rantisi, ein militärischer Kommandant der Hamas, wurde kurz darauf, am 17. April 2004, von einem israelischen Kommando getötet. Der Widerstand der Hamas wurde durch die Liquidierung dieser Hamas-Führer nicht gebrochen.
Mit der Hamas reden? Mit den heutigen in Gaza wütenden Schlächtern ist das nicht möglich. Mit der in Katar residierenden politischen Führung der Hamas schon eher. Wird die militärische Struktur der Hamas zerschlagen, bleibt allerdings immer noch die Ideologie in den Köpfen.
Am Ende des Tages wird nur bleiben, was der «New York Times»-Journalist jüdischer Abstammung, Roger Cohen, während des US-Krieges gegen Saddam Hussein gefordert hat. Man müsse, schrieb Cohen, auch mit seinen Feinden sprechen.